Dalal spricht schnell, sie ist aufgeregt, holt kaum Luft. „Es gibt nichts hier, kein Leben, kein Gas, keinen Strom“, sagt sie. „Wir sind zurückgekommen nach Syrien, in unser Land, aber wir können hier nicht leben.“
Dalal, die ihren Nachnamen für sich behalten will, lebte bis vor Kurzem in Beirut, der Hauptstadt des Libanon. Über 25 Jahre wohnte sie zusammen mit ihrem Mann im Osten der Stadt, in der Nähe des Hafens. Auch am 4. August 2020, als eine gewaltige Explosion vom Hafen aus über Beirut fegte. Mehrere Hundert Tonnen Ammoniumnitrat gingen damals in einem Hangar in die Luft. Der Knall war bis nach Zypern zu hören – und Dalal, ihr Mann und ihr Sohn waren zu Hause, nur wenige Hundert Meter vom Hafen entfernt. Sie wurden von der Druckwelle durch den Raum geworfen. Seither ist Dalal traumatisiert, laute Geräusche erträgt sie kaum.
Jetzt, vier Jahre später, herrscht im Libanon Krieg; der schon lange schwelende Konflikt zwischen der schiitischen Hisbollah-Miliz und Israel ist eskaliert. Als die Hisbollah am 8. Oktober 2023 begann, zur Unterstützung der Hamas im Gazastreifen Raketen Richtung Israel zu schießen, fürchteten einige Fachleute, der Konflikt könnte sich zu einem regionalen Krieg ausweiten. Andere beschwichtigten: Der Preis eines offenen Kriegs sei zu hoch, sowohl für Israel als auch für die Hisbollah.
Die Situation in Aleppo war für Dalal ein Schock
Doch dann, am 23. September, begann die israelische Armee, den Süden des Libanon großflächig zu bombardieren. Über fünfhundert Menschen starben allein am ersten Tag, bis Anfang November zählte das libanesische Gesundheitsministerium rund 3000 Tote. Seither greift die israelische Armee aus der Luft täglich Dutzende, manchmal Hunderte Ziele im Libanon an. Ende September sind auch Bodentruppen im Süden des Landes einmarschiert.
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Am 24. September bombardierte Israel auch den Süden Beiruts. Dalal und ihre Familie leben auf der anderen Seite der Stadt, ganz im Norden. Zwischen ihnen ist ein Hügel. Dennoch waren manche Angriffe so heftig, dass selbst die Häuser im Norden der Stadt bebten, und die Menschen dort dachten, sie würden bombardiert.
Dalal hielt es nicht aus. Ein paar Tage nach Kriegsausbruch entschied sie sich, mit ihrem Sohn nach Aleppo zurückzugehen. Doch als sie dort ankam, war sie schockiert: darüber, wie sehr sich das Leben in Syrien verändert hatte, wie schwierig es geworden war. Ihr eigenes Haus hatte die syrische Armee während des Kriegs gegen die Aufständischen zerstört. Sie kam bei ihrer Schwester unter – eine der wenigen in der Familie, die noch in Aleppo leben. Die meisten Familienmitglieder hätten Syrien verlassen, seien in die Türkei oder nach Deutschland gegangen. „Hier es gibt nicht einmal Strom für den Kühlschrank“, sagt sie. Und sie, die offiziell nicht in Syrien ansässig ist, hat kein Anrecht auf die Rationierungskarten, mit denen die Menschen kleine Mengen an Gas oder Lebensmitteln beziehen können.
Ein Viertel der Menschen im Libanon sind Geflüchtete aus Syrien
Der Krieg in Syrien begann im März 2011 als Volksaufstand gegen das Regime des Diktators Bashar al-Assad. Die heiße Phase ist seit Jahren vorbei, doch eine politische Lösung für den Konflikt ist nicht in Sicht: Assad ist noch immer an der Macht, Teile des Landes werden von verschiedenen oppositionellen Gruppierungen kontrolliert. Die Folgen für die Bevölkerung sind immens: Die Wirtschaft des Landes ist am Boden. Rund neunzig Prozent der Menschen in Syrien leben in Armut.
