Die Reichsten sahnen ab

Zwei junge Frauen in rückenfreien langen roten Keidern vor Luxusschiffen im Hafenbecken des Yachthafens von Monaco.
Reuters/Eric Gaillard
Superreiche zeigen auf der prestigeträchtigen ­Monaco Yacht Show, hier im ­September 2022, ihre viele Millionen teuren Luxusschiffe.
Einkommenspyramide
Die neoliberale Politik hat ein Wirtschaftssystem geschaffen, das Vermögensbesitzer reich und einen Großteil der Arbeitenden arm macht. Ein Grundeinkommen wäre ein wichtiger Ansatz, dies zu ändern.

Eine Gruppe Ökonomen gründete 1947 auf Initiative von Friedrich August von Hayek die Mont Pèlerin Society, benannt nach dem Berg, auf dem das Schweizer Tagungshotel mit Blick auf den Genfer See lag. Kernpunkte ihres Programms waren die Stärkung der freien Marktwirtschaft und die Ablehnung von jeder Art von Sozialismus und Sozialdemokratie. In den 1970er Jahren kamen ihre Ideen in der neoliberalen Wirtschaftsrevolution zum Durchbruch; führende Köpfe aus ihren Reihen berieten Politiker vom Schlage Margaret Thatchers und Ronald Reagans und übernahmen die Leitung von Finanzministerien. 

Die Reformen, zu denen sie bis in die 1990er Jahre beitrugen, haben allerdings ein ganz anderes globales Wirtschaftssystem hervorgebracht, als sie im Sinn hatten. Sie traten für freie Marktwirtschaft ein – aber das Finanzkapital hat einen Kapitalismus der Rentiers geschaffen, die Einkünfte aus Vermögen beziehen statt aus Arbeit. Im Rentier-Kapitalismus fließt ein immer größerer Teil des gesamten erwirtschafteten Einkommens und Reichtums an Besitzer von materiellem (wie Immobilien), finanziellem (wie Aktien) und sogenanntem geistigem Eigentum (wie Patente). Entsprechend erhalten alle, die ihr Einkommen mit Arbeit erzielen, immer weniger.

Die Mont Pèlerin Society ging davon aus, dass der freie Markt ein Monopol einzelner Unternehmen verhindern und ihren Gewinnen Grenzen setzen würde. Tatsächlich aber haben große Finanzinstitute mächtigen Konzernen geholfen, immer mehr kleinere Firmen zu schlucken. Riesige Konglomerate sind entstanden, die ganze Sektoren beherrschen und ihren Besitzern, Aktionären und privilegierten Angestellten neben extrem hohen Einkommen auch politische und wirtschaftliche Macht verleihen. So hat der Neoliberalismus eine neue globale Klassenstruktur hervorgebracht. Einkommensstarke Gruppen erzielen immer höhere Einkommen in Form von Renten aus materiellem, geistigem und finanziellem Eigentum und auch aus Gewinnen, die weit über denen liegen, die sie hätten, wenn es einen freien Markt gäbe. An der Spitze steht eine absurde Plutokratie aus Multimilliardären. Zurzeit gibt es 2781 Multimilliardäre, ein neuer Rekord. Ihr Gesamtvermögen beläuft sich auf über 14 Billionen US-Dollar, das sind 2 Billionen Dollar mehr als im letzten Jahr, ebenfalls eine neue Höchstmarke.

Millionäre, Lohnempfänger, Proletariat und Prekariat

Unterhalb dieser Spitzengruppe in der Einkommenspyramide steht die Elite der Millionäre, die der Plutokratie dienen. Sie beziehen teilweise Gehälter, aber hauptsächlich ebenfalls Gewinne aus verschiedenen Formen des Kapitals. Darunter liegt die schrumpfende Schicht der Lohnempfänger: Menschen mit festem Arbeitsplatz, die Vorteile genießen wie Altersrente, bezahlten Urlaub und vielerlei Formen von Lohnersatzleistungen. Eine Stufe tiefer folgt das rasch schrumpfende Proletariat: Arbeitnehmer, die hauptsächlich einfache Tätigkeiten ausführen und für die in den 1950er und 1960er Jahren der Wohlfahrtsstaat geschaffen wurde.

Die Lohnempfänger und das Proletariat werden zunehmend durch eine neue Klasse verdrängt: das Prekariat. Es besteht aus der Vielzahl von Menschen, die mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben, in wechselnden, unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, mit schwankendem Einkommen und ohne Selbstbewusstsein aus der beruflichen Karriere. Sie verlieren zunehmend soziale Rechte wie den Zugang zu universellen sozialen Leistungen, wirtschaftliche Rechte, etwa die Chance, ihrer Neigung und Qualifikation entsprechende Tätigkeiten auszuüben, kulturelle Rechte, also an Gemeinschaften ihrer Wahl teilzunehmen, und vor allem politische Rechte: die Möglichkeit, Parteien und Politiker zu wählen, die ihre Wünsche, Interessen und Bedürfnisse vertreten. Denn das tut niemand. Sie fühlen sich wie Bittsteller. Dieser unwürdige Zustand ist das charakteristischste Merkmal des Prekariats.

