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Geboren und aufgewachsen bin ich in Nigeria. Noch nie habe ich länger als ein halbes Jahr am Stück außerhalb der Grenzen dieses Landes verbracht. Meine geplagte Heimat ist der einzige Ort, an dem ich mich zu Hause fühle – in meinen Erzählungen, aber auch in meinen Albträumen. Jedes Mal, wenn ich nach einem Schreibaufenthalt oder einem Literaturfestival in Europa wieder in Lagos lande, spüre ich, wie die tropische Hitze mein Herz erweicht, aber auch meinen Ärger über die Versäumnisse meines Heimatlandes entzündet. Und so wie der Sohn sich beklagt, die Mutter seines Freundes sei besser als die eigene, stelle ich schon am Flughafen die Erfolge Europas den Versäumnissen Afrikas gegenüber. Wie könnte man den Unterschied auch nicht bemerken, wenn man vom geordneten Frankfurter Flughafen startet und im undurchschaubaren Durcheinander in Lagos landet? So seufzen wir Nigerianer gemeinsam, wenn wir an unserem heruntergekommenen Flughafen in der Schlange stehen und darauf warten, dass es endlich, endlich weitergeht.
Von weitem ist es leicht, die Mutter des besten Freundes zu bewundern. Sie macht alles richtig, was meine afrikanische Heimat anscheinend falsch macht. Ja, Europa hat seine Vorurteile, das wissen wir alle, und der Kontinent wird von nationalistischem Populismus und materialistischem Konsumzwang geplagt. Aber welches Land hat nicht seine Probleme, von Brasilien über Indien bis hin zu den USA? Und für die übermüdeten nigerianischen Passagiere, die nach ihrer Ankunft am Flughafen von Lagos schwitzen, zählen in diesem Moment eben nur Dinge wie die funktionierenden Klimaanlagen und glitzernden Rolltreppen ausländischer Flughäfen.
Wir Nigerianer kennen die Schwarz-und-Weiß-Vergleiche zwischen Afrika und Europa meist seit unserer Kindheit. Wir sind mit europäischer Popmusik und europäischen Arthouse-Filmen aufgewachsen, sogar die Schulbücher prestigeträchtiger Privatschulen kamen häufig aus Großbritannien, den USA oder auch aus Indien. Wir beziehen Nachrichten, Luxusautos und Flugzeuge aus Europa ebenso wie Flugbenzin und sogar ausgebildete Piloten. Die größten Exporteure von nigerianischem Öl und Gas sind Shell, Agip und Total neben anderen ausländischen Firmen. Die bestbezahlten Nigerianer stehen schon immer im Dienst ausländischer Interessen, ohne dass sie dazu ins Ausland reisen müssten. Diese Besonderheit unseres Gesellschaftsvertrages wird noch immer von unseren Bürgern und Politikern akzeptiert, denn sie spiegelt die Realität wider, dass schwache Regierungen von Big Business dominiert werden.
Ein schwarzer Tag für Europa
Der Angriff Russlands auf die Ukraine wurde in den Medien als schwarzer Tag für Europa und ein schwarzer Fleck für die Menschheit beschrieben. Nun hören wir von europäischen Wortführern, dass am Himmel über ihren Volkswirtschaften dunkle Wolken aufziehen und ihre Anstrengungen behindern könnten, Russland zu isolieren. Denn Moskaus Kriegskasse ist teilweise mit genau den Millionen von Euro gefüllt, die das Land von europäischen Unternehmen erhält. Angesichts des Wohlstands und der demokratischen Traditionen Deutschlands als größter Wirtschaftsmacht der EU kann man sich nur wundern, wenn der Minister für Wirtschaft und Energie zugibt, ein Boykott von russischem Erdgas könnte in seinem Land zu Massenarbeitslosigkeit und Armut führen. Wie konnte sich Deutschland, wie konnten sich andere vorausschauende und gewissenhafte europäische Staaten in eine derart schwache Position der Abhängigkeit begeben?
