Fußball statt Schulbank

Zum Thema
Chris Brunskill/Fantasista/Getty Images
Er hat geschafft, wovon viele afrikanische Jungs träumen: Der Senegalese Sadio Mané (rechts) feiert 2019 mit dem FC Liverpool den Sieg im Champions-League-Finale.
Der Traum von der Profikarriere
Für junge Leute in Afrika sind die Möglichkeiten begrenzt, auf der sozialen Leiter aufzusteigen. Viele jugendlichen Sportler setzen deshalb ganz auf Fußball und hoffen auf eine Karriere in Europa. Das ist riskant, schreibt unser Autor aus Nigeria. 

Read the English version here

Die Spätnachmittagssonne sinkt langsam, und in Sacré-Coeur, einem Viertel im Südwesten der senegalesischen Metropole Dakar, weht eine angenehme Brise. Die Stimmung ist entspannt. Dutzende von Jugendlichen haben sich auf einem staubigen Platz versammelt. Ihre Leibchen teilen sie in zwei Mannschaften; darunter tragen sie Trikots verschiedener europäischer Fußballvereine. Die jungen Sportler kämpfen leidenschaftlich um den Ball. In ihrer Mitte steht ein Mann in den Dreißigern mit einer Trillerpfeife. Gelegentlich pfeift er, um ein Foul anzuzeigen, ein paar warnende Worte auszusprechen oder taktische Anweisungen zu geben. Dann geht das Spiel weiter. 

Nach etwa anderthalb Stunden ist das Training zu Ende. Die Fußballer setzen sich, um sich ein wenig auszuruhen und sich umzuziehen. Abdu, Sarr und Camara diskutieren miteinander – einer von ihnen hat während des Trainings versäumt, einen Pass zu spielen. Ein Match gegen einen anderen Verein steht bevor, sie besprechen ihre Teamarbeit. Es ist ein ganz normaler Trainingstag in einem Amateur-Jugendfußballverein, von denen es in und um Dakar etliche gibt.

In Westafrika findet man solche Amateurclubs überall. Die aufstrebenden Fußballer dieser Vereine gehören ohne Zweifel zu den ehrgeizigsten und tatkräftigsten Jugendlichen der Welt. Angetrieben von ihrem Traum, Fußballstar zu werden, investieren sie viele Stunden ihrer Woche in das Training und die Teilnahme an Turnieren. Sie hoffen, eines Tages zu einem europäischen Verein wechseln zu können.

Mitglieder der Mathare Youth Sports Association bei einem Fußballspiel auf einem Sportplatz in Nairobi (Kenia). Das Programm wird von der Fifa gefördert.

Die Möglichkeiten, inmitten einer in der wachsenden jungen Bevölkerung sozial aufzusteigen, sind beschränkt. Das und der Erfolg afrikanischer Stars in Europa hat Jugendliche hervorgebracht, deren Zukunftsvisionen sich vor allem um eine Karriere im Profifußball und die Migration in ein europäisches Land drehen. Aus den Worten von Abdu, 16 Jahre alt, wird deutlich, dass Armut und der Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten hinter dem ehrgeizigen Streben der Jugendlichen stehen. Seine Mutter kommt aus bescheidenen Verhältnissen und betreibt einen Kleinhandel in der Nachbarschaft. Damit bringt sie ihre Familie durch. Auf die Frage, warum er mit dem Fußballspielen angefangen habe, antwortet Abdu: „Ich möchte Erfolg haben, und Geld. Meine Familie ist arm und ich möchte es zu etwas bringen, um meiner Mutter helfen zu können. Sie hat mich wirklich unterstützt und wünscht sich, dass ich erfolgreich bin. Sie glaubt, dass das Leben für die Familie besser wird, wenn ich es schaffe.“

Quelle der Hoffnung

Die Bevölkerung Afrikas ist in den vergangenen Jahren jährlich um etwa 2,5 Prozent gewachsen, rund sechzig Prozent der 1,2 Milliarden Menschen sind unter 25 Jahre alt. Das Bevölkerungswachstum ging jedoch nicht mit einem entsprechenden Wachstum der Wirtschaft und von sinnvollen Beschäftigungsmöglichkeiten einher. In diesem alles andere als optimalen Wirtschaftsklima ist Fußball eine Quelle der Hoffnung: Er lässt die vielen talentierten jungen Männer in der sich rasch urbanisierenden westafrikanischen Landschaft an eine bessere Zukunft glauben. Weil es an alternativen Möglichkeiten mangelt, ist der Fußball für sie ein Anker: Um ihn herum organisieren sie ihr tägliches Leben.

