Seit Beginn der Corona-Pandemie wird leidenschaftlich über die Begrenzung der persönlichen Freiheit zum Schutz der Allgemeinheit diskutiert. In asiatischen Ländern wird nicht gegen das Impfen demonstriert, wohl aber werden die Proteste in der westlichen Welt aufmerksam registriert, berichtet der Jurist Seree Nonthasoot. Asiatische Werte? Davon hält der Thailänder nichts.
Ist die Freiheit der Person die Mutter aller Menschenrechte?
Ja, ich denke schon, aber ich würde lieber vom Fundament sprechen. Denn wenn man von der Mutter spricht, dann muss man auch einen Vater finden. Freiheit ist grundlegend für menschliche Würde.
Was verstehen Sie unter Freiheit?
Ich habe zum einen das klassische Verständnis von Freiheit gelehrt bekommen, das US-Präsident Franklin D. Roosevelt 1941 proklamiert hat, darunter die Freiheit von Not und die Freiheit von Furcht. Zum anderen müssen wir das positive Verständnis von Freiheit berücksichtigen: Es geht nicht nur darum, wovon wir frei sein sollen, sondern auch um die Voraussetzungen, die es uns ermöglichen, frei zu sein. Dazu zählt eine Politik, die Armut reduziert, denn nur wer nicht arm ist, kann seine Freiheit genießen.
In Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Gibt es einen Konflikt zwischen diesen drei Rechten?
Ich denke, man muss sie in Balance halten. Das Recht auf Leben ist ohne Zweifel am wichtigsten. Andererseits spielt es im Alltag der meisten Menschen nicht die größte Rolle, denn es ist nicht in allen Weltregionen gleichermaßen gefährdet. In Ländern wie Afghanistan oder dem Jemen ist die Lage völlig anders als in Deutschland oder in meiner Heimat Thailand. Hier reden wir nicht so viel über Gefahren für unser Leben, sondern mehr über Dinge wie politische Beteiligung oder einen Impftermin. Die drei grundlegenden Rechte aus Artikel 3 haben also unterschiedlich große Bedeutung je nach Kontext. Vom Recht auf Leben hängt alles ab, aber im wirklichen Leben bekommen andere Rechte Priorität.
In der Corona-Bekämpfung wird der Freiheit der Person jetzt oft eine kollektive Verantwortung gegenübergestellt. Wie lässt sich das rechtfertigen?
Die Idee der Menschenrechte enthält von Beginn an die Möglichkeit, die andere Seite der Medaille mitzudenken: Verantwortung und Pflichten. Individuelle Rechte sind von vornherein durch die Rechte anderer beschränkt. Wer von seinen individuellen Rechten spricht, muss berücksichtigen, dass auch andere Individuen Rechte haben. Ich betone das, um klar zu machen, dass sich auch mögliche Beschränkungen mit individuellen Rechten rechtfertigen lassen. Die Rechte der Person lassen sich nur im Plural denken. Es kann ein öffentliches Interesse geben, die individuellen Rechte aller zu beschränken. In vielen Ländern gibt es Leute, die sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen wollen. Die Rechte dieser Leute müssen ernst genommen und beachtet werden. Es gibt aber das allgemeine Interesse, Herdenimmunität zu erreichen und die Pandemie zu überwinden – und das kann eine Impfpflicht und damit die Beschränkung individueller Freiheit rechtfertigen.
Wie können dabei Verhältnismäßigkeit und Legitimität gewahrt werden?
