Die Siedler dringen weiter vor

Mamoun Wazwaz/Anadolu Agency via Getty Images
Israelische Streitkräfte greifen Palästinenser und ausländische Aktivisten, die sie unterstützen, an, nachdem sie versucht haben, Oliven auf einem Feld zu sammeln, das von israelischen Streitkräften am 22. Oktober 2022 im Dorf At-Tuwani in der Nähe von Yatta in Hebron, Westjordanland, beschlagnahmt wurde.
Israel-Palästina
Während die Welt nach Gaza blickt, wächst die Gewalt in der von Israel besetzten Westbank: Mehr als tausend Palästinenserinnen und Palästinenser wurden dort nach dem Terrorangriff der Hamas Anfang Oktober aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben.

Die felsigen Hügel sind gesprenkelt mit dem Grün der Olivenbäume und Weinstöcke. Dazwischen winden sich Straßen, die Dörfer und kleine Farmen miteinander verbinden. Aber diese alte Hügellandschaft südlich von Hebron verändert sich. Israelische Siedlungen und Außenposten wachsen schnell. Auch in der Nachbarschaft des Dorfes Sadat al-Tha'la, wo Yusef Awad mit seiner Familie lebt. Vor vier Jahren erbauten jüdische Siedler nahe seinem Grundstück eine Farm. „Damit begannen die Probleme“, sagt der 40-Jährige.

Auf einen Schlag verlor Awad einen Großteil seines Weidelandes, das nun von Siedlern bewirtschaftet wird. „Damit mein Vieh nicht verhungert, muss ich Tierfutter zukaufen“, sagt er. Das sei teuer und schmälere sein ohnehin geringes Einkommen. Nach internationalem Recht sind diese Außenposten illegal. Dennoch gibt es sie. Und die Siedler wollen mehr.

Übergriffe gab es immer schon, doch in letzter Zeit haben sie deutlich zugenommen, sagt Awad. Sechsmal hätten Siedler in den letzten Monaten seine Wasserleitung gekappt. Nachts kämen sie mit ihren Quads – geländegängigen vierrädrigen Motorrädern –, führen über sein Feld und wühlten die Erde auf. Sie trügen automatische Waffen und Masken, so Awad: „Wenn du sie fotografierst, drehen sie durch.“ Bereits zweimal wurde er von ihnen zusammengeschlagen und mit Tränengas besprüht, sagt er.

Seitdem geht er nicht mehr aus dem Haus, wenn die Siedler kommen. Stattdessen versperrt er die Tür und versteckt sich mit seiner Frau und den Kindern im Wohnzimmer. Draußen hören sie das Röhren der Quads und wie die Siedler im Hof umhergehen. Beim letzten Mal hätten sie ein Fenster eingeschlagen: „Das macht uns Angst.“

Die Polizei zu rufen, habe keinen Sinn, so der Familienvater: „Die kümmert sich nicht um uns.“ Also ruft er die Armee zu Hilfe. Irgendwann tauchen Soldaten auf. Aber da die Siedler, anders als die Palästinenser, zivilem Recht unterliegen, dürfen die Soldaten sie nicht verhaften. Sie können die Randalierer daher nur auffordern zu gehen. „Das tun sie auch“, sagt Awad, „aber sie kommen zurück.“

Siedler zerstören Eigentum

Vorfälle wie dieser sind kein Einzelfall. Auch auf das Grundstück von Said Rabaa dringen regelmäßig Siedler ein, berichtet er. Der 58-Jährige betreibt mit seinen beiden Frauen und den Kindern eine kleine Landwirtschaft nahe des Dorfes At-Tuwani. „Früher lebten die Bauern nur im Winter und Frühjahr hier, um Felder zu bewirtschaften und Oliven zu ernten“, sagt Rabaa. Heute sind sie das gesamte Jahr über hier aus Angst, dass die Siedler während ihrer Abwesenheit ihre Häuser zerstören.

Auf das Grundstück von Said Rabaa dringen regelmäßig Siedler ein, berichtet er. Der 58-Jährige betreibt mit seinen beiden Frauen und den Kindern eine kleine Landwirtschaft nahe des Dorfes At-Tuwani. Beim letzten Überfall hätten die Siedler seine Solarpaneele zerstört und einen Wassertank angebohrt.

