Sie sprechen von einem „möglichen Genozid am palästinensischen Volk“, von „Kriegsverbrechen der israelischen Armee“, von „unseren getöteten Kindern in Gaza“, von „Siedlerkolonialismus“ und einem „Apartheid-System“, das Israel in den palästinensischen Gebieten errichtet habe. Nach dem 7. Oktober stehen arabische Christen mehr denn je auf der Seite der Palästinenserinnen und Palästinenser. Zwar verurteilen sie auch die brutale Gewalt der Hamas, dass es aber überhaupt so weit gekommen ist, habe mit einer 75 Jahre langen Geschichte der Vertreibung, Enteignung und Demütigung des palästinensischen Volkes zu tun.
Ganz anders werden die Vorgänge im Nahen Osten in deutschen Kirchenkreisen gelesen, besonders von denen, die ihre theologische Heimat im jüdisch-christlichen Gespräch haben. Hier hört man Stellungnahmen, die in ihrer Solidarität mit Israel und dem jüdischen Volk nicht deutlicher sein könnten. Zum Beispiel erklärte der Württembergische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl in seinem Kanzelwort, das am 15. Oktober in allen Kirchen seiner Landeskirche verlesen wurde: „Als Christinnen und Christen stehen wir an der Seite Israels und trauern mit den Menschen. Wir treten jeder Form des Antisemitismus entgegen. Antisemitismus ist Sünde. Wer Juden hasst, wendet sich gegen Gott selbst. Die Hamas ist der Täter. Israel ist Opfer. Nichts rechtfertigt dieses Morden.“ Ähnlich Kategorisches und Empathisches zu den Opfern in der Zivilbevölkerung in Gaza, wo bis Ende Dezember bereits mehr als 21.000 Tote gezählt wurden, hört man dagegen nicht.
Palästinensische Christen und Theologen fragen sich, ob die westlichen Kirchen noch in Gemeinschaft mit ihren Geschwistern im Heiligen Land stehen – in Gaza leben noch etwa tausend Christen. Doch auch außerhalb Palästinas werden die Anfragen an die deutschen Kirchen lauter. „Wie kann man nicht fühlen, dass es schrecklich falsch ist, wenn Kinder und Babys zu Tausenden in Gaza sterben?“, fragt die evangelische Theologin Rima Nasrallah in Beirut. Oder dass israelische Politiker wie Verteidigungsminister Yoav Gallant von „menschlichen Tieren“ gesprochen habe, gegen die man kämpfen müsse. „Wie könnt ihr nicht auf der Seite der Opfer sein? Wir können nicht verstehen, dass ihr das alles nicht sehen wollt.“ Natürlich wisse sie um die historische Verantwortung Deutschlands gegenüber dem jüdischen Volk und dass der Vorwurf des Antisemitismus in Deutschland schwer wiege. „Aber ist es deswegen okay, antiarabisch zu sein?“ Sie fürchte, dass die Entwicklungen im Nahen Osten die ökumenische Zusammenarbeit verändern werden.
Verstimmung zwischen deutschen und arabischen Kirchen
Diese Einschätzung teilt man in Deutschland durchaus. Es sei in der Tat eine Verstimmung zwischen deutschen und arabischen Kirchen wahrzunehmen, sagt Ralf Lange-Sonntag von der Evangelischen Mittelostkommission (EMOK), dem Gremium, das in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für Nahostfragen zuständig ist. Viele arabische Kirchen seien irritiert, dass deutsche Kirchenvertreterinnen und -vertreter „deutlich ihre Solidarität mit Israel aussprechen, und sie halten das für einseitig bis falsch“, sagt Lange-Sonntag, der betont, dass er als Interimsvorsitzender der EMOK nicht für das ganze Gremium sprechen könne. Persönlich vermisse er bei den arabischen Kirchen dagegen die nötige Empathie für die Opfer der Hamas-Angriffe. Und er kritisiert, dass „Erkenntnisse der theologischen Bemühungen im christlich-jüdischen Gespräch diesen Kirchen oft suspekt und nicht in ihrer allgemeinen Bedeutsamkeit nachvollziehbar sind“.
Dass Antisemitismus in arabischen Kirchen kein Schwerpunktthema ist, bestätigt Paul Haidostian, der evangelische Vorstand des Mittelöstlichen Kirchenrats. Das hänge vor allem damit zusammen, dass man sich selbst als semitisch verstehe. Allerdings werde sehr wohl „über den großen Unterschied zwischen dem Staat Israel, dem Judentum und dem jüdischen Volk diskutiert“. Auch sei klar, dass die jüdische Religion wie alle anderen Religionen Respekt verdiene, während der Staat Israel, auch wenn er in gewisser Hinsicht demokratisch sei, die Menschenrechte missachte. „Wir wissen, wie schwierig es für deutsche Kirchen ist, die verschiedenen Filter und dicken Linsen abzulegen, welche vom Leiden der Palästinenser ablenken“, sagt Haidostian. Er hoffe dennoch, dass die ökumenischen Beziehungen zu den deutschen Partnern nicht langfristig beeinträchtigt würden.
"Der Westen fühlt sich seinen Werten nicht mehr verpflichtet"
Verschlechtern könnte sich allerdings der Ton in der konkreten Zusammenarbeit. Dann nämlich, wenn es darum geht, gemeinsam Projekte vor Ort zu finanzieren. Denn auch in der Ökumene sind die finanziellen Abhängigkeiten klar: Der Westen gibt, der Orient nimmt. Entsprechend gewichtiger ist das Wort der westlichen Partner. Unter arabischen Partnern machte sich jüngst große Enttäuschung breit, als sie erfuhren, dass eine große kirchliche deutsche Hilfsorganisation ihr Veto gegen einen Aufruf zu einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza eingelegt hatte. „Über all die Jahre hat sich der Westen nicht gescheut, uns zu belehren, was unsere gemeinsamen Werte sind. Doch auf einmal fühlt man sich diesen Werten nicht mehr verpflichtet“, sagt der Vertreter einer arabischen Kirche, der namentlich nicht genannt werden möchte, um die Beziehungen nicht zu gefährden. Auf alle Fälle sei das Vertrauen in die Zusammenarbeit erschüttert.
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