Oxfam schlägt Alarm wegen der sozialen Kluft: Seit 2020 ist das Vermögen der Milliardäre um ein Drittel gewachsen und fast drei Viertel davon gehören Superreichen im globalen Norden, so die Entwicklungsorganisation. Als treibende Kraft macht sie die Monopolmacht großer Konzerne und Finanzanleger aus; Verlierer seien Lohnabhängige und der globale Süden. In der Tat hat die Weltbank festgestellt, dass der Abstand zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beim durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen seit der Corona-Pandemie wieder wächst. Und in vielen armen Ländern wird die Verteilung ungleicher.
Heißt es, dass die weltweite Ungleichheit wächst? Nein. Man muss genau hinsehen, von welchen Arten Ungleichheit die Rede ist und wie gemessen wird.
Was steckt hinter verschiedenen Konzepten von Ungleichheit?
Zunächst ist die Frage, ob man auf die Verteilung von Einkommen blickt oder aber von Vermögen. Dieses ist meist deutlich ungleicher verteilt als Einkommen, aber auch schwieriger zu erfassen; meist geht es um Einkommen.
Dann sind drei grundverschiedene Konzepte zu unterscheiden. Das erste, nationale Ungleichheit, beschreibt die Verteilung unter den Bürgern eines Staates. Beim zweiten, internationale Ungleichheit, vergleicht man durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von Staaten. Das dritte Konzept, globale Ungleichheit, bringt beides zusammen: Alle Menschen aus Nord wie Süd werden in Einkommensgruppen von arm bis reich eingeordnet, als wäre die Welt nur ein Staat; dann wird berechnet, welche Gruppe wie viel vom Welt-Sozialprodukt abbekommt.
Globale Ungleichheit lässt sich nicht einfach aus der in und zwischen den Staaten ableiten. Die längerfristige Entwicklung zeigt laut dem Erfinder des Konzepts, Branko Milanović , dass Europa und Nordamerika mit der Industrialisierung sehr viel reicher wurden als der Rest der Welt; auch der Lebensstandard der Ärmeren dort stieg gegenüber der Mehrheit und selbst gegenüber den Reichen in Afrika und Asien stark. Das hat die Verteilung unter der Weltbevölkerung insgesamt viel ungleicher gemacht. Mit dem Wirtschaftswachstum in Asien – besonders in China mit grob einem Sechstel der Weltbevölkerung – hat sich die internationale Kluft seit den 1990er Jahren dann wieder etwas geschlossen: Das Einkommen vieler ärmerer Asiaten hat im Vergleich zu dem der Mehrheit in Europa und Nordamerika stark aufgeholt. Die globale Ungleichheit ist damit kleiner geworden, obwohl gleichzeitig in China und in vielen reichen Ländern die nationale Ungleichheit gewachsen ist und die ärmsten Länder zurückbleiben.
Inwiefern ist Ungleichheit ein Problem – und welche vor allem?
Hier gehen die Ansichten weit auseinander. Nationale Ungleichheit erklären viele Liberale und Konservative zur unverzichtbaren Triebkraft des Wirtschaftswachstums. Ausgerechnet der Weltwährungsfonds IWF weist das in einem Papier von 2017 im Grunde zurück: Danach begünstigt Ungleichheit nur bis zu einer gewissen Schwelle das Wirtschaftswachstum, jenseits davon behindert sie es. Und diese Schwelle liegt laut IWF so niedrig, dass alle Staaten außer ein paar europäischen sie überschritten haben, besonders weit die in Afrika und Lateinamerika. Sie könnten also schneller wirtschaftlich wachsen, wenn ihre Gesellschaften weniger ungleich wären.
Hohe Ungleichheit macht es eindeutig schwerer, die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen – etwa Armut und Hunger zu überwinden und Bildung für alle zu sichern. Denn Wirtschaftswachstum hilft da umso eher, je mehr die ärmeren Gruppen abbekommen und je besser mit wachsenden Staatsmitteln öffentliche Dienste zugänglich gemacht werden, siehe Swati Narayan in diesem Heft. Die britischen Sozialmediziner Richard Wilkinson und Kate Pickett haben für reiche Länder gezeigt: Größere soziale Gegensätze gehen statistisch einher mit mehr Statuskonkurrenz, Kreislaufkrankheiten, Selbstmorden und Drogensucht, mehr Gewalt, weniger Vertrauen und weniger Lebensqualität – das heißt auch schwächerem sozialem Zusammenhalt.