Beim letzten Überfall hätten die Siedler seine Solarpaneele zerstört und einen Wassertank angebohrt. Außerdem hätten sie seinen Presslufthammer gestohlen – ein teures Gerät, das er nicht einfach ersetzen kann. Das Ziel dieses Vandalismus ist klar: Die jüdischen Nachbarn wollen Rabaa zermürben, bis er irgendwann aufgibt.

Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem dokumentiert und berichtet über solche und ähnliche Vorfälle seit über dreißig Jahren. Gewalt gegen Palästinenser, wie sie jetzt in der Westbank geschieht, ist nichts Neues, sagt Roy Yellin, Direktor für Öffentlichkeitsarbeit bei B'Tselem. Diese Übergriffe gebe es seit vielen Jahren. Das Ziel sei immer dasselbe: die Palästinenser aus Gebieten zu vertreiben, die Israel übernehmen will.

Bisher habe Israel jedoch Gewalt nur in kleinen Dosen geschehen lassen. So wollte die Regierung internationale Kritik möglichst vermeiden. Doch auch das schrittweise Erhöhen des Drucks auf die Palästinenser zeigt Wirkung: Über die Jahre wurden die Lebensbedingungen derart schwierig, dass viele ihre Farmen und Dörfer freiwillig aufgaben und wegzogen.

Drastischer Anstieg von Siedlungen in der Westbank

Als Ende 2022 die rechtsreligiöse Regierung unter Benjamin Netanjahu an die Macht kam, seien aber die Dämme gebrochen. „Seitdem hat die Intensität der Gewalt in der Westbank deutlich zugenommen“, sagt Yellin: Siedler greifen palästinensische Bauern mit Stöcken und Steinen an, dringen in Häuser ein, demütigen und schlagen die Bewohner.

Parallel dazu hat die Regierung den Ausbau der Siedlungen vorangetrieben. Wie israelische Medien berichteten, wurden für das Jahr 2023 rund 7000 neue Häuser und Wohnungen in israelischen Siedlungen in der Westbank genehmigt. Ein drastischer Anstieg verglichen mit den Jahren 2021 und 2022, in denen insgesamt etwa 8000 Genehmigungen erteilt wurden.

Auf der internationalen Ebene arbeitet Israel seit Jahren mit Unterstützung der USA an einer Normalisierung der Beziehungen zu seinen arabischen Nachbarn. Die Regierung unter Joe Biden strebte sogar einen offiziellen Friedensschluss zwischen Israel und Saudi-Arabien an. Israel erlag dadurch dem Trugschluss, seine diplomatischen Ziele erreichen und dabei den Konflikt mit den Palästinensern ignorieren zu können. Der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober hat jedoch auf tragische Weise deutlich gemacht, dass sich dieser Konflikt nicht ignorieren lässt.

Keine Sicherheit für Palästinenser

Mitte Oktober veröffentlichte B'Tselem ein Handyvideo. Zu sehen ist eine asphaltierte Straße beim Dorf At-Tuwani in den Hügeln südlich von Hebron. Eine Handvoll unbewaffneter Palästinenser sind da, ein Siedler und, etwas abseits, ein Soldat der israelischen Armee. Der Siedler geht auf einen der Palästinenser zu und stößt ihn mit seinem Sturmgewehr zurück. Dann hebt er die Waffe und schießt dem Mann aus kurzer Distanz in den Unterleib. Der Palästinenser sackt zusammen. Der Siedler und der Soldat verlassen gemeinsam die Szene. Im Hintergrund ist Geschrei zu hören.

Dieser Vorfall hat eine lange Vorgeschichte. Östlich des Dorfes At-Tuwani liegt auf einem Hügel in Sichtweite die jüdische Siedlung Ma'on. 2001 errichteten Siedler unweit von Ma'on den illegalen Außenposten Havat Ma'on – auf Kosten der Bauern von At-Tuwani. „Früher weideten wir dort unser Vieh“, sagt Basil Adra, „heute dürfen wir das Land um den Außenposten nicht mehr betreten.“

Der 27-Jährige ist mit der Aggression der jüdischen Nachbarn aufgewachsen. „Als Kind musste ich mitansehen, wie sie meinen Großvater, meinen Vater und meinen Bruder schlugen“, sagt Adra. Jetzt wurde seine Familie erneut Opfer von Gewalt. Der Mann im Video, der vom Siedler angeschossen wird, ist Adras Cousin. Sie haben den Schwerverletzten in ein Hospital in Hebron gebracht, wo er auf der Intensivstation um sein Leben kämpft. „Es hört nicht auf“, sagt Adra.

