Das nepalesische Hinterland ist mit kurvenreichen Straßen und Hängebrücken durchzogen. Für schwangere Frauen in den Bergregionen ist es schwierig, die weit entfernten Gesundheitszentren für die Entbindung zu erreichen. Deshalb hat man überall in Nepal zusätzlich mehr als 2500 Geburtshäuser eingerichtet. Als meine Übersetzerin und ich eines besuchen, treffen wir eine Krankenschwester, die einer jungen Frau gerade eine Verhütungsspritze gibt. Das Geburtshaus hat alle wichtigen medizinischen Apparate außer solche zur Sauerstoffversorgung.
Nach dem Bürgerkrieg, den die maoistische Kommunistische Partei Nepals von 1996 bis 2006 gegen die Monarchie führte, hat sich Nepal zur Demokratie gewandelt. Die Verfassung von 2015 garantiert Bürgerinnen und Bürgern auch das Recht auf Gesundheitsversorgung. Ein Mutterschutzprogramm sorgt für kostenlose Entbindungen in Gesundheitszentren und Geburtshäusern. Die Mütter erhalten zudem Kleidung für sich und das Kind, Stoffwindeln und ein Moskitonetz. Seit Ende des Bürgerkrieges ist die Kindersterblichkeit in Nepal stark zurückgegangen. Dabei sind die Geburtshäuser nur eine der vielen praktischen und kostengünstigen Strategien, die Nepal einsetzt, um die Leben von Babys zu retten.
Bis in die 1990er Jahre starben in Indien weniger Neugeborene als in seinen südasiatischen Nachbarländern außer in Sri Lanka. Doch das hat sich geändert. Im Jahr 2021 war in Nepal, Bangladesch, Bhutan, Sri Lanka und den Malediven die Säuglings- und Kindersterblichkeit geringer als in Indien. Und mit Ausnahme Pakistans haben in den südasiatischen Ländern Frauen eine höhere Lebenserwartung als in Indien. Auch bei der Gesundheits- und Ernährungsversorgung, den Bildungschancen von Frauen und der Chancengleichheit fällt Indien mittlerweile hinter die meisten seiner Nachbarländer zurück. Dass sich dort in recht kurzer Zeit so viel verbessert hat, zeigt, dass arme Länder auch ohne rasantes Wirtschaftswachstum die Lebensqualität ihrer Bevölkerung verbessern können.
Luxuriöse Wolkenkratzer und dunkle Hütten
Indien hingegen hat in den vergangenen Jahrzehnten vor allem auf schnelles Wirtschaftswachstum gesetzt, dessen Früchte leider sehr ungleich verteilt wurden. Die zunehmende Ungleichheit fördert extreme Kontraste wie zwischen luxuriösen Wolkenkratzern in den Städten und dunklen Hütten und bitterer Armut auf dem Land. 2018 betrug die Lebenserwartung eines neugeborenen Mädchens im südindischen Bundesstaat Kerala 78 Jahre, zwei Jahre mehr als die eines Mannes in den USA. In den nordindischen Bundesstaaten Bihar und Uttar Pradesh war sie ein ganzes Jahrzehnt geringer.
Fünf Jahre lang bin ich für meine Doktorarbeit den Ursachen für die ungleiche Entwicklung bei Gesundheitsversorgung, Bildung und Lebenschancen in Indien im Vergleich zu seinen ärmeren Nachbarländern auf den Grund gegangen. Meine Feldforschung in ganz Indien hat als Hauptursache vielschichtige, einander verschärfende Formen der Ungleichheit ausgemacht. Mein Buch „Unequal: Why India Lags Behind Its Neighbours“ konzentriert sich auf drei der schwerwiegendsten: Klasse, Kaste und Geschlecht.
Autorin
Swati Narayan
ist Wissenschaftlerin, Aktivistin und Autorin des Buches „Unequal: Why India Lags Behind Its Neighbours“ (Westland Books, 2023).In kaum einem anderen Land der Welt ist das Vermögen heute so ungleich verteilt wie in Indien. Seit 2016 die Vermögenssteuer abgeschafft wurde, hat Indien mehr Milliardäre hervorgebracht als Frankreich, die Schweiz und Schweden zusammen. Die ärmere Hälfte der indischen Bevölkerung verfügt inzwischen nur noch über sechs Prozent des nationalen Vermögens.