Die politischen Auswirkungen sind weniger klar. Branko Milanović hält den Rückgang der globalen Ungleichheit nach 1990 für eine Ursache des Populismus in den Industriestaaten: Weniger qualifizierte Arbeitskräfte im Norden erlebten es als Statusverlust, dass sie nicht länger deutlich reicher sind als gut verdienende Asiatinnen und Asiaten, dass sie sich weniger Reisen in Schwellenländer leisten können und stattdessen nun Chinesen, Araber oder Inder uns bereisen. Doch Andy Sumner vom King’s College in London hält Populismus eher für ein Ergebnis unsicherer Arbeits- und Lebensverhältnisse im Prekariat, also von Ungleichheit im eigenen Land. Die wird viel stärker wahrgenommen und hat viel mehr politische Folgen als globale Ungleichheit.
Die globale Ungleichheit behindert aber Klimaschutz, Artenschutz und den Schutz globaler Gemeingüter. Denn all das geht einerseits mit Streit zwischen reichen und armen Staaten einher – zum Beispiel über die Klimafinanzierung – und andererseits mit Streit in Staaten, wie die Lasten und Profite einer Transformation und die Klimaschäden verteilt werden. So sind laut dem neuen Climate Inequality Report für fast die Hälfte aller Emissionen die zehn Prozent Reichsten weltweit verantwortlich, das sind aber nicht mehr überwiegend Europäer und Nordamerikaner: 1990 ging das Ungleichgewicht bei den Emissionen zu zwei Dritteln auf die Kluft zwischen armen und reichen Ländern zurück, 2019 aber zu zwei Dritteln auf Ungleichheit innerhalb der Staaten. Die wird zu einem der größten Bremsklötze für Klimaschutz.
Wie kann man das Ausmaß von Ungleichheit messen?
Ein objektiv richtiges Maß gibt es nicht. Jede Berechnung enthält Werturteile, zum Beispiel wie stark der Anteil der ärmsten oder reichsten Gruppen gewichtet wird. Und alle sind mit Unsicherheiten behaftet. Zunächst wird immer die Bevölkerung in Teile – meist zehn oder hundert – mit zunehmendem Einkommen gruppiert und dann vom ärmsten bis zum reichsten Teil das jeweilige Durchschnittseinkommen ermittelt. Die Daten dafür sind lückenhaft und nur begrenzt zwischen Ländern und über die Zeit vergleichbar; man behebt das mit mehr oder weniger verlässlichen Schätzungen.
Als Datengrundlage nutzt die Weltbank Befragungen zum Konsum, die auch Grundlage ihrer Armutsstatistiken sind. Das hat im Falle sehr armer Länder Vorteile: Einkommen aus dem informellen Sektor und selbst angebaute Nahrung sind mit erfasst, erklärt Gabriela Inchauste, die als Ökonomin in der Weltbank zu Armut und globaler Gerechtigkeit arbeitet und einen Bericht zu Ungleichheit in Afrika vorbereitet. Auch die Datenbank zu Einkommensungleichheit des Instituts für entwicklungsökonomische Forschung der UN-Universität (UNU-WIDER) nutzt Konsumdaten. Ihr Nachteil: Sie ergeben zu niedrige Werte für das Einkommen von Reichen, weil die nur einen kleinen Teil davon konsumieren und zudem in vielen Befragungen schlecht erfasst sind.
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Das will das World Inequality Lab (WILab) beheben, eine Gruppe von rund 30 Forschenden an den Universitäten Paris und Berkeley (USA); prominente Mitgründer sind Thomas Piketty und Gabriel Zucman. Es hat eine Datenbank aufgebaut, die vor allem auf Steuerdaten und volkswirtschaftlicher Statistik beruht, ergänzt mit Befragungsergebnissen. Das funktioniert für Länder mit guter Statistik besser als für sehr arme Staaten. Ermittelt wird hier nicht der Konsum, sondern das Einkommen und das Vermögen der Haushalte – einschließlich Sozialtransfers wie Renten, aber vor Abzug von direkten Steuern, der in Konsumbefragungen berücksichtigt ist.
Die Daten des WILab zeigen meist höhere Ungleichheit als andere. Zudem findet das WILab eine viel stärkere Konzentration von Einkommen und Vermögen an der Spitze; hierfür erscheinen seine Daten besser als andere. „Die Ungleichheit beim Konsum ist kleiner als beim Einkommen und dort kleiner als beim Vermögen“, sagt Andy Sumner, der seit Jahrzehnten Armut und Ungleichheit erforscht.
