Mit Lachen der Armut begegnen

Sofi Lundin
Justin Ntwali (zweiter von links) mit seiner Clownstruppe. Den 12-jährigen Rambert Bikorimana (vorne) haben sie ausgebildet.
Ruanda
Ruanda ist seit dem Völkermord 1994 wirtschaftlich stark vorangekommen. Justin Ntwali, der im selben Jahr in einem Flüchtlingslager geboren wurde, hat sich hochgearbeitet: Mit fünf Freunden verdient er als Straßen­akrobat seinen Lebensunterhalt und gibt damit Kindern und Jugendlichen eine Perspektive. 

Mit rotem Lippenstift malt er sich die Nase an, mit weißer Farbe zaubert er sich einen Bart. Ein Türfenster hat sich in einen Schminkspiegel verwandelt. Der 28-jährige Justin Ntwali schwingt seinen Hintern zu den Klängen des kenianischen Liedes „Zangalewa dance“. In dem Fensterglas spiegeln sich noch fünf weitere Männer. Mit glänzendem Lidschatten über den Augen und roten Hüten auf dem Kopf tanzen sie in dem kleinen Raum mit fast kahlen Betonwänden, in dem sie sich auf ihren nächsten Auftritt vorbereiten. Wenn die sechs Clowns dann durch die Straßen des Dorfes laufen, in die Menge von vor Lachen kreischender Kinder hinein, schießt Adrenalin durch Justins Adern. „Kinder froh zu machen und auf der Straße aufzutreten ist das Beste, was ich kenne! Für solche Momente lebe ich!“, sagt er.

Hakizimana Aboubakal und Justin Ntwali schminken sich für ihren Auftritt.

Kinder wie auch Erwachsene johlen vor Begeisterung, sobald Justin und seine Freunde ihre Vorstellung beginnen, eine atemberaubende Show mit Akrobatik, Feuer und Tanz. Hier im Dorf Kanembwe, vor den Toren der Stadt Gisenyi im Westen Ruandas, sind die sechs Freunde für ihre artistischen Darbietungen und ihren Einsatz für die Jugend der Stadt bekannt. Die Organisation Unity Circus, die sie gemeinsam leiten, hat inzwischen zahlreiche Kinder zu Straßenkünstlern gemacht.

Justins Mutter kam von der Arbeit nicht mehr zurück

Justin Ntwali ist 1994 in einem Flüchtlingslager in der DR Kongo geboren – im selben Jahr, in dem beim Völkermord in seinem Heimatland mehr als 800.000 Menschen getötet wurden. Große Teile seiner Familie wurden damals ermordet, seine Eltern kämpften sich 1996 in einem vom Krieg zerrissenen Ruanda zurück ins Leben. Als sein Vater 2007 starb, verlor die Familie ihre Existenzgrundlage. 

Salto vor der Ziegenherde – der Unity Circus auf dem Weg zum Auftritt im Dorf Kanembwe.

Die Mutter – sie war nie zur Schule gegangen und arbeitslos – hatte nun die Verantwortung für sechs Kinder. Sie nahm einen Job als Warenträgerin an und trug schwere Lasten zu Fuß über die Grenze in die benachbarte DR Kongo. Ihr Lohn war sehr niedrig, und die Kinder gingen oft hungrig zu Bett. Weil die Mutter das Schulgeld nicht aufbringen konnte, mussten die meisten von Justins Geschwistern die Schule abbrechen. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich als Kind jemals gelächelt habe. Ich war so geschwächt – körperlich und geistig –, dass es mir schwerfiel, den Alltag zu bewältigen“, sagt Justin bei sich daheim in der Stadt Gisenyi.

Autorin

Sofi Lundin

ist freie Journalistin und Fotografin in Uganda.
Die Erinnerungen an seine Kindheit machen ihn traurig. Er werde nie vergessen, wie seine Mutter ihm zum letzten Mal gute Nacht sagte, erzählt er. „Als wir eines Abends zu Bett gingen, meinte sie, dass wir nach dem Völkermord keine Familie mehr hätten, dass wir neue Freunde finden und einander immer liebhaben müssten. Wir beteten zu Gott, bevor wir einschliefen, und am nächsten Morgen brach meine Mutter zur Arbeit auf. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe“, berichtet Justin. Er war gerade 19 Jahre alt, als seine Mutter 2013 verschwand. Tränen rinnen über sein Gesicht. Er blickt zu Boden. „Ich erinnere mich so gut an ihre letzten Worte: ,Mein Kind, ich verspreche dir, dir beim Überleben zu helfen!‘“ Als seine Mutter verschwunden war, nahm er Gelegenheitsjobs als Kohleverkäufer an. „Ich wurde Mutter und Vater für meine Geschwister. Wir hatten nichts, aber unser Zuhause war immer von Liebe erfüllt“, erzählt der 28-Jährige.

