Das Leben auf den Straßen von São Paulo hat sich seit Beginn der Covid-Pandemie drastisch verändert. Das liegt nicht nur an der Allgegenwart von Gesundheitschecks und medizinischen Masken. Es liegt auch daran, dass in der größten Stadt Lateinamerikas enorm viele Kinder und Jugendliche unterwegs sind. Längst nicht alle von ihnen spielen oder sind auf dem Weg zur Schule, wie man denken könnte. Einige betteln an Kreuzungen zwischen den Autos und halten Süßigkeiten feil. Andere leben mit ihrer Familie, die sich keine Wohnung mehr leisten kann, in Zelten und unter Plastikplanen auf dem Bürgersteig. Es ist kaum noch möglich, vors Haus zu treten, ohne einem Kind zu begegnen, das ein Pappschild mit der Aufschrift „Hunger“ hochhält und damit direkt und ungeschminkt die Not der ärmsten Kinder und Jugendlichen des Landes zum Ausdruck bringt.
„Die Menschenrechte der brasilianischen Kinder auf Bildung, Nahrung, Würde und Sicherheit sind während der Pandemie völlig außer Acht geraten“, meint der Anwalt Ariel de Castro Alves, Mitglied der Menschenrechtskommission des Bundesstaates São Paulo. Die Kinder hätten lange Zeit keinen Präsenzunterricht mehr gehabt und litten deshalb heute stärker als früher unter Gewalt in der Familie, sexueller Ausbeutung, Obdachlosigkeit, Unfällen, Kinderarbeit, Kriminalität und auch Hunger. „Ohne das Schul-essen werden viele gar nicht richtig satt – vor allem jetzt, bei der schlechten Wirtschaftslage.“
Im Jahr 2020 ist an den Vor- und Grundschulen Brasiliens der Präsenzunterricht an 178 Tagen ausgefallen, das ist dreimal so lange wie im Durchschnitt der reichsten Länder. Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegen, dass die brasilianische Regierung durch ihre Tatenlosigkeit angesichts der Pandemie die Zukunft einer ganzen Generation in Gefahr gebracht hat.
Kinder durchleben traumatische Situationen
Die Geografielehrerin Viviane Vieira aus São Paulo berichtet, dass Kinder traumatische Situationen durchlebt, Kontakte und Perspektiven verloren haben. „Ich habe beobachtet, wie einige meiner elf- oder zwölfjährigen Schüler Süßigkeiten auf der Straße verkauften, und ich weiß, dass einige Familien in bittere Not geraten sind.“ Selbst als die Schule wieder auf war, hätten im Winter viele Kinder einfach deshalb nicht zum Unterricht kommen können, weil sie keine warme Kleidung hatten.
Knapp 3000 Kilometer entfernt, auf dem Land, zeigt sich ein ähnliches Bild. Als in der Gemeinde Codó im Bundesstaat Maranhão die Schulen schlossen, gingen die dreizehn- und vierzehnjährigen Jungen, die eigentlich ihren Abschluss machen sollten, wieder auf die Felder, erzählt Francilene Rodrigues da Silva, Vorsitzende der Bürgervereinigung von Canto do Coxo und Lehrerin an der örtlichen Schule. „Viele sind auch mit arbeitssuchenden Erwachsenen in andere Bundesstaaten gereist, denn Maranhão gehört zu den ärmsten Bundesstaaten des Landes.“
Zwar haben die Fortschritte bei der Covid-19-Impfung in Brasilien dazu geführt, dass inzwischen deutlich weniger Menschen an Covid-19 erkranken oder sterben. Doch viele Kinder leiden nach wie vor unter der Armut, die die Pandemie mit sich gebracht hat. Davon ist das gesamte Land betroffen, von den großen bis zu den kleinen Städten, von den urbanen bis zu den ländlichen, den wohlhabenden zu den ärmsten Regionen.
Vielerorts gibt es keinen Online-Unterricht
Auch im März 2022 haben etliche Schulen in der Region von Francilene Rodrigues da Silva wegen wieder steigender Fallzahlen den Präsenzunterricht noch nicht wieder aufgenommen. Ihre Schüler haben nach wie vor nur Fernunterricht. Da es aber an technischer Ausstattung und Zugang zum Internet fehlt, bleiben viele Mädchen und Jungen weiterhin vom Unterricht abgeschnitten – und damit auch von den Hilfen, die das Netzwerk der Schulen bieten könnte. „In ländlichen Gebieten gibt es keinen Online-Unterricht. Viele abgelegene Gemeinden haben weder WLAN noch Mobilfunkempfang“, erklärt die Gemeindevorsteherin.
Selbst in Maranhãos Hauptstadt São Luís erreicht der Fernunterricht nicht alle. Dies gilt besonders für Stadtviertel außerhalb des Zentrums wie Passo do Lumiar, wo die Ladenbesitzerin Francisca Andreia Furtado Silva mit ihrem Mann und ihrem zehnjährigen Sohn lebt. Der Junge hat in den letzten beiden Jahren keine Schule mehr betreten. „Der Kontakt zwischen der Lehrerin und der Klasse findet ausschließlich über WhatsApp statt. Sie schickt die Aufgaben, und mein Junge schickt ihr die Lösung“, sagt sie. „Als die Pandemie ausbrach, konnte er bereits lesen und schreiben, er kann also die Hausaufgaben bearbeiten, aber viele Kinder hier im Viertel haben damit große Schwierigkeiten. Selbst Zwölfjährige und sogar noch Ältere können kaum lesen und schreiben.“
Zwischen 2019 und 2021 ist die Zahl der sechs- und siebenjährigen Kinder, welche nicht lesen und schreiben gelernt haben, um zwei Drittel gestiegen. Die größten Schwierigkeiten haben dunkelhäutige Kinder und solche, die in armen Familien leben. Das hat eine Studie zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Lese- und Schreibfähigkeit der Kinder ergeben, die von der nichtstaatlichen Organisation Todos pela Educação (Alle für die Bildung) erstellt wurde.