Über 5 Millionen der damals knapp 23 Millionen Syrerinnen und Syrer haben im Laufe des Krieges ihr Heimatland verlassen. Sie flohen in die Türkei, nach Europa – und viele in den Libanon. Das Land beherbergte in den letzten Jahren schätzungsweise 1,5 Millionen Syrer und hat damit die höchste Anzahl Geflüchtete pro Einwohner – schätzungsweise ein Viertel der Menschen im Libanon sind Geflüchtete.
Seit der Krieg Ende September im Libanon ausgebrochen ist, sind fast eine halbe Million Menschen nach Syrien geflohen. Das ist eine gewaltige Zahl. Über zwei Drittel von ihnen stammen ursprünglich aus Syrien, die anderen sind fast alle Libanesinnen und Libanesen. In den Jahren davor lag die Zahl jener, die sich für eine Rückkehr nach Syrien entschieden, nur in den Tausenden, obwohl die libanesische Regierung großen Druck ausübte, um Menschen aus Syrien zur Rückkehr zu bewegen. Weil kaum jemand freiwillig ging, wurden im letzten Jahr Tausende verhaftet und über die Grenze nach Syrien abgeschoben.
Ein Busfahrer, den ich Ende September am zentralen Verkehrsknotenpunkt Kola in Beirut treffe und der zwischen Beirut und der syrischen Grenze hin - und herfährt, erzählt, wie er in diesen Tagen mehrmals täglich seinen Bus voller Syrer Richtung Grenze steuert. „Der Weg ist gefährlich“, sagt er. Immer wieder würde die israelische Armee Ziele in der Nähe der Straße bombardieren.
Wie gefährlich die Reise ist, hat auch Ashraf al-Ali mit seiner Frau und seinen vier Kindern erlebt. Er ist Palästinenser, seine Frau Libanesin. Sie leben in einem Wohnblock am Rande der Dahieh, den südlichen Vororten Beiruts, die regelmäßig zum Ziel israelischer Bombardements werden. An einem Morgen in den ersten Kriegstagen, so erzählt er am Telefon nach einer schlaflosen Nacht dauernder Angriffe, seien er und sein Sohn auf das Dach des Hauses gestiegen und hätten den Rauch gesehen, der noch über den Häusern hing. „Wir haben gesehen, wie sie die Wohnhäuser in Gaza bombardieren, und ich habe mir vorgestellt, wie es wird, wenn sie das hier auch machen“, sagt er.
„Es war wie ein Erdbeben“
Sie hätten zunächst versucht, Zuflucht innerhalb des Libanon zu finden, erzählt al-Ali. Aber nichts hätte geklappt. 1,2 Millionen Menschen sind innerhalb des Libanon vor dem israelischen Bombardement auf der Flucht. Die Mieten an den Orten, die als sicher gelten, sind in die Höhe geschossen; die öffentlichen Schulen, die zu Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert wurden, überfüllt. Also entschieden sie, nach Syrien zu fliehen und dort abzuwarten. Mit einem Bus fuhren sie Richtung Grenze. „Als wir dort ankamen, waren Hunderte Leute dort. Busse, Autos, alles stand still“, erzählt al-Ali. Er stand fast eine Stunde in der Schlange am Schalter. Dann, kurz bevor er an die Reihe kam, ertönte ein riesiger Knall. „Es war wie ein Erdbeben“, sagt er. Ein Bombenangriff, ganz in der Nähe des Grenzübergangs.
In Damaskus fragten sie sich dann durch, bis sie in einem kleinen Hotel im Zentrum der Stadt unterkamen, das seine Zimmer für Geflüchtete aus dem Libanon freigeräumt hatte. Sie würden mit dem Nötigsten versorgt, sagt al-Ali, Mahlzeiten, manchmal würden Hilfsorganisationen kleine Geldspenden vorbeibringen. Im Hotel seien nur Libanesen untergebracht. Er selbst, als Palästinenser, habe vermutlich Glück, dass seine Frau Libanesin sei. „Sonst wäre es vielleicht schwierig geworden, ein Zimmer zu finden.“
Al-Alis Erfahrung ist ein Hinweis darauf, wie sehr in dieser humanitären Katastrophe die Nationalität der fliehenden Menschen entscheidet, ob man Hilfe bekommt oder nicht. Im Libanon etwa nehmen die zu Flüchtlingsunterkünften umfunktionierten Schulen keine Syrer auf, auch migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter aus Äthiopien, Bangladesch oder Sri Lanka werden abgewiesen. Die syrischen Behörden erließen zwar kurz nach Kriegsausbruch einen Erlass, dass Libanesen auch ohne Pass ins Land einreisen könnten. Für Syrer hob das Regime immerhin die Gebühr von 100 Dollar auf, die sie davor noch zahlen mussten, wenn sie in ihr eigenes Land reisen wollten.