Während vielen jungen Leuten der Zugang zu einer aussichtsreichen Arbeit verwehrt bleibt, haben es einige talentierte Fußballer im Ausland zu Ruhm und großem Reichtum gebracht. Das verleitet viele andere zu der Annahme, ihnen könnte ein ähnlicher Durchbruch gelingen. Den Einfluss afrikanischer Stars in Europa sieht man an Camara, 15 Jahre alt. Der Erfolg seiner senegalesischen Landsleute in Europa inspiriert seine eigenen Träume: „Ich möchte Profi werden und berühmt sein wie die anderen im Ausland.“

Autor

Ikechukwu Ejekwumadu

stammt aus Nigeria und hat kürzlich seine Doktorarbeit am Institut für Sportwissenschaft der Universität Tübingen abgeschlossen.
Afrikanische Fußballer in Europa wie der Senegalese Sadio Mané (FC Liverpool) und der Nigerianer Victor Osimhen (SSC Neapel) oder vor ihnen Didier Drogba von der Elfenbeinküste (zuletzt FC Chelsea) und Samuel Eto’o aus Kamerun (zuletzt Qatar SC) lassen viele talentierte westafrikanische Jugendliche an die Möglichkeit glauben, durch Fußballmigration sozial aufsteigen zu können. Wie die aufstrebenden Jugendfußballer stammen auch einige dieser Superstars aus bescheidenen Verhältnissen, in denen das tägliche Leben ein Kampf gegen die Widrigkeiten war, die sich vor ihnen auftürmten. Und sie haben den Durchbruch zu Wohlstand und Weltruhm geschafft. Vom Erfolg dieser Spieler lassen die Jugendlichen sich mehr inspirieren als von jedem anderen möglichen Weg nach oben.

Das Glücksspiel einer Profikarriere

In vielen westafrikanischen Gesellschaften folgt die Vorbereitung auf das Erwachsenendasein in der Regel einem von zwei Pfaden. Der erste davon ist der Schulbesuch, der einen für eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst oder in der Privatwirtschaft qualifizieren soll, vor allem in den städtischen Gebieten. An einige Jahre Grundschule kann sich aber auch – das ist der zweite Weg – eine Lehre anschließen zum Beispiel zum Tischler oder Automechaniker. Viele der aufstrebenden Jugendfußballer schlagen bei ihrer Zukunftsplanung jedoch keine dieser zwei Routen ein, da auf beiden die Möglichkeiten für das von ihnen angestrebte gute Leben rar gesät sind. Denn selbst junge Leute mit höherer Bildung finden nur schwer eine angemessene Beschäftigung mit existenzsicherndem Einkommen, und für Jugendliche aus armen Verhältnissen ist eine Ausbildung, die ihr Leben ändern würde, entweder kaum verfügbar oder weckt nur wenig Hoffnung.

Viele der jungen Fußballer haben keinen Zugang zu Bildung oder sind nicht davon überzeugt, dass sie wirklich eine bessere Zukunft verspricht. Daher haben sie sich dafür entschieden, ihre Zeit voll in den Sport zu investieren und auf das Glücksspiel einer Profikarriere und die Hoffnung zu setzen, in eine europäische Fußballliga aufzusteigen. Ihre Familien unterstützen sie darin. Der 15-jährige Ibrahim etwa hat die Schule geschmissen, um sich mit Unterstützung seines Vaters, eines Handwerkers, und seiner Mutter, einer Hausfrau, voll und ganz dem Training in seinem Verein zu verschreiben. Er erzählt: „Ich kam mit der Schule nicht zurecht, und meine Eltern waren nicht sehr darauf erpicht, dass ich sie weiter besuche. Ich habe die Schule nach der vierten Klasse abgebrochen und spiele jetzt nur noch Fußball.“

„Fußball ist alles, was ich habe“

Ähnlich ergeht es dem 16-jährigen Sarr, der nie eine reguläre Schule besucht hat, sondern in einer örtlichen Koranschule unterrichtet wird. „Ich möchte Profispieler werden und mein ganzes Leben dem Fußball widmen“, sagt er. „Das ist das Einzige, was ich im Moment mache, ich habe keinen anderen Job. Fußball ist alles, was ich habe.“

Ungeachtet dessen, dass Tausende Jugendliche ihre Zeit in die Entwicklung ihres Talents und ihrer fußballerischen Fähigkeiten investieren, bieten lokale Fußballligen nur sehr wenig Möglichkeiten für eine Profikarriere. Außerdem ist ein Vertrag mit einem heimischen Verein nicht sehr lukrativ. Den Jugendlichen ist klar, dass ihre Träume von Fußballruhm und wirtschaftlicher Emanzipation höchstens ganz weit hinter der Küste von Dakar irgendwo in Europa wahr werden können. Der 16-jährige Salifou äußert den Wunsch, nach Europa zu gehen: „Mein ganzer Ehrgeiz ist es, nach Frankreich zu ziehen und meine Träume zu verwirklichen. Ich möchte dorthin, weil es im senegalesischen Fußball einfach zu schwierig ist wegen der großen Anzahl von Spielern.“

