Abkupfern soll geächtet werden

Sandra Weiss
Die 52-jährige Dominga Cen (im bunten Kleid) lehrt ihre Nachbarin das Weben. Aus dem Stoff aus Sisalfasern stellt sie auf traditionelle Art Taschen her.
Kulturelle Aneignung
Mexikos Kongress hat ein Gesetz über kulturelle Aneignung verabschiedet, das indigenes Kunsthandwerk schützen soll. Das ist kompliziert – nicht nur wegen des Widerstands der Modebranche.

Die Sonne sinkt in Valladolid, einer Kleinstadt auf der südmexikanischen Halbinsel Yucatán, dem Horizont entgegen. Aber für die Weberin Dominga Cen beginnt jetzt der zweite Teil ihres Arbeitstages. Die Hausarbeit hat die 52-jährige Mayafrau hinter sich gebracht, nun beginnt sie die Tätigkeit, mit der sie etwas Geld für die Familie erwirtschaftet. 

Dazu brennt in ihrem Hinterhof ein Lagerfeuer und in einem rußgeschwärzten Topf köcheln ein paar Sisalfasern vor sich hin, gelb eingefärbt mit der Rinde des örtlichen Baums, der hier Palo de campeche heißt. Cen kämmt die Fasern erst mit der Hand, klemmt sie dann zwischen ihre Fußzehe und entwirrt sie geduldig und geschickt. Dann spannt sie die Fasern in einen aus Holz und alten Besenstielen improvisierten Webstuhl und verwebt sie miteinander. Ihr im Rollstuhl sitzender Ehemann schaut aufmerksam zu, wie aus den rauen Fasern langsam eine Tasche wird – eine uralte Technik, die Cen von ihrer Mutter und Großmutter erlernt hat.

Aus der Rinde eines einheimischen Baumes, des Palo de Campeche, gewinnt Domingo Cen Farbstoff für das Färben von Sisalfasern.

Taschenverkauf im Museumsshop

Die Taschen sind robust und umweltfreundlich. Dennoch lassen sie sich schwer verkaufen. „Hier im Dorf benutzen alle Plastiktüten, keiner kauft mehr die alten Taschen“, seufzt die 52-Jährige. „Deshalb ist die Tradition fast in Vergessenheit geraten.“

Domingo Cen färbt Sisalfasern über offenem Feuer in einem Topf.

Cens wichtigster Abnehmer ist das Museum für Textilkunst in Valladolid. Im dortigen Museumsshop wird lokales Kunsthandwerk verkauft – darunter auch die Taschen von Cen, das Stück für umgerechnet zwölf Euro. Nicht viel für die Arbeit, die Cen mit der Herstellung hat. Aber für sie ist es eine wichtige Einnahmequelle, von der sie Kleider und Schulbücher für ihre Kinder finanziert. Neben den traditionellen Taschen fertigt sie auch andere Gegenstände, die zwar bei den Maya keine Tradition haben, bei Touristen aber gut ankommen – etwa Geldbörsen, Platzsets und Topf-Untersetzer.

„Das ist nicht nur eine wichtige Einnahmequelle für die Familien, sondern dadurch erhalten wir altes Wissen und Traditionen“, sagt die Museumsdirektorin Tey Mariana Stiteler. In ihrem liebevoll gestalteten Museum finden sich zahlreiche Fotos und Modelle von alten und heute üblichen Kleidern der umliegenden indigenen Gemeinden. Die meisten sind weiß und mit unterschiedlichen bunten geometrischen oder floralen Mustern bestickt. Auch Spitze findet sich ab und zu. Und diese Muster werden zunehmend abgekupfert – von internationalen Mode- und Textilfirmen, die sich an den bunten Designs der mexikanischen Indigenen bedienen.

Das kunsthandwerkliche Wissen indigener Frauen

verschiedene Urvölker gibt es in Mexiko. Sehr viele von ihnen haben es durch jahrhundertelange Praxis zu wahren Meistern im Kunsthandwerk gebracht. Das Wissen wird vor allem von Müttern an die Töchter weitergegeben. Die Bandbreite ist enorm und reicht von den filigranen, bunten Perlmustern der Huicholes oder Wixariká über Seidenstolas mit den Lochmustern aus Santa Maria del Rio und die geometrischen Muster der Sarape-Umhänge bis hin zu den Huipiles, den traditionellen bunten Blusen der Maya. 