Der Libanon ist für viele Syrer wie eine abgeschlossene Insel
Für viele jener, die in den letzten Wochen nach Syrien geflohen sind, ist die Wahl zwischen Flucht und Bleiben eine zwischen zwei Höllen: dem Krieg im Libanon und der Flucht nach Syrien, das den meisten von ihnen keine Existenzgrundlage bieten kann. Oder, noch schlimmer: Wo manche um ihr Leben fürchten müssen. Denn „Syrerinnen und Syrer, die vor der Gewalt im Libanon nach Syrien fliehen, riskieren Verhaftung, Folter oder den Tod“, schreibt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in einem Bericht Ende Oktober. Sie dokumentiert darin mehrere Fälle von Rückkehrern, die an der Grenze oder im Land selbst vom syrischen Geheimdienst verhaftet wurden.
Noch immer warnen führende Menschenrechtsorganisationen und die UN, dass Syrien für Rückkehrende nicht sicher ist. Hunderttausende junge Männer riskieren, in den Armeedienst eingezogen zu werden. Oppositionellen droht die Verfolgung – dafür kann ein kritischer Facebook-Post reichen, den die Beamten am Checkpoint auf dem Telefon der Betroffenen finden. Für viele Syrer im Libanon ist eine Rückkehr in ihre frühere Heimat deswegen ausgeschlossen. Für sie ist der Libanon faktisch eine abgeschlossene Insel; auf der einen Seite abgeschottet durch das Mittelmeer, auf der anderen durch die syrische Grenze.
Die Wohnung in Beirut kostete plötzlich viermal so viel Miete
Für andere ist eine Rückkehr nach Syrien schlicht zu teuer. Wie für Fatima, eine fünfzigjährige Syrerin, die Anfang Oktober auf einem kleinen Teppich auf dem Märtyrerplatz im Zentrum Beiruts sitzt. Auch sie will ihren Nachnamen nicht nennen. Sie erzählt, wie sie in der Nacht des Angriffs, der den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah tötete, mit ihren Verwandten aus ihrem Haus in Bir Hassan am Südrand der Stadt geflohen ist und zu Fuß drei Stunden bis ins Stadtzentrum lief. Wegen des Kriegs hat ihr Mann seine Arbeit verloren – sie leben von den Essenslieferungen, die Hilfsorganisationen täglich hier vorbeibringen. Als Syrerin ist ihr der Zugang zu den Flüchtlingsunterkünften verwehrt, deswegen schläft sie jede Nacht im Freien auf dem Platz. Sie haben kaum genug Geld, um mit dem Bus nach Hause zu fahren, um wärmere Kleider zu holen oder zu duschen. „Wir sind aus Syrien vor dem Krieg geflohen, nun hat er uns auch hier erreicht. Wo sollen wir hin?“
Dalal lebte über einen Monat bei ihren Verwandten in Aleppo. Ihr Mann, der in Beirut geblieben ist, wurde aus seiner Wohnung verdrängt – der Vermieter hatte die Miete von einem Tag auf den anderen von 250 US-Dollar auf 1000 US-Dollar erhöht. „Manche nutzen die jetzige Situation aus“, sagt Dalal. Sie selbst versuchte, ihren 14-jährigen Sohn Mohammad in Aleppo einzuschulen. „Doch mein Mann hatte nicht genug Geld, um die Anerkennung der Papiere beim Bildungsministerium zu bezahlen“, sagt sie. Sie habe versucht, eine eigene Wohnung zu finden – doch sie konnte sich die Mieten nicht leisten.
Der Abend, an dem ich mit Dalal telefoniere, ist ihr letzter in Aleppo. Sie hat entschieden, in den Libanon zurückzukehren. Zwar erfüllt sie die Vorstellung über die Bombardierungen mit Horror. „Aber was soll ich tun?“, sagt sie. Ihre Stimme bricht, sie fängt an zu weinen. „Hier halte ich es nicht mehr aus.“
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