Seit Generationen verstärkt das hierarchische Kastensystem diese extremen wirtschaftlichen Ungleichheiten. Mindestens 41 Prozent des indischen Reichtums befinden sich heute in den Händen der oberen Kasten, zu denen die Brahmanen und Kshatriyas als traditionelle Priester-, Krieger- und Verwalterkasten gehören. Damit besitzen sie doppelt so viel, wie ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Marginalisierte Kasten, vor allem die ehemaligen Unberührbaren, bekommen die Ungleichheit brutal zu spüren. In Rajasthan wurde der neunjährige Indra Kumar Meghwal im Jahr 2022 von einem Lehrer so heftig geschlagen, dass er an den Folgen starb – nur weil er Wasser aus einem den oberen Kasten vorbehaltenen Gefäß getrunken hatte.
Auch die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist in Indien so groß wie in nur wenigen anderen Ländern. Die ausgesprochen patriarchalischen Strukturen führen schon vor der Geburt zur Geschlechterdiskriminierung; weibliche Föten werden gezielt abgetrieben und Mädchen im Säuglingsalter vernachlässigt. Dadurch ist in Indien in den vergangenen 40 Jahren ein Frauendefizit von 56 Millionen entstanden.
Einige südasiatische Nachbarländer Indiens, Nepal etwa, weisen trotz größerer Armut eine geringere Ungleichheit der Einkommensverteilung auf. Ihnen ist es in teils jahrhundertelangen Prozessen gelungen, von Kaste und Geschlecht bedingte Ungleichheiten schrittweise abzubauen. Drei Faktoren haben das bewirkt: öffentliche Dienste, soziale Bewegungen und selbstbestimmtes Handeln von Frauen.
Indiens soziales Sicherheitsnetz ist bescheiden
Je größer die Gleichheit in einem Land ist, desto wahrscheinlicher wird es, dass es sich zu einem Wohlfahrtsstaat entwickelt und Wohlfahrtsprogramme auflegt, die nicht bloß den Armen, sondern allen helfen. Mit dem 2006 beginnenden Demokratisierungsprozess machte sich Nepal auf den Weg zum Wohlfahrtsstaat. Heute verfügt das Land nicht nur über eine flächendeckende Gesundheitsversorgung, sondern auch über eine allgemeine Altersversorgung. Bangladesch ist Vorreiter darin, unkompliziert soziale Leistungen von Gesundheitsfürsorge bis zu Mikrokrediten bereitzustellen. Sri Lanka bietet seiner Bevölkerung seit langem eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Schul- und Universitätsbildung sind in diesen Ländern ebenfalls frei.
Diese leistungsfähigen Staaten haben ebenfalls Landreformen gemeinsam: In Bangladesch besitzen heute im ländlichen Raum nur noch 8 Prozent der Haushalte kein Land. In Nepal haben 86 Prozent der Familien Grund und Boden, das gilt auch für 60 Prozent der Dalits, also der Menschen aus den untersten Gruppen der Kastengesellschaft. Im Unterschied dazu bleibt Landbesitz in Nordindien einigen wenigen vorbehalten.
Zwar hat auch Indien ein bescheidenes soziales Sicherheitsnetz entwickelt, doch es weist große Unterschiede zwischen Nord und Süd auf. So garantiert ein Beschäftigungsprogramm, der Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act 2005 (NREGA), aus jedem Haushalt einer Person 100 Tage Arbeit pro Jahr zum Mindestlohn, zum Beispiel beim Bau von Teichen, Brunnen, Straßen und Entwässerungssystemen. Doch obwohl Bihar im Norden einer der ärmsten Bundesstaaten ist, konnten sich die am Programm teilnehmenden Haushalte in den Jahren 2022 und 2023 im Durchschnitt nur 47 Tage Arbeit sichern, verglichen mit 62 Tagen im südlichen Kerala. Zudem gehen in Kerala 90 Prozent der NREGA-Arbeitsplätze an Frauen, so viele wie nirgends sonst im Land, da die Behörden des Bundesstaats bei der Vergabe lokale Selbsthilfegruppen unterstützen.
Bangladesch und Nepal: Weniger Kasten-Ungleichheit
Radikale Gegner des Kastensystems, Initiativen von Landwirten und religiöse Bewegungen haben in Südasien über Generationen für mehr Gleichheit gesorgt. In Bangladesch haben Bewegungen, die sich für soziale Gerechtigkeit, religiöse Freiheit und die Gleichstellung von Frauen einsetzten, im Verlauf von Jahrzehnten, ja sogar Jahrhunderten die Hierarchien aufgeweicht. Ostbengalen, das zu den alten Pala- und Chandra-Reichen (4. bis 12. Jahrhundert) gehörte, stand mehr als ein Jahrtausend lang unter egalitärem buddhistischem Einfluss, bevor dort im zwölften Jahrhundert der synkretistische Islam Einzug hielt. Schon vor dem massenhaften Übertritt der Bevölkerung zum Islam hatten sich hier die Ungleichheiten zwischen den Kasten deutlich verringert.