Alle Kunststücke haben sich die Akrobaten selbst beigebracht

Die Pyramide steht – Justin Ntwali und seine Freunde haben rund 130 Kinder zu Straßenakrobaten ausgebildet.

Viele Kinder in seiner Heimatstadt teilten Justins Begeisterung für Clownerie und Akrobatik, die in Gisenyi vor dem Völkermord durch einen Akrobaten namens Augustine Serugendo populär geworden waren. Dieser berühmte Artist hatte viele, vor allem Kinder, mit seinem akrobatischen Können beeindruckt und beeinflusst. Justin und seine Freunde begannen mit der Straßenkunst, um ihre Familien zu unterstützen. Die nötigen Fähigkeiten und Kunststücke brachten sie sich selbst bei. Mit dem Geld, das sie verdienten, bezahlten sie Essen und die Schule. 

Justin schaffte es, ins Klassenzimmer zurückzukehren und die High-school abzuschließen. Er und seine Freunde wurden langsam, aber sicher zu bekannten Straßenkünstlern. 2017 gelang ihnen ein kleiner Durchbruch: Nachdem tschechische Zirkusartisten Ruanda besucht und von Justin und seinen Kameraden erfahren hatten, wurden sie nach Tschechien eingeladen, um den Dokumentarfilm „Circus Rwanda“ zu drehen und Vorstellungen zu geben. Justin kehrte anschließend mit neuer Hoffnung nach Hause zurück. „In Europa habe ich 700 Euro verdient und mit dem Geld ein neues Heim für die Familie gebaut. Mir wurde klar, dass ich wirklich Talent habe. Deshalb beschloss ich, mich voll und ganz dem Zirkus und der Akrobatik zu widmen.“

Der Chef des Unity Circus, Nshuti Emmanuel, tritt als Feuerspeier auf.

Die Idee zum „Unity Circus“ wurde nach dem Besuch in der Tschechischen Republik geboren, als die Freunde eines Nachmittags zusammen unter einem Baum saßen. „Wir sind alle in Armut aufgewachsen und träumen davon, etwas für Kinder zu bewirken. Den Unity Circus haben wir mit dem Ziel gegründet, Freude unter Kindern zu verbreiten, Harmonie in der Gesellschaft zu schaffen und Familien aus der Armut zu holen“, sagt Justin. Die Situation für Kinder und Jugendliche sieht er als schwierig an, junge Menschen landeten oft auf dem falschen Weg. „Armut ist ein großes Hindernis. Viele junge Menschen werden spielsüchtig und Mädchen früh schwanger. Mit dem Unity Circus wollen wir ihnen einen guten Start ins Leben ermöglichen“, sagt er.

Justin hat nie herausgefunden, was mit seiner Mutter passiert ist, er vermutet jedoch, dass sie bei der Arbeit in der DR Kongo getötet wurde. Er ist über die Grenze in das Nachbarland gereist, um Antworten zu finden, aber immer noch ist unklar, was geschehen ist. „Ich habe jemanden getroffen, der gesehen hat, wie meine Mutter schweres Gepäck mit Bohnen und Holzkohle über die Grenze getragen hat. Dann verliert sich ihre Spur“, sagt er.

Das Ziel: eine professionelle Zirkusschule aufbauen

Heute konzentriert sich Justin zusammen mit seinen Freunden auf den Aufbau des Unity Circus. Sie betreuen derzeit rund 130 Kinder und Jugendliche, die hier eine Akrobatikausbildung erhalten, und haben ein Zentrum errichtet, in dem die Kinder eine Mahlzeit bekommen können.

Als „welt-sichten“ die Akrobatengruppe rund um Justin in Ruanda besucht, führen sie gerade mit Unterstützung der Organisation „Clowns ohne Grenzen“ ein einwöchiges Trainingscamp für Kinder durch. Ihr großes Ziel: eine professionelle Zirkusschule, in der die Kinder auch zur Schule gehen können. Aber der Weg dorthin ist lang. Bislang haben sie keine festen Sponsoren. Das meiste, was sie hier tun, finanzieren sie mit Geld, das sie bei ihren Auftritten auf der Straße oder bei Veranstaltungen wie privaten Geburtstagsfeiern verdienen. Das Leben von Justin und den anderen hinter dem Unity Circus ist immer noch schwierig, doch aufzutreten gibt ihm Hoffnung und ein Gefühl des Glücks. „Meine Mutter hat immer gesagt, dass wir Freude und Liebe um uns herum verbreiten müssen, und genau das tun wir im Unity Circus“, sagt er.

Aus dem Englischen von Anja Ruf.

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erschienen in Ausgabe 1 / 2023: Im Protest vereint
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