Ángela Herrera denkt pragmatisch. Die junge Frau hat es sich zum Interview auf der Fensterbank im ersten Stock der „Casa de la Paz“ gemütlich gemacht und fragt gleich selbst: „Können Sie Stoffe mit nach Icononzo nehmen, dürfen wir ihr Auto beladen?“ Icononzo heißt die kleine Stadt, in deren Nähe sich das Reintegrationszentrum befindet, aus dem vieles kommt, was Ángela Herrera unter dem Logo „Manifiesta“ verkauft.
Das Modelabel, zu deutsch Manifest, mit dem kleinen Laden in der Casa de la Paz an der 13. Straße von Bogotá ist ein Start-up mit atypischer Geschichte: Hier wird Mode für ein besseres Kolumbien verkauft. Bedruckte T-Shirts, bunte Hemden und Kleider, Jacken und Kimonos, die von ehemaligen Guerilleros und Guerilleras der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) genäht werden. „Für mich ist unsere Mode ein politischer Akt. Wir engagieren uns für den Frieden, für Versöhnung und für die Zukunft unseres Landes“, sagt die 27-jährige Politikwissenschaftlerin. Wie zum Beweis deutet sie auf das Schild, das neben ihr auf der Fensterbank steht: „No + asesinados de líderes sociales“ steht da drauf, „Keine weiteren Morde an sozialen Anführern“.
Das ist typisch für die „Casa de la Paz“, das Haus des Friedens. Hier bieten Initiativen, mehrere kleine Modelabel und Verkaufsstände von Projekten an, was landesweit in Dutzenden von Projekten ehemaliger Guerilla-Kämpferinnen und -kämpfer produziert wird: Bier der Marke La Trocha, Rucksäcke von La Montaña oder eben die Shirts von „Manifiesta“.
Die sind ab März des Jahres immer bekannter geworden in Kolumbien. Dafür ist auch Sofía Petro, die Tochter des neuen Präsidenten Gustavo Petro, mitverantwortlich. „Sie tauchte nach dem Wahlsieg mit unserem T-Shirt auf der Bühne auf, spazierte mit dem Slogan ,Immer Mode – nie Faschistin‘ auf dem Shirt vor den Kameras herum“, freut sich Ángela Herrera und deutet auf die weißen, bedruckten T-Shirts an einem Ständer an der gegenüberliegenden Wand. Daneben hängen Fotos von ehemaligen FARC-Kämpferinnen und -kämpfern beim Zuschneiden der Stoffe, an der Nähmaschine oder beim Zusammenlegen der fertigen Stücke.
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Von den ersten 70 Euro Startkapital wurde Stoff gekauft
Schnell entschieden die beiden Frauen und die Ex-Guerilleros, ein gemeinsames Modelabel zu gründen. Und das ganz ohne Unterstützung von außen: 150.000 Pesos, umgerechnet rund 35 Euro, legten Herrera und ihre Freundin Sara Arias auf den Tisch, die gleiche Summe der Ex-Guerillero Gonzalo und seine Gruppe. Von dem Geld wurde Stoff gekauft und der anschließend auf drei von einer Gewerkschaft gespendeten Nähmaschinen in Icononzo zu Kimonos verarbeitet.
„Das war der Startschuss von Manifiesta“, sagt Ángela Herrera. „Wir in Bogotá sind seitdem für Verkauf und Vertrieb verantwortlich, kümmern uns um Anträge bei staatlichen Behörden, Stoffe und Materialien; Gonzalo und die anderen um die Produktion“, schildert Herrera das Geschäftsmodell. Beide Seiten erhalten fünfzig Prozent der potenziellen Gewinne, so ist es vereinbart.
Von denen ist „Manifiesta“ allerdings noch weit entfernt. Ein Grund dafür ist die Pandemie, ein anderer die miese Infrastruktur rund um Icononzo und die Weigerung der jüngst abgewählten Regierung unter Präsident Iván Duque, das Projekt zu unterstützen, meint Juan Perreira alias Gonzalo Beltrán. Der ehemalige Guerillero ist der Geschäftsführer der Kooperative, die in einer der länglichen, bunt bemalten Baracken in der Reintegrationszone von Icononzo, rund 130 Kilometer südlich von Bogotá, untergebracht ist. Die Baracken stehen auf einem hügeligen, abgelegenen Areal, rund zwanzig Kilometer von der Kleinstadt Icononzo entfernt, und sind nur über eine Schotterpiste zu erreichen. Die kann Gonzalo Beltrán auf seinem Motorrad mittlerweile im Schlaf fahren, denn er ist der einzige motorisierte Genosse und folglich regelmäßig in der Kleinstadt, um Ware für die Kooperative sowie hin und wieder einen Besucher abzuholen.
Mangelnde Unterstützung dämpft die Stimmung
320 FARC-Guerilleros und Guerilleras wurden hier in Icononzo nach den Friedensabkommen von Ende 2016 demobilisiert und versuchen seit 2017 einen Neustart in ein ziviles Leben. Wandbilder und Parolen wie „Das Leben ist das Weben von Träumen“ zeugen vom Optimismus, der anfangs hier herrschte. Inzwischen ist die Stimmung gedämpft, denn die Kooperative kommt nicht so schnell voran, wie es möglich wäre. „Uns fehlt die Unterstützung, zu der sich die Regierung eigentlich verpflichtet hat. Wir brauchen Fortbildung, tun uns schwer, eine eigene Kollektion auf die Beine zu stellen, benötigen Expertise“, sagt der Geschäftsführer Gonzalo und weist den Weg in die Nähstube.