Die Hierarchien zwischen den Klassen verringerten sich auch durch historische Ereignisse: Als die Briten Bengalen 1905 für einige Jahre teilte, als Britisch-Indien bei der Entlassung in die Unabhängigkeit 1947 in Indien und Pakistan aufgeteilt wurde und als sich schließlich 1971 Bangladesch von Pakistan abspaltete, wanderten jedes Mal zahlreiche hinduistische Landbesitzer und Angehörige der Verwaltungselite nach Indien ab. Als Folge sind die zurückgebliebenen Landbewohner Bangladeschs heute weniger sozial gespalten. Nach einer Hungersnot in Bangladesch im Jahr 1974 kamen die herrschenden Klassen und die einfachen Bürger überein, nicht nur bei Katastrophen mehr Unterstützung zu leisten, sondern das Wohlfahrtssystem auch für normale Zeiten auszubauen.
Auch Nepal befindet sich in einer Phase des gesellschaftlichen Wandels. Seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. hat dort das hinduistische Kastensystem zu lähmenden Ungleichheiten geführt. Doch verschiedene Initiativen wie Jan Andolan („Volksbewegung“), die Dalit-Bewegung und der maoistische Bürgerkrieg bildeten das Fundament für die fortschrittliche demokratische Verfassung von 2015. Es wurde eine spezielle Dalit-Kommission gegründet und 2011 ein Gesetz gegen Kastendiskriminierung und die sogenannte „Unberührbarkeit“ verabschiedet, und das Kommunalwahlgesetz von 2016 führte eine Quote für Dalit-Frauen ein. Das alles hat die Ungleichheit verringert. In Sri Lanka mit seiner buddhistischen Bevölkerungsmehrheit ist die Kasten-Ungleichheit nicht so stark, und linke Gewerkschaftsbewegungen und religiöse Reformbewegungen traten über ein Jahrhundert für Wandel ein.
Zwar verfolgt auch Indien eine Politik der „Affirmative Action“, die für marginalisierte Gruppen Quoten in Hochschulen, bei Wahlen und in der Bürokratie vorsieht. Diese Maßnahmen werden jedoch selbst nach 75 Jahren Unabhängigkeit nur lückenhaft umgesetzt und können die soziale Mobilität der Benachteiligten nur begrenzt fördern.
Bewegungen zur Emanzipation von Frauen
Rokeya Sakhawat Hussain, eine visionäre Frauenrechtlerin aus Bangladesch, veröffentlichte 1905 die futuristische Erzählung „Sultanas Traum“. Sie handelt von einem sagenumwobenen „Ladyland“, in dem die Frauen das Sagen haben, während die Männer sich zu Hause um die Kinder kümmern. Das moderne Bangladesch entspricht nicht ganz Sultanas Traum, aber in Bangladesch und Nepal haben Emanzipationsbewegungen größere Freiheiten für Frauen in Familie und Gesellschaft erstritten. Seit die maoistische Guerilla-Armee dort Frauen in ihre Reihen aufnahm, wurden in vielen Regionen traditionelle Geschlechterstereotype – etwa dass Witwen weiße Kleidung tragen – weitgehend aufgegeben. Auch in Sri Lanka, wo Frauen seit 1931 wählen dürfen, hat sich das Geschlechterverhältnis zum Positiven gewandelt.
In Industrieländern bedeutet größere Gleichheit in der Regel eine bessere Gesundheitssituation, mehr Bildung und Entwicklungschancen für Kinder. Besonders deutlich zeigt sich dies in den skandinavischen Ländern, wo die Einkommensunterschiede am geringsten sind. Länder mit ausgeprägter Ungleichheit wie die USA haben hingegen größere soziale Probleme, von Obdachlosigkeit und weit verbreitetem Übergewicht bis zu Waffengewalt. Hohe Ungleichheit schmälert die Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen.
Indien, der schlafende Riese, sollte sich ein Beispiel an den gesellschaftlichen Fortschritten moderner Staaten und an seinen eigenen Nachbarn nehmen. Die erfolgreichen Entwicklungen in Sri Lanka, Bangladesch und Nepal zeigen, worauf es ankommt: höhere Investitionen in öffentliche Dienstleistungen, starke fortschrittliche soziale Bewegungen und gezielte Investitionen, um vielschichtige vertikale und horizontale Ungleichheit zu überwinden. Auch Indien, die größte Demokratie der Welt, wird nur dann transformativen Fortschritt erleben, wenn die Ungleichheiten geringer werden. Hier ist nicht nur eine aktive Rolle des Staates gefragt, nötig ist auch eine engagierte Öffentlichkeit, die ihn in die Verantwortung nimmt.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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