Kehrseite des Reichtums – die Zahl der Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen ist dramatisch gestiegen: Essensausfahrer in Kuala Lumpur, Malaysia, Mitte 2020.

Während der Rentier-Kapitalismus Plutokraten und andere Gruppen von Rentiers bereichert, wächst und verarmt das Prekariat – weltweit, am meisten aber in Entwicklungsländern. Seit Jahrzehnten werden diese Länder vom Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, regionalen Entwicklungsbanken und UN-Organisationen gedrängt, ausländische Direktinvestitionen einzuwerben. Dies stärkt die Rolle des Finanzkapitals, allen voran von Banken und privaten Beteiligungsfonds. Sie fördern die Verbreitung von privaten Eigentumsrechten und die exportorientierte Produktion. 

Autor

Guy Standing

ist britischer Wirtschaftswissen­schaftler und Professor für Entwicklungsstudien an der School of Oriental and African Studies (SOAS) der Universität London sowie Mitbegründer des Basic Income Earth Network.

Hierbei hat die von den USA dominierte Finanzwirtschaft viele Gemeingüter, die traditionell allen Menschen in lokalen Gemeinschaften gehörten wie Land, Wälder, Mangroven und Meeresküsten, zu Eigentum ausländischer Banken und multinationaler Konzerne gemacht. Finanzanleger und besonders privates Beteiligungskapital suchen schnelle und möglichst hohe Gewinne. Und da Banken von Krediten leben, haben sie die Verschuldung von Staaten, Einzelpersonen und Gemeinden vorangetrieben und ziehen daraus Profit, während deren Einwohner zusehen müssen, wie ihre Volkswirtschaften zum Vorteil von Menschen und Konzernen in reichen Ländern umgebaut werden. Dass Wirtschaftsflüchtlinge nach Westeuropa streben, kann man nur richtig verstehen, wenn man sieht, wie das globale Finanzsystem die Gemeinschaftsressourcen in ihren Heimatländern ausbeutet.

Frustration, Unsicherheit und was daraus resultiert

Unterdessen wächst das Prekariat. Dort nähren Frustration und Unsicherheit einen Vertrauensverlust gegenüber den traditionellen Formen der Sozialdemokratie. Überall lässt sich das Prekariat in drei Gruppen mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung aufteilen.

Die erste nenne ich Atavisten. Sie sind relativ ungebildet und kommen hauptsächlich aus dem traditionellen Arbeitermilieu. Nach ihrer Überzeugung war es früher besser als heute, und sie hören auf Populisten wie Donald Trump, Viktor Orban, Narendra Modi, Marine Le Pen und Jair Bolsonaro. Die schieben die Schuld für die unsicheren Lebensverhältnisse des Prekariats häufig auf Außenseiter, Linke, die Eliten und das sogenannte Establishment. Wenn sie Erfolg haben, droht uns eine dunkle, autoritäre Zukunft. 

Die zweite Gruppe nenne ich Nostalgiker: Millionen Migranten, die in unsicheren Verhältnissen leben und sich weder da, wo sie leben, noch in ihrem Herkunftsland zu Hause fühlen. Sie fühlen sich entrechtet, weil keine Partei und kein Politiker ihre Interessen vertritt.

Die dritte Gruppe bilden die Progressiven – relativ gebildete Menschen, die das Gefühl haben, die Zukunft zu verlieren. Damit haben sie insoweit recht, als die etablierten politischen Parteien keine Vision einer erstrebenswerten Gesellschaft bieten, die sich grundlegend vom heutigen Rentier-Kapitalismus unterscheidet. Sie ignorieren das Prekariat und auch die Umweltzerstörung und fordern weiterhin mehr Wirtschaftswachstum unter der Ägide der globalen Finanzwelt. 

Was ist zu tun, um die Ungleichheit zu verringern?

Die gute Nachricht ist, dass der Anteil der Progressiven am weltweiten Prekariat zunimmt, während Atavisten älter werden und an Zahl abnehmen – auch wenn sie mit ihrem Zorn noch enormen Einfluss haben. Die schlechte Nachricht ist, dass noch immer eine politische Vision fehlt, um die jungen Progressiven im Prekariat zu mobilisieren.

Was sollte man tun, um den Rentier-Kapitalismus zu überwinden und die von ihm erzeugten Ungleichheiten und Unsicherheiten zu verringern? Konzentrieren wir uns nur auf die Entwicklungsländer. Als erstes sollte neu definiert werden, was wir unter Wirtschaftswachstum verstehen. Seit den 1940er Jahren wird Entwicklung am Wachstum des Bruttoinlandprodukts gemessen. Damit wird der Sorgearbeit in Familien, die hauptsächlich von Frauen geleistet wird, der Wert null zugemessen, ebenso wie freiwilliger gemeinnütziger Arbeit, die nicht auf ein Einkommen gerichtet ist. Wir müssen stattdessen Wachstum zu einem echten Maß für Entwicklung umformen, in das Sorgearbeit, Umweltschutz und der Abbau von Ungleichheiten als positiver Beitrag eingehen. Das würde die Wirtschaftsstruktur nicht grundsätzlich ändern, aber die Politik neu orientieren.