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.
68 Bilder der indigenen Frauen und ihrer Kreationen kursieren heute im Internet weltweit, und es ist ein Leichtes, sich von ihnen „inspirieren“ zu lassen. Viele Modefirmen wurden dabei ertappt, wie sie traditionelle Mayamuster mit modernen Schnitten vermischten – von Carolina Herrera über Zara, Mango, Levi’s, Oysho, Nike, Rhapsody bis hin zu Louis Vuitton. Jüngster Fall ist die chinesische Fast-Fashion-Marke Shein. Diese ging besonders plump vor: 2022 brachte Shein eine Bluse auf den Markt, die nicht nur in Schnitt und Muster an die traditionellen Huipiles der Maya auf Yucatán erinnerte, sondern die komplett von einem bestehenden Modell aus dem Internet abgekupfert war. „Alles ist identisch, die Blumen, die Blätter, die Farben. Nur der Bund hat eine andere Farbe als das Modell Frida”, beschwerte sich das auf Kunsthandwerk spezialisierte Mode-Start-up YucaChulas, das mit lokalen Kunsthandwerkerinnen zusammen 2017 die kurze Bluse kreiert hatte.

Das war der Moment für Mexikos Kulturministerin Alejandra Frausto. Ihr ist die Verteidigung des heimischen Kunsthandwerks ein persönliches Anliegen, Dutzende von Protestbriefen hat sie in den dreieinhalb Jahren ihrer Amtszeit bereits an Modefirmen verschickt, in denen diese aufgefordert wurden, „eine respektvolle Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinschaften innerhalb eines ethischen Rahmens zu entwickeln, der die Identität und die Wirtschaft des Volkes nicht untergräbt und sich stets an einen fairen Handel hält, der indigenen Schöpfern, Unternehmern und Designern die gleichen Chancen bietet.“ Für Frausto geht es dabei vor allem um „die Sichtbarmachung derjenigen, die unsichtbar sind“.

Wo beginnt kulturelle Aneignung?

Das ist verständlich vor dem Hintergrund der brutalen Kolonialisierung, der Mexikos indigene Völker seit dem 16. Jahrhundert unterworfen waren. Juristisch aber ist der Vorwurf der kulturellen Aneignung ein schwieriges Terrain. Mexikos Rechtsordnung schützt bislang – wie fast überall auf der Welt – das geistige Eigentum mittels Patenten und Straftatbeständen wie Plagiat. Das ist bei Kunst und Kunsthandwerk schwierig. Haben sich nicht seit eh und je die Ideen, Stile und Trends über Grenzen hinweg verbreitet und Menschen und Künstler einander inspiriert? Wo endet Inspiration und wo beginnt kulturelle Aneignung?

Verletzung von geschützten Mustern in Mexiko setzt außerdem voraus, dass man die Muster offiziell registriert hat – etwas, was den Indigenen aufgrund kultureller und sprachlicher Barrieren praktisch unmöglich ist. Und wer ist berechtigt, für Schöpfungen, die Frucht eines traditionellen, kollektiven Prozesses sind, aber in die dennoch eine Kunsthandwerkerin ihre persönliche Note einfließen lässt, Rechtsschutz zu beantragen?

All diese heiklen Fragen hat Mexikos Kongress versucht, mit einem Gesetz zu regeln, das im Januar 2022 verabschiedet wurde. Das „Gesetz zum Schutz des kulturellen Erbes der indigenen und afro-mexikanischen Völker und Gemeinschaften“ ist der globalen Debatte um kulturelle Aneignung entsprungen. Es stellt „missbräuchliche Aneignung von kulturellen Elementen ohne Einwilligung der entsprechenden indigenen oder Afro-Gemeinden“ unter Strafe und schreibt ein Genehmigungsverfahren für die Nutzung vor. Es räumt außerdem traditionellen Gemeinschaften ein Klagerecht ein und sieht für Verstöße hohe Geldstrafen vor.

Viele zweideutige Begriffe

„In der Modewelt galt bislang die Regel: Was nicht verboten ist, ist erlaubt“, sagt Alejandra Bonifaz von der nichtstaatlichen Organisation Impact, die sich der Förderung des indigenen Kunsthandwerks verschrieben hat. Bonifaz begrüßt, dass sich der Staat des Problems annimmt. Doch das Gesetz, für das es bis heute keine Ausführungsbestimmungen gibt und das daher noch nicht angewendet wird, ist ihrer Meinung nach nicht konkret genug. „Es gibt darin viele zweideutige Begriffe“, sagt sie. So werde das Recht, gegen Modefirmen zu klagen oder mit ihnen Verträge abzuschließen, den Gemeinschaften übertragen, ohne genau festzulegen, wer sich denn eine Gemeinschaft nennen dürfe. „Das Kunsthandwerk liegt fast ausschließlich in der Hand von Frauen“, sagt Bonifaz. „Aber die politische Repräsentation in indigenen Gemeinden wird fast nur von Männern wahrgenommen. Dürfen dann also die Männer über das Kunsthandwerk der Frauen entscheiden?“ fragt sie. 

