Die „fehlenden Frauen“ nicht vergessen!

Zum Thema
Geschlechtergerechtigkeit
In etlichen Ländern, vor allem in Asien, gelten Söhne mehr als Töchter - mit gravierenden Folgen. Ein Skandal, der zu wenig beachtet wird, kritisiert Georg Schäfer.

Georg Schäfer ist Experte für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Beschäftigungsförderung und Armutsbekämpfung. Er war lange in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit tätig. geo.schaefer@t-online.de

Der Weltbevölkerungsbericht 2020 des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) mit dem Titel „Gegen meinen Willen – Praktiken beenden, die Frauen und Mädchen schaden und Gleichstellung verhindern“ hat drei Hauptthemen: weibliche Genitalverstümmelung, Frühverheiratung und Bevorzugung von Söhnen. Die beiden ersten Themen sind in der internationalen Öffentlichkeit und bei Menschenrechtsorganisationen durchaus präsent, das dritte Thema ist es bedauerlicherweise nicht. Dabei führt die Bevorzugung von Söhnen dazu, dass viele Mädchen zu Opfern von Geschlechterselektion vor und nach der Geburt werden, das heißt, sie werden abgetrieben oder nach der Geburt vernachlässigt.

Die Präferenz für Söhne führt zum Problem der „fehlenden Frauen“ („missing women“): In Gesellschaften, in denen Mädchen und Jungen gleichbehandelt werden, gibt es aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung einen leichten Frauenüberschuss in der Gesamtbevölkerung. Abweichend davon weisen viele Länder in Asien ein erhebliches Frauendefizit auf, insbesondere China und Indien.

Die Zahl der Frauen, die aufgrund dieser verzerrten Demografie weltweit fehlen, wird von UNFPA weltweit auf 140 Millionen geschätzt, davon 72 Millionen in China und 46 Millionen in Indien. Weibliche Föten werden gezielt abgetrieben, Mädchen werden nach der Geburt bei Ernährung und Gesundheitsversorgung benachteiligt – mit der Folge einer höheren Sterblichkeit. Seit das Geschlecht mit Ultraschall vor der Geburt bestimmt werden kann, hat die gezielte Abtreibung von weiblichen Föten deutlich zugenommen. 

Geschlechtsselektive Abtreibung als gängige Praxis

Für China und Indien wird geschätzt, dass mehr als die Hälfte der „missing women“ schon bei der Geburt fehlen, also abgetrieben wurden. Obwohl China und Indien den Einsatz von Ultraschall für geschlechtsselektive Abtreibungen mittlerweile verboten haben, ist dies dort weiterhin gängige Praxis. Die gezielte Abtreibung weiblicher Föten hat mit einer selbstbestimmten Entscheidung schwangerer Frauen im Rahmen ihrer sexuellen und reproduktiven Rechte nichts zu tun. Es handelt sich um Abtreibungen, die von der Familie und dem sozialen Umfeld erzwungen werden.

Die Bevorzugung von Söhnen hat tiefreichende soziale und kulturelle Ursachen. In China hat die lange Zeit geltende Ein-Kind-Politik eine wichtige Rolle gespielt. Während ein Sohn in der Regel bei seinen Eltern bleibt und die Verantwortung für deren Versorgung im Alter trägt, wechselt eine Tochter meistens zur Familie des Ehemanns. Wenn also nur ein Kind erlaubt ist, sollte es möglichst ein Junge sein. Das Ende der Ein-Kind-Politik im Jahr 2015 verschiebt das Problem auf das zweite Kind, falls das erste ein Mädchen ist. In Indien kommt hinzu, dass die Familie der Braut traditionell eine hohe Mitgift an die Familie des Bräutigams zahlen muss, obwohl dies gesetzlich seit langer Zeit untersagt ist. Daher kann die Geburt einer Tochter die Familie finanziell schwer belasten.