Unterschiedlich sind auch die Indikatoren. Der Gini-Index, den zum Beispiel Milanović verwendet, gibt mit einer einzigen Zahl zwischen Null und Eins an, wie stark die Verteilung von Gleichheit abweicht. Das ist sehr praktisch für Zeitreihen und Ländervergleiche, sagt aber nichts darüber, welche Schichten wo besonders viel oder wenig abbekommen. Dies lassen Darstellungen erkennen wie vom WILab und vom UN-Forschungsinstitut für soziale Entwicklung (UNRISD), die zeigen, was ärmere Teile und das reichste Zehntel oder Hundertstel der Bevölkerung abbekommen.
Welche Methode ist insgesamt besser? „Das weiß niemand“, sagt Sumner. Alle Zahlen muss man mit Vorsicht und mit Blick auf ihre Vor- und Nachteile deuten. Die Messung weiter zu verbessern, findet er aber nicht vordringlich: Die Probleme seien ausreichend bekannt und auch, was man tun könnte – die Frage sei, wie man es durchsetzen könne.
Welche Trends kann man deutlich erkennen?
Seit Ende der 1990er Jahre ist die Ungleichheit global gesunken und in vielen Ländern gestiegen – aber nicht in allen. Wie sich der Anteil der ärmsten Hälfte am Einkommen in den Weltregionen laut WILab verändert hat, zeigt Grafik 1. Danach erhält sie in Europa (ohne Russland) den größten Anteil. In Russland und Zentralasien hat die Mehrheit in den 1990ern infolge der wilden Privatisierung dramatisch verloren. In den USA ging es für sie stetig bergab, weniger stark in Südasien. Auch für regionale Ungleichheit spielt die zwischen Ländern eine Rolle. Dass sie zum Beispiel in Nordafrika und Nahost von extrem hohem Niveau zurückgegangen ist, liegt laut WILab daran, dass Länder außerhalb der reichen Golfstaaten wirtschaftlich etwas aufgeholt haben und dass massenhaft Arbeitskräfte in diese Golfstaaten gewandert sind.
Das WILab macht Lateinamerika als Weltteil mit der höchsten Ungleichheit aus; das stimmt mit dem Befund der Weltbank überein, sagt Inchauste. Sumner ist aber überzeugt, dass die Länder Afrikas südlich der Sahara ungleicher sind als die Lateinamerikas. Er verweist auf Daten von UNU-WIDER zu nationaler Ungleichheit in Entwicklungsländern (Grafik 2). Die zeigen auch, dass der Einkommensanteil der ärmsten 40 Prozent von 1985 auf 2022 in mehr Entwicklungsländern gestiegen als gesunken ist.
Klar ist schließlich, dass der jahrzehntelange Rückgang der globalen Ungleichheit bald enden dürfte. Denn wenn China über einen gewissen Punkt hinaus reicher wird, verkleinert das die Kluft zwischen armen und reichen Ländern nicht mehr, sondern vergrößert sie – China hängt dann ärmere Länder ab. Um die globale Ungleichheit weiter zu senken, müssten Indien und Afrika mit ihrer riesigen Bevölkerung schnell nachziehen. Dass sie das können, ist sehr fraglich, besonders seit die Corona-Pandemie weite Teile des Südens zurückgeworfen hat.
Was sind die Ursachen von hoher Ungleichheit?
Zwischen Ländern geht sie zurück auf die Industrialisierung im globalen Norden seit dem 19. Jahrhundert – und auf den Kolonialismus, betont Gurminder Bhambra in diesem Heft. Auch innerhalb von Staaten entsteht Ungleichheit Ökonomen zufolge aus wirtschaftlichem Strukturwandel. So wächst sie jetzt laut Branco Milanović mit dem Wachstum des Dienstleistungssektors, der Verbreitung neuer Kommunikationstechniken und der Globalisierung; die führen alle zu Druck auf die Löhne in großen Wirtschaftszweigen.
Die Wirtschaftsstruktur prägt auch in Entwicklungsländern die Verteilung des Volkseinkommens mit. „Industrie aufzubauen verringert tendenziell die Ungleichheit, weil es Arbeitsplätze schafft“, sagt Sumner, „Rohstoffausbeutung erhöht sie dagegen eher.“ Inchaustes Team bei der Weltbank hat 48 afrikanische Länder in vier Gruppen aufgeteilt je nachdem, ob sie rohstoffreich und ob ihre Staaten fragil sind. In nicht fragilen rohstoffreichen Ländern findet sich im Schnitt die größte innere Ungleichheit, sagt Inchauste. Und sie betont, dass in Afrika die Benachteiligung vieler Bevölkerungsgruppen oder Gebiete, gerade ländlicher, beim Zugang zu Bildung, zu Infrastruktur und zu Absatzmärkten Ungleichheit und Armut verfestigt.