Dafür sind vor allem Transparenz und die Beteiligung der Bevölkerung notwendig. Jeder muss die Möglichkeit haben, seine Bedenken zu äußern und damit gehört zu werden, etwa wenn jemand religiöse Einwände oder Sorgen um seine Gesundheit hat. Es gehört zur freiheitlichen Demokratie, sich gegen eine Impfpflicht äußern und dagegen demonstrieren zu können. Zudem muss die Beschränkung der Freiheit durch eine Impfpflicht zeitlich begrenzt sein. Am Anfang hieß es, eine zweifache Impfung schütze dauerhaft; so lasse sich Herdenimmunität erreichen. Dann hat sich herausgestellt: Das ist nicht der Fall, es sind noch mehr Impfungen nötig. Das ist ein Problem. Andererseits müssen die Gegner das öffentliche Interesse an einer hohen Impfquote berücksichtigen. In anderen Ländern blickt man teilweise mit Unverständnis auf die Proteste in Deutschland. Hier in Thailand etwa, wo rund ein Viertel der Bevölkerung gar keinen Zugang zu Impfstoffen hat, ist die Diskussion völlig anders.
Wer hat hier die Begründungspflicht: diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, oder die Regierung, die individuelle Freiheiten beschränkt und kollektive Verantwortung fordert?
Die Regierung hat die Pflicht, die Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Sie muss zur Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit beitragen, etwa indem sie für Vorbeugung und Behandlung sorgt. Und sie muss prüfen, wie groß die Gefahr ist, die etwa von einem Virus ausgeht. Das ist der Ausgangspunkt, von dem aus eine Regierung Schritte zur Eindämmung der Gefahr unternimmt. Auf der anderen Seite stehen die Einwände von Personen, die ihre Rechte bedroht sehen. Eine Regierung darf also nicht als erstes ihr schärfstes Schwert einsetzen und eine gesetzliche Impfpflicht beschließen. Sie muss prüfen, ob es mildere Mittel gibt, um das Ziel einer höheren Impfquote zu erreichen, Anreize etwa.
Herrscht in der westlichen Welt ein überdehntes Verständnis von individueller Freiheit, das eigentlich schon Egoismus ist?
Ich respektiere ein starkes Verständnis von individueller Freiheit. Und wie gesagt: Widerspruch und Protest gehören zum Wesen der Demokratie. Wer andererseits Gesetze verletzt, der muss auch die Konsequenzen tragen.
Aber herrscht in anderen Ländern etwa in Asien oder auch im globalen Süden nicht ein stärkeres Bewusstsein für kollektive Verantwortung? In Japan gibt es keine Proteste gegen die Impfung.
Das stimmt, und wahrscheinlich würde sich das auch bei einer Impfpflicht nicht ändern. Das ist zu einem guten Teil kulturell begründet. In Asien ist es weniger üblich, schon bei Meinungsverschiedenheiten auf die Straße zu gehen. Das heißt aber nicht, dass die Leute individuelle Rechte weniger wichtig finden als kollektive Verantwortung. Sie sind nur im Zweifel eher bereit, ihre Rechte dem öffentlichen Interesse unterzuordnen – was sich ja ebenso in der Sprache der Menschenrechte begründen lässt. Gleichzeitig wird natürlich auch in Asien registriert, dass in anderen Ländern gegen das Impfen protestiert wird. Und viele beginnen sich zu fragen: Warum protestieren die? Können wir uns eigentlich frei für oder gegen das Impfen entscheiden? Könnten wir auch dagegen protestieren? In Thailand demonstrieren die Leute jeden Tag gegen alles Mögliche, vor allem gegen die politische Lage.
In Deutschland wurde im Kampf gegen Corona von Beginn an Solidarität gefordert. Wer keine Maske tragen wollte oder sich mit mehr Menschen als erlaubt getroffen hat, galt schnell als „unsolidarisch“. Ist das die richtige Kategorie in diesem Zusammenhang?
Der Begriff Solidarität wird ja unterschiedlich verwendet. Auf internationaler Ebene wird damit etwa die Hilfe reicher Länder für ärmere Länder begründet. Es kann aber auch einfach ein Appell sein, in einer Gemeinschaft an einem Strang zu ziehen. So war das ja am Anfang der Pandemie, als man noch nicht genau wusste, wie gefährlich das Virus ist, und Regierungen die Bevölkerung zur Zusammenarbeit aufforderten. Später wurde dann etwa das Tragen einer Maske zur gesetzlichen Pflicht.