Zwar steht dieser Teil der Westbank vollständig unter der Kontrolle der israelischen Sicherheitskräfte, doch Sicherheit gibt es für Palästinenser keine. Weder die Polizei noch die Armee tun irgendetwas, um solche Verbrechen zu verhindern, so Adra: „Das ganze System schützt nur die Siedler, die sich hier niederlassen, Verbrechen begehen und unser Land stehlen.“

Menschenrechtsorganisation: Staat unterstützt Verbrechen der Siedler

Die Siedlergewalt dürfe nicht losgelöst von der staatlichen Gewalt betrachtet werden, sagt Yellin von B'Tselem. Beide ergänzten einander mit dem Ziel, die Palästinenser zu vertreiben. Indem die Siedler bei all ihren Übergriffen und Verbrechen weitgehend straffrei bleiben, fördere und unterstütze der Staat ihr Vorgehen. B'Tselem und zahlreiche andere NGOs hätten in der Vergangenheit immer wieder versucht, Verantwortliche vor Gericht zu stellen und anzuklagen. „Das ist fast nie gelungen“, sagt Yellin, „und passierte es doch einmal, war es die Ausnahme von der Regel.“

Während die Welt auf den Krieg in Gaza blickt, wurden in der Westbank laut B'Tselem seit dem 7. Oktober 151 Familien vertrieben – mehr als tausend Personen. „Das ist die größte Vertreibungswelle im Westjordanland seit 1967“, sagt Yellin. Und Israels Rechte jubelt, etwa in Whatsapp-Gruppen wie „News from the Hills“, wo Siedler die Gewalt feiern und sich gegenseitig ermutigen, immer neue Aktionen gegen Palästinenser zu organisieren.

Autor

Markus Schauta

ist Journalist für deutschsprachige Zeitungen und Magazine mit über zehn Jahren Erfahrung im Nahen Osten. Er hat unter anderem aus Aleppo, Gaza, Bagdad und Mossul berichtet.

Unterstützung erhalten sie vom rechtsextremen Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir. Der spielt die Siedlergewalt herunter und behauptet, es handle sich lediglich um ein paar Jugendliche, die Graffiti auf palästinensische Häuser geschmiert hätten. Die in- und ausländische Kritik am Siedlerterror im besetzten Westjordanland weist er zurück.

„Es ist leicht zu erkennen, woher die Gewalt kommt, und es wäre ein Leichtes, sie zu stoppen“, sagt Yellin. Doch das geschehe nicht, weil es politisch nicht gewollt sei. Stattdessen behauptet Minister Ben-Gvir, jeder wisse, wer im Westjordanland gewalttätig handelt, und beschuldigt damit indirekt die Palästinenser.

Mögliches Einreiseverbot für extremistische israelische Siedler

Anfang Dezember haben die USA ein Einreiseverbot für extremistische israelische Siedler in Aussicht gestellt. Eine Woche später kündigte die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, ähnliche Sanktionen an. B'Tselem begrüßt das als ersten Schritt in die richtige Richtung. Es sei aber wichtig zu verstehen, dass Siedlergewalt nur ein Nebenprodukt der jahrzehntelangen Verstöße Israels gegen das humanitäre Völkerrecht sei, so Yellin: „Die Mehrheit der Gewalt wird von der israelischen Armee ausgeübt.“ Laut palästinensischem Gesundheitsministerium wurden seit dem 7. Oktober rund 280 Palästinenser in der Westbank getötet. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle sind dafür die israelischen Streitkräfte verantwortlich; einige wenige Menschen wurden von Siedlern getötet.

Wir werden in der Sache daher nicht vorankommen, wenn wir uns nur um das Symptom kümmern – die Siedlergewalt –, nicht aber um den Kern des Problems, die staatliche Gewalt, sagt Yellin. Die internationale Gemeinschaft müsse nicht nur die Siedler, sondern auch die israelischen Soldaten und Beamten zur Rechenschaft ziehen: „Das würde die Gewalt sehr rasch beenden.“

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erschienen in Ausgabe 1 / 2024: Krieg ohne Ende?
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