Der menschenrechtliche Skandal der „missing women“ endet jedoch nicht damit, dass Millionen von Mädchen und Frauen das Recht auf Leben vorenthalten wird. Er belastet auch die lebenden Mädchen und Frauen. Die Präferenz für Söhne ist verbunden mit dem Wunsch, für den Sohn eine Ehefrau zu finden, damit dieser eine Familie gründen und die Verpflichtung wahrnehmen kann, die Eltern zu versorgen. Nun haben die Gesellschaften mit hoher Sohnpräferenz einen erheblichen Männerüberschuss, weshalb nicht alle jungen Männer, die das wünschen, eine Frau finden. Das hat zu einem ausgeprägten Heiratstourismus in die Nachbarländer geführt. Dabei handelt es sich nicht um eine selbstbestimmte Partnerwahl, sondern um Frauenhandel. So werden junge Frauen aus Kambodscha, Laos, Myanmar und Vietnam von jungen chinesischen Männern und deren Familien regelrecht gekauft. Das verschärft das Frauendefizit, das es auch in diesen Ländern gibt. Darüber hinaus gibt es immer wieder Fälle, dass kleine Mädchen entführt und an Familien mit einem Sohn verkauft werden. Dort wachsen sie auf und werden schließlich mit dem Sohn verheiratet. 

Unfreiwillig alleinstehend und frustriert

Doch viele junge Männer werden trotz derartiger Praktiken keine Frau finden, solange das Problem der „missing women“ nicht an der Wurzel gepackt wird und Mädchen genauso willkommen sind wie Jungen. Es gibt in diesen Gesellschaften eine große Zahl von jungen Männern, die unfreiwillig alleinstehend und daher frustriert sind – eine Ursache für schockierende Fälle von Gewalt gegen Frauen bis hin zu Massenvergewaltigungen in Indien.

Den Missbrauch von Ultraschalluntersuchungen für geschlechtsselektive Abtreibungen zu verbieten, reicht allein nicht aus, da die Verbote leicht umgangen werden können. Es werden dann Codewörter benutzt, um der Schwangeren und ihrer Familie das Geschlecht des Fötus doch mitzuteilen. Sie ändern auch nichts an der Benachteiligung von Mädchen nach der Geburt. Trotzdem sind Kampagnen von indischen Organisationen wie „Let Girls Be Born“ und „Eliminating Gender Biased Sex Selection“ gegen den illegalen Einsatz von Ultraschall wichtig, um dem staatlichen Verbot mehr Nachdruck zu verleihen. 

Erforderlich ist jedoch vor allem ein grundlegender soziokultureller Wandel, damit Töchter genauso willkommen sind wie Söhne. Eine Dokumentation des TV-Senders Arte zeigt das Engagement einer indischen Hebamme, die Frauen ermutigt, auch Mädchen auf die Welt zu bringen. Sie kämpft dabei gegen den Widerstand der Ehemänner und Schwiegermütter, gegen kulturelle Traditionen und gesellschaftliche Konventionen.

Kein Thema für die feministische Entwicklungspolitik?

Ein derartiger soziokultureller Wandel erfordert breites zivilgesellschaftliches und staatliches Engagement. Dies ist in den betroffenen Ländern bisher nur in Ansätzen zu erkennen, obwohl immer deutlicher wird, dass die „missing women“ nicht nur einer der größten Menschenrechtsskandale weltweit sind, sondern auch eine schwere Belastung für die Entwicklung dieser Länder. Die „missing women“ sind in der Entwicklungsforschung ausführlich behandelt worden, doch das hat in der Entwicklungszusammenarbeit bisher keinen Niederschlag gefunden. So werden in der feministischen Entwicklungspolitik des Bundesentwicklungsministeriums die „missing women“ mit keinem Wort erwähnt. 

Dabei gäbe es in der Entwicklungszusammenarbeit viele Möglichkeiten, zivilgesellschaftliche Initiativen zur Problematisierung und Überwindung der Sohnpräferenz zu stärken und im politischen Dialog mit den Regierungen der betroffenen Länder dafür zu werben, dass Mädchen genauso willkommen sind wie Jungen. Auch die großen internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch haben dieses Thema bisher nicht aktiv aufgegriffen. Menschenrechtliche Lobby- und Kampagnenarbeit könnte in diesem Bereich viel bewegen und wäre daher sehr wichtig.

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