An die Solidarität zu appellieren, moralisiert das Problem. Wenn ich ein Gesetz missachte und erwischt werde, muss ich dafür büßen und die Sache ist erledigt. Wer aber einmal als unsolidarisch gilt, kommt da nicht so einfach wieder raus.
Ja, es ist ein Mittel, jemanden zu einem erwünschten Verhalten zu bringen. Gesetze zu erlassen, ist ein anderes Mittel. Aufklärung, Information und Überzeugung sind wieder andere Mittel.
Müsste kollektive Verantwortung in der Pandemie nicht global gedacht und unter anderem viel mehr für eine gerechte Verteilung von Impfstoffen getan werden?
Ja, aber leider ist die Welt in viele Staaten fragmentiert, und der Umgang mit der Pandemie zeigt, dass es kein Verständnis von globaler kollektiver Verantwortung gibt. Viele reiche Länder des Westens denken nur an sich selbst, wenn es um das Impfen und um Zusammenarbeit geht. Die Menschenrechte verpflichten Staaten als erstes gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung. Aber die Pandemie zeigt, dass das angesichts globaler Probleme zu kurz greift. Wenn Staaten im globalen Süden aus eigener Kraft die Pandemie nicht wirksam bekämpfen können, weil sie keinen Zugang zu Impfstoffen haben, dann haben reichere Staaten eine menschenrechtliche Pflicht, sie zu unterstützen. Das gleiche gilt für andere globale Aufgaben wie die Bewältigung von Flucht und Migration. Das steckt ja nicht zuletzt im UN-Nachhaltigkeitsziel Nummer 17, das zu internationaler Zusammenarbeit aufruft. Aber das findet nur unzureichend statt.
Gibt es neben der Verantwortung, manchmal für das Kollektiv individuelle Rechte zurückzustellen, denn auch Rechte eigens für Kollektive?
Diese Idee gewinnt an Zuspruch, etwa mit Blick auf indigene Völker oder Frauen und Kinder und neuerdings auch alte Menschen. Meine Meinung ist: Individuelle Rechte müssen stets beachtet werden. Häufig passiert es, dass kollektive Rechte angeführt werden, um individuelle Rechte zu beschränken. Ein Beispiel sind Religionsgemeinschaften, die auf ihr Recht auf kollektive Identität pochen und damit Widerspruch aus ihren eigenen Reihen mundtot machen. Meiner Ansicht nach dürfen kollektive Rechte die Rechte des Individuums nicht relativieren. Im Gegenteil: Kollektive Rechte müssen den Zweck haben, individuelle Rechte zu stärken.
Womit sich der Kreis schließt: Die Freiheit der Person ist das Fundament aller anderen Menschenrechte.
Ja, das ist auch meine Überzeugung.
Ist das unter Fachleuten für Menschenrechte in Thailand und anderen Ländern Ostasiens Konsens? Es gab ja mal die Debatte über „asiatische Werte“, die von vermeintlich universellen Menschenrechten abweichen.
Ich kann nicht generell für Ostasien sprechen, aber in Thailand, und ich würde sagen in ganz Südostasien, bemühen sich die Regierungen, die Menschenrechtsstandards anzuheben. Es gibt jedoch eine Kluft zwischen diesen Standards und der tatsächlichen Situation. Und diese Kluft wurde früher mit sogenannten asiatischen Werten erklärt oder damit, die Kultur dieser Länder sei mit individuellen Freiheitsrechten unvereinbar. Dank des zunehmend freien Zugangs zu Informationen und der Globalisierung wird das heute nicht mehr so behauptet. Die Leute stellen jetzt Fragen und verlangen plausible Gründe, wenn Regierungen ihre Rechte einschränken und behaupten, dies geschehe im Namen eines höheren Gutes.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
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