Zweckoptimismus führt in die Irre

Klimaschutz
Svenja Schulze will vor dem UN-Klimagipfel am 1,5-Grad-Ziel festhalten – auch wenn es vorübergehend überschritten werde. Dabei ist das inzwischen eine Illusion, die vernünftige Klimapolitik mehr behindert als fördert.

Bernd Ludermann ist Chefredakteur von „welt-sichten“.

Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze fordert vor dem UN-Klimagipfel in Aserbaidschan mehr Anstrengungen, um die Erderwärmung noch unter 1,5 Grad zu halten – wobei, wie sie einräumt, dieses Ziel „möglicherweise kurzfristig überschritten wird. Auch deutsche NGOs, zum Beispiel Germanwatch, verbreiten diese Art Zweckoptimismus, teilweise aus Sorge, sonst Resignation zu fördern.

Das ist Gesundbeterei. Schulze bezieht sich auf Szenarien unter anderem des Weltklimarates IPCC, in denen die Treibhausgasemissionen zu langsam auf Netto-Null sinken, um die Erwärmung unter 1,5 Grad zu halten. Nach dem „Überschießen“ müsste die Temperatur dann wieder gesenkt werden, indem man der Atmosphäre künstlich große Mengen CO2 entzieht. Nur so ist das 1,5-Grad-Ziel theoretisch noch erreichbar.

Doch das Rezept ist schon naturwissenschaftlich zweifelhaft. Laut einer Studie des MCC müssten unter solchen Klimaszenarien ab Mitte des Jahrhunderts jedes Jahr 7 bis 9 Milliarden Tonnen CO2 der Atmosphäre entzogen werden, ein Achtel bis ein Sechstel der heutigen jährlichen Emissionen. Bisher schaffen „naturbasierte Lösungen“, überwiegend Aufforstung, rund 2 Milliarden Tonnen, aber die Möglichkeiten dafür sind von der verfügbaren Landfläche begrenzt. Ob andere, technische Verfahren jemals in großem Maßstab und zu vertretbaren Kosten einsetzbar sind, ist unbekannt. Zudem ist zweifelhaft, dass CO2 ausreichend lange sicher gespeichert werden kann.

Rückgängig machen geht nicht

Selbst wenn all das klappt, macht es aber weder eine zeitweise stärkere Erwärmung noch deren Folgen einfach rückgängig. Nach einem „Überschießen“ ist auf jeden Fall eine andere Welt zu erwarten als ohne: Das Klima vieler Regionen wird anders sein, die Erwärmung der Meere und der Anstieg des Meeresspiegels auf Dauer höher bleiben, verlorene Ökosysteme kommen nicht zurück. Zudem müssen Gesellschaften die zwischenzeitliche Maximaltemperatur überstehen; die nötige Anpassung ist also wesentlich schwieriger.

All das setzt zudem voraus, dass die Emissionen möglichst früh in der zweiten Jahrhunderthälfte auf netto Null sinken. Das ist politisch noch schwerer vorstellbar als bereits vor vier Jahren. Das Pariser Klimaabkommen und die dort vorgesehenen Klimapläne der Staaten haben zwar den Anstieg der globalen Emissionen verlangsamt und dem Ausbau der erneuerbaren Energien sowie der E-Mobilität, vor allem in China, einen Schub gegeben. Das ist wichtig und wahrscheinlich auch von der neuen US-Regierung nicht mehr aufzuhalten. Aber Erdöl und Erdgas bleiben profitabel und werden ebenfalls weiter ausgebaut. Die globalen Emissionen steigen, Stand 2023, immer noch , vor allem mit dem Wirtschaftswachstum in Schwellenländern. Selbst wenn alle Staaten ihre Klimaziele einhalten, sind 2,5 bis 3 Grad Erhitzung bis 2100 absehbar.

Drastische Umkehr politisch unerreichbar

Um jetzt noch unter 1,5 oder auch nur 2 Grad zu bleiben, müssten die Staaten gemeinsam die Nutzung fossiler Energie sowie die Emissionen aus Landnutzung in nie dagewesenem Tempo senken. Alle Industrieländer und letztlich auch China müssten ihr Wirtschaftsmodell samt der energie- und rohstoffintensiven Lebensweise drastisch ändern und zudem ärmeren Ländern die Mittel geben, Klimaschäden zu bewältigen und auf dem Weg zu Wohlstand die fossile Phase zu überspringen. Das erfordert hohe Transfers von Nord nach Süd. Nichts davon ist realistisch – erst recht nicht nach den jüngsten Wahlen in den USA. 
    
Statt obsoleter Ziele brauchen wir eine ehrliche Sicht auf die Lage. Svenja Schulze hat ja Recht, dass es auf jedes Zehntel Grad Erwärmung ankommt, das noch vermieden werden kann. Es gilt, die Gesellschaft für den größtmöglichen Klimaschutz und zugleich für die Anpassung an nicht mehr abwendbare Klimaänderungen zu mobilisieren. Das ist angesichts von fossilen Lobbys und anderen Beharrungskräften schwierig genug. Es ist kontraproduktiv, dazu auf ein Ziel zu pochen, das offensichtlich nur noch eine Illusion ist. Wer schwierige gesellschaftliche Entscheidungen mittragen soll, will als Erwachsener behandelt werden statt wie ein Kind, dem man unangenehme Tatsachen besser verschweigt. Damit verspielen Politiker und andere Meinungsbildner am Ende auch bei den Gutwilligen Vertrauen.

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