Ein gutes Dutzend Nähmaschinen stehen dort in zwei Reihen, dahinter der große Tisch für die Zuschnitte. An der Wand baumeln die Schnittmuster, gegenüber steht eine Vitrine mit Garnrollen, dahinter das Lager für die Stoffe. Im hinteren Teil der Baracke stehen zwei Schaufensterpuppen zwischen den Schreibtischen von Gonzalo Beltrán und der Designerin Gladys Zapata. Die hat „Manifiesta“ auf eigene Rechnung zunächst für ein paar Wochen angestellt, um den ehemaligen Guerilleros etwas über Schnitte, Entwürfe und Design beizubringen.
Auf Modenschauen erregt „Manifiesta“ Aufmerksamkeit
„Die staatliche Agentur für die Reintegration hat auf unsere Anträge einfach über Jahre nicht reagiert. Was bleibt uns übrig? Wir brauchen eine neue Kollektion, um unsere ersten kleinen Erfolge auch zu bestätigen“, erklärt Gonzalo. Regelmäßig ist er in Bogotá, um auf das Projekt aufmerksam zu machen. Als besonders erfolgreich haben sich dafür Modenschauen erwiesen. Auf vier oder fünf war „Manifiesta“ bisher und jede sorgte für Schlagzeilen in der Presse: erst an der renommierten Anden Universität, dann im Parlament und zuletzt die PAZarela auf der Plaza Bolívar, dem zentralen Platz von Bogotá. „Alles stand unter dem Motto des Friedens, deshalb PAZarela“, sagt der 47-jährige Gonzalo, der rund zwanzig Jahre mit der Waffe bei der FARC für ein anderes Kolumbien gekämpft hat.
Nun organisiert und koordiniert er, steht manchmal mit der Schere am Tisch für die Zuschnitte und äußerst selten auch mal an der Nähmaschine. Da sitzen die 19-jährige María Sánchez, Tochter eines Guerilleros, die Designerin Gladys Zapata und zwei weitere Frauen und sprechen Schnittmuster und Stiche durch, während Luis Enrique Benavides zuschneidet und Luiz Ramírez Maß nimmt und Stoff für den Zuschnitt markiert. Auch die beiden sind Ex-Guerilleros.
Zwischen sechs- und siebentausend Kleidungsstücke hat das Label „Manifiesta“ 2021 verkauft. Ein Achtungserfolg. Allerdings stammen nicht alle aus Icononzo, sondern ein paar Hundert auch aus der Werkstatt von Nicolás Galvis in Soacha. Der 34-Jährige Jungdesigner leitet den Familienbetrieb in der südlich von Bogotá gelegenen Stadt, der Jacken, Blousons und Jacketts herstellt. Sein Bruder wurde im Kampf gegen die FARC getötet; nun ist auch er Teil von „Manifiesta“. Das hat seinen Grund, erklärt Gonzalo: „Wir als Kollektiv ehemaliger Guerilleros wollten nicht nur einen persönlichen Neustart, sondern auch etwas gut machen, uns mit ehemaligen Gegnern und Opfern versöhnen. Nicolás ist dafür ein Beispiel“, so der hagere Mann mit dem dünnen Schnurrbart.
Die Kontakte zwischen beiden Seiten hat Ángela Herrera über eine Stiftung geknüpft, die Opfer des mehr als 50 Jahre währenden Bürgerkriegs aus dem Militär vertritt. Eines heißt David Sebastian Galvis. Als junger Soldat geriet er mit seiner Einheit in einen Hinterhalt der FARC – er und elf seiner Kameraden starben. Der 23-Jährige Galvis hatte 2013 kaum seine Grundausbildung absolviert, als er in eine Zone schwerer Kämpfe geschickt wurde.
Angehörige toter Soldaten fühlen sich im Stich gelassen
Unverantwortlich findet das sein älterer Bruder Nicolás. Er ist nicht gut auf die Militärs zu sprechen. „Wir wurden damals mit unserem Schmerz, unserer Ohnmacht allein gelassen. Heute hilft es mir und meiner Mutter, die andere Seite der Medaille zu sehen, die vermeintlichen Täter kennenzulernen und deren Geschichten zu hören“, erklärt der drahtige Mann am Frühstückstisch in der „Casa de la Paz“. Regelmäßig schaut er am Wochenende im Zentrum vorbei, weil er an einer nahe gelegenen Uni Kurse in Design belegt und in den Pausen den Shop von „Manifiesta“ besucht.
Meist herrscht dann Hochbetrieb in der „Casa de la Paz“, wo Studierende der umliegenden Universitäten für den Wandel in einem polarisierten Land eintreten – es gibt Veranstaltungen, Diskussionen, Filme und Lesungen. Das wirkt sich auch günstig auf „Manifiesta“ aus.
Das Kleiderangebot wird von Monat zu Monat größer
Einige Hürden hat das aufstrebende Label aber noch zu überwinden. Immerhin, „wir haben trotz Pandemie überlebt“, freut sich Ángela Herrera. Das Kleiderangebot wird von Monat zu Monat größer und die Macher von „Manifiesta“ suchen händeringend nach Optionen, wie die neue Ladung Stoffe in das nur rund 150 Kilometer entfernte Reintegrationszentrum kommt. Angesichts der schlechten Infrastruktur und steigender Preise ist das nach wie vor kostspielig.
Auch bei den Stoffen schauen Ángela Herrera und ihre Kollegen auf den Preis und auf Nachhaltigkeit. Meist kaufen sie Stoffe, die in Kolumbiens Textilindustrie nicht mehr verarbeitet werden. „Weil sie für die großen Maschinen zu klein sind, aussortiert und billig verscherbelt werden. Eine Freundin hat die Kontakte“, erklärt Herrera mit einem offenen Lächeln. Somit trägt die Mode von „Manifiesta“ nicht nur zur nationalen Versöhnung, sondern auch zur Kreislaufwirtschaft bei.
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