Zweitens sollte internationale Hilfe stärker den Aufbau örtlicher Gremien fördern, die die Nutzung und den Erhalt ihrer lokalen Ressourcen regeln können. Lokale Gemeinschaften sollten ihre Gemeingüter zurückerhalten. Wir müssen uns klar machen, dass am ehesten die für eine ökologische Wiederbelebung streiten, die in und von lokalen Gemeingütern leben. Die Entwicklungshilfe sollte repräsentative Gruppen fördern, die genau dies tun. Ein zu großer Teil der Wirtschaft ist in die Hände ausländischer Finanziers gelegt worden, die Profite herausziehen. Dies muss rückgängig gemacht werden.

Den Rentier-Kapitalismus abbauen

Das langfristige Ziel muss sein, den Rentier-Kapitalismus abzubauen. Im Industriezeitalter Mitte des 20. Jahrhunderts hätte man das vor allem mit dem Kartellrecht erreichen können, also indem man Monopolunternehmen, die mit überhöhten Preisen Rentier-Einkommen erzielen, aufspaltet und mehr nationalen Wettbewerb schafft. Aber heute, in der globalisierten Wirtschaft, haben viele Länder einige „nationale Champions“: große Unternehmen, die mit denen aus anderen Ländern im Wettbewerb stehen. Da ist nicht zu erwarten, dass Staaten ihre eigenen Wirtschaftsriesen mittels Kartellrecht schwächen. Daher sind andere Maßnahmen nötig, unter anderem die Begrenzung von überhöhten Preisen und eine Überarbeitung des Schutzes für geistiges Eigentum. 

Doch dringend nötig ist überall eine Strategie, Ungleichheiten und Unsicherheit zu verringern. Ich bin überzeugt, dass es dafür ein ideales Instrument gibt, das der Umwelt hilft, dem Prekariat eine Grundsicherheit gibt und vernünftigeres sozioökonomisches Wachstum fördert: Jedes Land sollte einen Gemeingüter-Kapitalfonds schaffen, eine Art demokratischen Staatsfonds. Und alle Unternehmen und Personen, die finanziell von der Nutzung oder Entnahme lokaler Gemeingüter wie Rohstoffe, Wälder, Meeresböden, Mangroven, Seen und Fischbestände profitieren, sollten auf die Einnahmen daraus eine Art Steuer entrichten. Die sollte in den Fonds fließen, der sie in ökologisch nachhaltige Produktion investiert. 

Zusätzlich sollten alle, die die Luft oder das Wasser verschmutzen, eine CO2-Abgabe oder CO2-Steuer auf ihre Emissionen zahlen. Auch die sollte in den Fonds fließen, teilweise vielleicht in einen globalen statt nationalen. Schließlich verursachen die Reichen den größten Teil der Umweltverschmutzung und vor allem die Armen zahlen dafür mit ihrer Gesundheit. Wir werden die Erderwärmung auch nicht bekämpfen können, ohne den Energieverbrauch zu senken, und das bedeutet, Verursacher zur Kasse zu bitten.

Grundeinkommen als wirtschaftliches Bürgerrecht

Einige dieser Abgaben würden für Arme einen größeren Teil des Einkommens ausmachen als für Reiche. Zum Ausgleich sollten alle Bürgerinnen und Bürger eine Gemeingüter-Dividende aus den Erträgen der Fonds-Anlagen erhalten, und zwar individuell und ohne Bedingungen, als eine Art wirtschaftliches Bürgerrecht, also eine Art Grundeinkommen. Das ist dringend nötig, um Menschen im Prekariat eine Grundsicherung zu geben und den Frauen und den wenigen Männern zu helfen, die unbezahlte Sorgearbeit leisten. Und es hätte doppelten Nutzen für die Umwelt: Verschmutzer würden bestraft und die mit einem sicheren Einkommen belohnt, die wichtige förderliche Beiträge zur Gemeinschaft leisten.

Hier gibt es gute Nachrichten. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben mehrere Länder Afrikas und Lateinamerikas sowie Indien Pilotprojekte und Experimente zum Grundeinkommen durchgeführt. Alle haben gezeigt, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen zu besserer Ernährung und Gesundheit, erfolgreicherem Schulbesuch und höheren Leistungen führt – und dass mehr, nicht weniger, Arbeit als zuvor geleistet wird. Ein Grundeinkommen verbessert zudem den Status und die Unabhängigkeit von Frauen, Minderheiten und Menschen mit Behinderungen. Es gibt Menschen im Prekariat Hoffnung auf eine Zukunft.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

LITERATUR

Guy Standing:
The Politics of Time. Gaining Control in the Age of Uncertainty
Penguin, London 2023

Guy Standing:
Battling Eight Giants. Basic Income Now
Bloomsbury, London 2020

Guy Standing:
The Corruption of Capitalism. Why Rentiers Thrive and Work Does Not Pay
Biteback, London 2021

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