Dann gebe es indigene Gemeinschaften, die in unterschiedlichen Bundesstaaten lebten, aber eine gemeinsame Kultur teilten. Auch da stelle sich das Problem, wer berechtigt sei, mit Modefirmen Verträge zu schließen. Ist die Rechtslage unübersichtlich, könnte das Firmen abschrecken und sie eher zum Verzicht auf eine Kollektion bewegen, was der Idee der finanziellen Teilhabe für indigene Gruppen nicht dienlich ist.

Mehr als 60 Prozent der indigenen Kunsthandwerker in Mexiko sind Impact zufolge informell tätig. Wird für sie nun eine Registrierung zur Pflicht, bringt das nicht nur Rechte mit sich, sondern auch Steuerpflichten. Dadurch werden Bonifaz zufolge Gruppen bevorzugt, die spanisch sprechen, mit der westlichen Welt vertraut sind und Geld und Zeit für aufwendige Behördengänge haben – auf Kosten der ohnehin schon benachteiligten Ethnien oder der Frauen. 

Souvenirs made in China

Eine Lücke lässt das Gesetz auch bei unlauterem Wettbewerb durch Produktpiraterie. Schon heute stammt ein Großteil der auf mexikanischen Touristenmärkten verkauften Souvenirs aus China. Die Gegenstände und Textilien sind zwar auf den ersten Blick minderwertig und nicht mit einem Original zu vergleichen, aber unschlagbar billig. Bei den Urlaubern finden sie reißenden Absatz. Verkauft werden sie sehr oft von Indigenen, die dafür ihren traditionellen Würdenträgern, den Caciques, Geld bezahlen – und oft auch der Polizei, die dafür beide Augen zudrückt. Diese Korruption und Schwäche des mexikanischen Rechtsstaates werden mit dem Gesetz nicht gelöst.

Impact geht deshalb einen anderen Weg. Die Organisation setzt weniger auf juristischen Zwang als auf Aufklärung – sowohl der Konsumenten als auch der Modemarken und der indigenen Gemeinden. Impact gehe es darum, die Kunsthandwerkerinnen so zu ermächtigen, dass sie selbst in der Lage sind, die für sich beste Vereinbarung mit den Modelabeln zu treffen. 

Momentan allerdings sind nur wenige Gemeinden schon so weit. „Wir stellen unsere Expertise zur Verfügung und dienen als Brücke zwischen indigenen Kunsthandwerkerinnen und Designern“, erzählt Bonifaz. Im vorigen Jahr konnten so zehn Kooperationen eingefädelt werden. Impact übersetzt – nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell. „Es kommt so zu einem gleichberechtigten Austausch und einem gemeinsamen Schaffensprozess“, sagt Bonifaz. „Die Designer nehmen ihr professionelles Ego ein wenig zurück, und der Status der indigenen Kunsthandwerkerinnen wird aufgewertet.“ So erreiche man das eigentliche Ziel: Kooperation auf Augenhöhe und eine faire Aufteilung des Gewinns und des Ruhms. Impact arbeitet seit Jahrzehnten schon so – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt und bis vor kurzem mit begrenzter Wirkung. 

Umdenken in der Modewelt

Das Gesetz und vielleicht noch mehr die von Aktivistinnen und Influencern losgetretenen Kampagnen in sozialen Netzwerken, auf denen Designer für Ideenklau abgestraft werden, haben in der Modewelt nun ein Umdenken bewirkt. Zahlreiche mexikanische und manche ausländische Marken – vor allem aus den USA – arbeiten inzwischen mit indigenen Kunsthandwerkerinnen zusammen und verkünden das auch auf ihren Websites. Nicht bei allen geht es um eine grundlegend andere Geschäftspraxis, manchmal dienen ein, zwei Vorzeigeprojekte auch nur dem Greenwashing. 

Es wird daher nötig bleiben, genau hinzuschauen. Bonifaz sieht aber mit Genugtuung ein immer anspruchsvolleres Konsumverhalten. „Verbraucher haben große Macht“, sagt sie. „Und wenn auf der anderen Seite aufgeklärte, selbstbewusste Kunsthandwerkerinnen hinzukommen, wird es für die Modelabels immer schwieriger, sich dem doppelten Druck zu entziehen.“ Kampagnen in den sozialen Medien oder ein böser Brief von Mexikos Kulturministerin schädigen nicht nur den Ruf der großen Luxusmarken. Auch Shein hat klein beigegeben und die umstrittene Bluse aus dem Sortiment genommen.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2022: Handgemacht und maßgeschneidert
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