Dennoch ist das kein wirtschaftlicher Sachzwang, sondern eine politische Entscheidung – diese Grundthese der Forscher vom WILab teilt Sumner. Schließlich sind Einkommen in vergleichbar wohlhabenden Gesellschaften sehr unterschiedlich verteilt. Staaten können gegensteuern. Die Regierungsform scheint dabei nicht entscheidend zu sein: „Manche zu Autokratie tendierende Länder wie Malaysia und Thailand haben die Ungleichheit verringert und viele Demokratien nicht“, sagt Sumner. Entscheidend sei, ob die Staatsspitze Unmut in der Bevölkerung früh wahrnehme und reagiere, um Protest abzuwenden.
Wichtige Ursachen liegen aber auch in der von reichen Ländern bestimmten Ordnung der Weltwirtschaft. Die von den USA und Großbritannien ausgehende neoliberale Politik seit Mitte der 1970er Jahre hat nicht nur zu mehr Ungleichheit in den meisten Industrieländern geführt, sondern auch Finanzanlegern und Oligopolen eine dominierende Rolle in der Weltwirtschaft gegeben – auch gegenüber Regierungen im globalen Süden. Viele finden ihre Möglichkeiten zu Umverteilung im Land eingeschränkt von zum Beispiel Schutzklauseln für Investoren, globalen Patentregeln und Kapitalflucht in Steueroasen.
Was kann man alles gegen Ungleichheit tun?
Schritte für eine gerechtere Verteilung von Wohlstand haben bisher meist Gewerkschaften oder soziale Bewegungen von Benachteiligten erstritten. Sie gilt es zu schützen und zu unterstützen. Und auch spontane Brotrevolten haben politisch Wirkung.
Doch entscheidende Änderungen müssen Regierungen durchsetzen. Auf die Frage, was in Entwicklungsländern wirksam wäre, nennt Sumner an erster Stelle Landreformen, wo große Flächen im Besitz von Wenigen sind. Dann solle man einheimische Märkte für kleine Produzenten aufbauen, teure Subventionen für fossile Treibstoffe abschaffen und stattdessen Geld gezielt an Bedürftige verteilen; mit Bargeldtransfers hat man in Lateinamerika große Fortschritte erzielt, so Sumner. Inchauste sagt, auch afrikanische Länder könnten mit Steuern umverteilen: „Wir ermutigen sie zu progressiver Beteuerung“, das sei aber eine langfristige Reform. Kurzfristig sei entscheidend, die Steuereinnahmen zum Nutzen der Ärmeren zu verwenden: Für den Ausbau des Sozialschutzes und von öffentlichen Diensten wie Bildung und Gesundheit. Weil das Steueraufkommen in armen Ländern beschränkt ist, muss man Kapitalflucht in Steueroasen angehen, ergänzt Sumner.
Nötig sind also auch internationale Schritte – sowohl gegen Ungleichheit zwischen Ländern wie gegen die in Entwicklungsländern. Schuldenerleichterungen und ein Staateninsolvenzverfahren gehören dazu, mehr internationale Klimafinanzierung und auch Entwicklungshilfe. Besonders hilfreich für arme Länder wäre, die Arbeitsmigration, auch von Nord nach Süd, zu erleichtern statt zu bekämpfen.
Dringend nötig sind auch faire globale Steuerregeln. Afrikanischen Ländern ist zu verdanken, dass Verhandlungen darüber in den UN begonnen haben – unter anderem über Konzernsteuern und ihre Aufteilung. Zwar ist die Besteuerung von Kapital infolge der Globalisierung in Entwicklungsländern gestiegen und nur in reicheren Ländern gesunken, findet das WILab; Firmen haben ja Teile der Produktion südwärts verlagert. Aber die Steuerbelastung von Profiten ist im globalen Süden noch niedriger als im Norden, und hier sinkt sie.
Entwicklungsländer setzen sich auch für internationale Steuern zum Beispiel auf den Flugverkehr, die Schifffahrt und Finanztransaktionen ein, um zum Beispiel Klimaschutz und -anpassung im Süden zu finanzieren. Und Brasiliens Präsident Lula da Silva hat eine Mindeststeuer für die Superreichen auf die Tagesordnung des Clubs der Industrie- und Schwellenländer (G20) gesetzt, wo Brasilien zurzeit den Vorsitz hat. Die Debatte über den Skandal, dass viele Milliardäre kaum Steuern zahlen und eine winzige globalisierte Minderheit immer mehr Reichtum anhäuft, scheint Fahrt aufzunehmen.
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