Viele hoffen, dass sie von einem lokalen Fußball-Scout entdeckt werden oder genügend Geld aufbringen können, um Agenten zu bezahlen, die junge Spieler nach Europa vermitteln. Bei diesen Agenten handelt es sich in der Regel um Einheimische mit Kontakten zu ausländischen Scouts oder Organisatoren von Jugendturnieren im Ausland. Manchmal sind es aber auch nur betrügerische Hochstapler. In vielen Fällen haben die Agenten eher Verbindungen zu obskuren Ligen in Asien als zu den begehrten europäischen Teams. Sie lassen sich dafür bezahlen, einen Verein zu finden oder ein Probeturnier zu vermitteln, außerdem müssen Kosten unter anderem für die Visabearbeitung und für Reisetickets abgedeckt werden. Der Familie kommt dabei eine entscheidende Rolle zu, denn die Mittel für die Bezahlung solcher Agenten aufzubringen ist schwer. Manche Familien verkaufen zu diesem Zweck wertvollen Besitz, sogar Land. Für andere ist der erforderliche Betrag unerschwinglich, sie können nur hoffen, dass sie Glück haben und jemand die Kosten für sie übernimmt. Der 16-jährige Camara gehört zu denen, die auf einen solchen Glücksfall hoffen: „Ich hatte eine Einladung nach Italien, aber ich konnte sie nicht annehmen, weil mir die Mittel fehlten. Wir brauchten 800.000 CFA-Franc (etwa 1220 Euro) für die Reise, aber das konnten wir uns nicht leisten.“

Der Sport verhilft oft nicht zu einer Existenzgrundlage

Wer seine ganze Zeit und Hoffnung in den Fußball steckt, kann sich leicht in Fallstricken verfangen – das ist eigentlich offensichtlich, allerdings nicht für die aufstrebenden Jugendfußballer. Ungeachtet dessen, dass vor ihnen nur wenige die luftigen Höhen erklommen haben, auf die sie hoffen, sind die meisten voller Optimismus, dass das Glück ihnen gewogen sein wird. Einige ziehen ein Scheitern nicht einmal in Erwägung. Der 16-jährige Konate hat die Schule nach der ersten Klasse abgebrochen, weil seine Eltern nicht in der Lage waren, für seine Ausbildung aufzukommen. Er hängt an seinem Traum, dass der Fußball ihm die Chance bietet, die er ansonsten nicht hat. Unbeirrt sagt er: „Fußball ist das Einzige, was ich mache. Ich denke selten über die Möglichkeit nach, dass meine Karriere scheitern könnte.“

Trotz ihres Optimismus und ihrer harten Arbeit wird sich der Traum von einer Profikarriere im Fußball oder einer Auswanderung nach Europa für die meisten Athleten nie verwirklichen lassen. Selbst eine Reise ins Ausland führt möglicherweise nicht zu einem Vertragsangebot, vor allem dann nicht, wenn solche Reisen zu Testspielen mit einem Kurzzeitvisum unternommen werden und der Sportler wieder nach Hause zurückkehren muss, wenn das abläuft. Die Zeit, die viele der jungen Männer darauf verwenden, gute Fußballer zu werden, verhilft ihnen deshalb vielleicht nicht zu einer Existenzgrundlage. Etwas zu erlernen, mit dem sie in der lokalen Wirtschaft ihren Lebensunterhalt verdienen könnten, wäre möglicherweise die sinnvollere Investition. Die meisten Athleten werden als Erwachsene ihr Leben irgendwie in ihren Heimatländern bestreiten müssen – ohne formale Schulbildung oder Berufsausbildung, die ihnen bei der Suche nach alternativen Einkommensmöglichkeiten hätten helfen können, auch wenn diese nicht sehr lohnend sind. Eine solche Situation bringt die Jugendlichen in eine prekäre Lage, deren Auswirkungen sie vielleicht ein Leben lang spüren werden.

Als die Sonne im Westen untergeht, bindet Abdu, erschöpft für den Rest des Tages, die Schnürsenkel seiner Fußballschuhe zusammen und hängt sie sich um den Hals. Er wechselt ein paar nette Worte mit Sarr und Camara, während er sich auf den Heimweg macht. Die Dunkelheit nimmt die Straßen allmählich in Besitz. Morgen wird die Sonne wieder über Dakar aufgehen, soviel ist gewiss. Doch was die Zukunft für seine Träume von einer Fußballkarriere bereithält, kann Abdu nicht mit Sicherheit sagen – auch nicht, ob er es überhaupt eines Tages auf die grünen Felder Europas schaffen wird.

Aus dem Englischen von Anja Ruf.

Neuen Kommentar hinzufügen

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
CAPTCHA
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Skateboard aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
erschienen in Ausgabe 6 / 2022: Afrika schaut auf Europa
Dies ist keine Paywall.
Aber Geld brauchen wir schon:
Unseren Journalismus, der vernachlässigte Themen und Sichtweisen aus dem globalen Süden aufgreift, gibt es nicht für lau. Wir brauchen dafür Ihre Unterstützung – schon 3 Euro im Monat helfen!
Ja, ich unterstütze die Arbeit von welt-sichten mit einem freiwilligen Beitrag.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!