96 Vergewaltigungen pro Tag: Indien verschärft die Gesetze

Drei junge Ärztinnen rufen etwas aus, sie tragen mit roter Farbe, das Blut darstellen soll, beschmierte Kittel. Sie führen einen Demonstrationszug an.
picture alliance / Sipa USA/Hindustan Times
Nachdem eine junge Ärztin in Kolkata brutal vergewaltigt und ermordet wurde, protestieren 90 Tage später, Anfang November, junge Assistenzärztinnen und soziale Aktivisten gegen die angeblich langsamen Ermittlungen der Polizei.
Gewalt gegen Frauen
Die Überarbeitung des indischen Strafgesetzbuches ist ein Signal im Kampf gegen die grassierende Gewalt gegen Frauen. Doch bis sich Frauen sicher fühlen können, muss noch viel mehr passieren - bei Justiz und Polizei, aber auch in der Gesellschaft.

Die Empörung schlug hoch in der indischen Öffentlichkeit: Eine junge Ärztin war Anfang August in Kolkata im Krankenhaus vergewaltigt und ermordet worden. Doch das Verbrechen war kein Ausnahmefall: 2023 gab es laut den indischen Behörden 405.861 Straftaten gegen Frauen, ein Großteil im häuslichen Umfeld. 35.000 davon waren Vergewaltigungen - 96 pro Tag. Und das sind nur die angezeigten Taten.

Nicht zuletzt wegen dieser Zahlen wurde das indische Strafgesetz überarbeitet. Der dreiteilige Gesetzeskanon sieht seit Juli strengere Maßnahmen vor, damit angezeigte Vergewaltigungsfälle schneller und effektiver bearbeitet werden. Polizei und Gerichte stehen fortan unter Druck, weil sie innerhalb klar definierter Fristen handeln müssen. So müssen medizinische Beweise innerhalb von sieben Tagen vorliegen. Gerichtsverfahren sollen innerhalb von 45 Tagen abgeschlossen sein.

„Um die Prozesse zu beschleunigen, brauchen wir nicht nur eine neue technische Ausstattung, sondern zusätzliche gerichtsmedizinische Experten, Polizeibeamte und Richter“, sagt Seema Singh von der juristischen Fakultät der Universität Delhi. „Diese neuen Gesetze umzusetzen, ist eine Herausforderung für die Regierung.“ Das könne zwei Jahre dauern, vielleicht auch länger.

Die Höchststrafen für Vergewaltigung reichen nun von lebenslanger Haft bis hin zur Todesstrafe in besonders schweren Fällen. Zudem gibt es 21 neue Straftatbestände, wie Zwang zu sexuellen Gefälligkeiten für berufliche Vorteile. Ebenso wurden schärfere Strafen für Kinderehen eingeführt. Auch die Einführung digitaler Beweise stellt einen bedeutenden Fortschritt dar. Videos von Überwachungskameras, E-Mails oder Whatsapp-Nachrichten gelten jetzt als starke, primäre Beweise. In dem Mordfall der jungen Ärztin in Kolkata etwa half das Beweismaterial einer Überwachungskamera dabei, den Täter zu überführen.

Große Defizite bei der Polizei

Die Frauenrechtsaktivistin Ranjana Kumari findet die neuen Gesetze nicht grundsätzlich falsch, kennt aber die gegenwärtigen Bedingungen: „Derzeit sind in ganz Indien mehr als 133.000 Vergewaltigungsfälle anhängig. Was bringt es, wenn Urteile bei Vergewaltigungen erst nach zehn oder zwölf Jahren gesprochen werden?“

Auch bei der Polizei sieht Kumari große Defizite: „Die Einstellung der Polizei ist es, immer mit dem Finger auf das Opfer zu zeigen. Eine Frau kommt zur Polizei, also muss sie einen Fehler begangen haben.“ Das Patriarchat führe zu dieser frauenfeindlichen Einstellung. Die allermeisten Verbrechen an Frauen werden Aktivistinnen zufolge nicht angezeigt, aus Angst vor dem Täter, der Reaktion des Umfelds oder vor Polizei und Justiz.

Kiran Bedi war einst die erste Frau im indischen Polizeidienst. Die 75-Jährige hält die neue Gesetzgebung für richtig, weil sie die Opfer in den Mittelpunkt stelle und nicht - wie zuvor - die Beschuldigten. So hält sie die neuen Möglichkeiten, Täter anzuzeigen und Zeugenaussagen zu machen, für wertvoll: „Das Gericht kann nun die Videoaufnahmen ansehen. Zeugen auf Video!“, freut sie sich. Auch Gutachter könnten ihre Einschätzungen auf Video festhalten und an das Gericht senden, was viele Verzögerungen bei den Verfahren vermeiden werde.

Vergewaltigung in der Ehe ist kein Straftatbestand

Dass Verbrechen an Frauen in Indien zunehmen, hänge damit zusammen, dass sie unabhängiger werden und sich vermehrt im öffentlichen Raum aufhalten. „Frauen bilden sich, entwickeln ihre Fähigkeiten, gründen Unternehmen, bekommen Kredite, eröffnen Bankkonten“, erläutert Bedi. „Das hatten sie früher nicht.“ Es brauche ein gesellschaftliches Umdenken: „Eltern müssten ihre Jungen endlich zu mehr Respekt gegenüber Frauen erziehen.“

Dass Indien eine patriarchale Gesellschaft ist und Gewalt gegen Frauen nicht grundsätzlich als Verbrechen verstanden wird, zeigt sich vor allem auch an einer Bestimmung, die nicht in das neue Strafgesetzbuch aufgenommen wurde: die Vergewaltigung in der Ehe. Die indische Regierung argumentiert, ein solches Gesetz zerstöre die traditionellen Familienstrukturen. So wird es vermutlich noch lange dauern, bis indische Frauen sich wirklich sicher fühlen können.

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