Autor
A. Igoni Barrett
ist Schriftsteller und lebt in Lagos, Nigeria. Sein Roman „Blackass“ erscheint im August im Verlag InterKontinental auf Deutsch.Das postkoloniale Dilemma
Frantz Fanon hat unser wütendes Grummeln am heruntergewirtschafteten Flughafen Lagos in seinem 1961 erschienenen Buch „Die Verdammten dieser Erde“ vorweggenommen: „Ganze Jahrhunderte hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und seinen Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen ‚geistigen Abenteuers‘ fast die ganze Menschheit erstickt. Schaut, wie es heute zwischen atomarer Zerstörung und spirituellem Zerfall hin und her schwankt.“ Harsche Worte, doch im folgenden Satz schwächt er das Ganze ein wenig ab: „Und doch lässt sich nicht bestreiten, dass Europas Bemühungen zumindest zu Hause von Erfolg gekrönt waren.“
Genau das ist der Kern des postkolonialen Dilemmas. Die Nachfahren der Kolonisierten empören sich über die früheren Verfehlungen der Kolonisatoren, aber sie streben nach deren heutigen Erfolgen. Sein oder Nichtsein, das ist die Frage für Nigerianer heute. Wollen wir sein wie Europa, wie Amerika, wie Asien? Oder wollen wir etwas ganz Neues sein und dabei deren Erfolgen ebenbürtig? Wenn wir, die globalen Bürger der früheren Kolonien, doch nur mit den billigen Vergleichen zwischen Afrika und Europa aufhören und stattdessen unsere Schwarz-weiß-Sichtweise ablegen könnten. Dann würde uns klar: Für die schwarzen Nationen gibt es nur eine Bestimmung – und die liegt in demselben Erfolg, in denselben Errungenschaften, die Menschen egal welcher Hautfarbe überall auf der Welt erstreben.
„Schwarz“ und „Weiß“ als metaphysische Begriffe
Das führt uns schließlich zu der Frage: Was ist Schwarz und was ist Weiß? Europas jüngster Krieg folgt in gewissem Maß dem Muster europäischer Invasionen in afrikanische Staaten. Sehen wir also Russland als „Weiß“ und die Ukraine als „Schwarz“? Oder tauschen wir die Farben wie die Figuren auf einem Schachbrett und sagen, „Schwarz“ ist böse und „Weiß“ ist gut? Die meisten Russen und Ukrainer haben helle Haut, aber die Kategorien „Schwarz“ und „Weiß“ sind in Zeiten wie diesen eher metaphysische Begriffe als gültige Darstellungen unserer heterogenen Lebensstile.
Um den Punkt noch einmal klar zu machen: Ein durchschnittlicher Nigerianer kann zum Frühstück deutsche Wurst und Brot essen und getrockneten Kabeljau aus Norwegen in Egusi-Suppe zu Mittag – und doch wird er beim Abendessen ohne einen Anflug von Ironie sagen, dass das Essen der Weißen ungenießbar ist. Der renommierte Autor aus Kenia wiederum, der Bekannte in Berlin-Charlottenburg besucht, wird dort von den Nachbarn für einen Flüchtling ohne Papiere gehalten, während der deutsche Matrose, der in Mombasa ausgeht, von den Einheimischen für einen reichen Auswanderer gehalten wird. Schwarz kann arm oder reich sein, kultiviert oder ignorant, Sklaventreiber oder Freiheitskämpfer – und Weiß ebenso. Demnach ist der Vergleich von Lagos („schlecht“) und Frankfurt („gut“) eine unzulässige Vereinfachung, von der sowohl Afrikaner als auch Europäer ablassen sollten.
In Wahrheit hat die Menschheit eine gemeinsame Bestimmung. Diese ist auf einem Planeten, der von globaler Erwärmung bedroht ist, weder schwarz noch weiß, sondern grün. Nur gemeinsam können wir die Wunden der Geschichte heilen, ohne unsere Fehler zu wiederholen. Das trifft auf Deutschland zu, das seine Abhängigkeit von russischem Gas korrigieren muss, ebenso wie auf Lagos, das seinen beschämenden Flughafen in Ordnung bringen sollte.
Aus dem Englischen von Barbara Erbe.
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