Fast ein ganzes Schuljahr verpasst
Selbst im Bundesstaat São Paulo, einem der ersten des Landes, die zum Präsenzunterricht zurückkehrten, leiden die Kinder noch unter den Nachwirkungen der schulfreien Zeit. „Ich habe drei Töchter, vier, sieben und neun Jahre alt. Aber ich besitze nur ein Mobiltelefon. Wir mussten es reihum gehen lassen, damit alle ein wenig von ihrem Unterricht mitbekommen konnten. Meine älteste Tochter hat fast ein ganzes Schuljahr verpasst“, sagt Daniela Albuquerque, die als Kassiererin in einem Restaurant arbeitet.
Solche Fälle belegen die gravierende soziale Ungleichheit Brasiliens, meint Flávio Debique, Technischer Manager für Kinderschutz bei Plan International Brasilien: „In den Privatschulen konnten sich die Schüler schneller an die Situation anpassen, weil sie dort über die entsprechende Ausstattung und Internet verfügen. Kinder in öffentlichen Schulen und in ländlichen Gebieten waren stärker betroffen. Die Lehrer haben zwar Hausaufgaben geschickt, aber wir wissen, dass viele Schüler so nicht erreicht werden konnten.“
Die Schule konkurriert mit dem Betteln und der Kinderarbeit
Mangel an Motivation in Verbindung mit dem Verlust des direkten Kontaktes zur Schule führen letztlich dazu, dass viele Kinder komplett aus dem Schulsystem herausfallen. Ihre Probleme verschärfen sich dadurch weiter. Während der Pandemie stieg die Zahl der Schulabbrüche in Brasilien sogar in den Phasen, in denen wieder Präsenzpflicht herrschte. Laut einer repräsentativen Studie der Getúlio-Vargas-Stiftung kletterte sie bei Kindern zwischen fünf und neun Jahren von 1,41 Prozent im Jahr 2019 auf 5,51 Prozent im Jahr 2020. Das entspricht fast einer Vervierfachung und wirft das Land auf den Stand von 2006 zurück.
„Wir wissen aus Erfahrung, dass Kinder oder Jugendliche, die der Schule den Rücken kehren, nur selten wiederkommen“, sagt Debique. „Die Schule konkurriert mit dem Betteln und der Kinderarbeit, die den Kindern unmittelbar, wenn auch in sehr bescheidenem Maß, Geld einbringen.“
Autorin
Sarah Fernandes
ist Journalistin und Geografin in Brasilien. Sie berichtet über Menschenrechte und entwicklungspolitische Themen in Lateinamerika und Asien.All das hat dazu geführt, dass die Ernährungssicherheit in Brasilien zurückgegangen ist. In dem Land, dem die Vereinten Nationen auf ihrer Welthungerkarte ab 2014 eine gute Ernährungslage bescheinigten, nehmen seit 2021 die Probleme wieder drastisch zu: Fast die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung, nämlich 116,8 Millionen Menschen, haben Schwierigkeiten, täglich genug zu essen zu bekommen, und 19,1 Millionen Menschen sind von Hunger betroffen, so die nationale Erhebung zur Ernährungsunsicherheit im Kontext der COVID-19-Pandemie in Brasilien.
„Mama, bleib bei mir, du arbeitest zu viel"
Auch hier trifft es besonders die Kinder, etwa den vierjährigen Sohn der Krankenschwester Camila Freires. Um in São Paulo über die Runden zu kommen, hat die alleinerziehende Mutter, die sich mit zwei Jobs über Wasser hält, die Zahl ihrer Arbeitsstunden erhöht. Dadurch ist sie weniger zu Hause und muss die Betreuung ihres Sohns Verwandten und Freunden überlassen. „‚Mama, bleib bei mir, du arbeitest zu viel‘, sagt er immer. Dann versuche ich ihm zu erklären, dass ich keine andere Wahl habe, ich muss ja irgendwie die Rechnungen bezahlen.“
Ähnlich ergeht es Daniela Albuquerque, die als Mutter von drei Mädchen während der Pandemie die meiste Zeit arbeitslos war und auf Lebensmittelspenden von Behörden und vor allem von sozialen Organisationen, Unternehmen und hilfsbereiten Menschen angewiesen war. „Die Lage ist sehr schwierig. Ich habe angefangen, als Putzfrau zu arbeiten, um das Geld für die Miete zusammenzubekommen und Obst und Gemüse für meine Töchter zu kaufen. Es hat an allen Ecken und Enden gefehlt, es war ein ständiger Kampf.“
Als in São Paulo im April 2021 wieder die Lokale öffneten, fand Albuquerque einige Monate später eine neue Stelle in einem Luxusrestaurant. An Arbeitstagen ist sie länger als 12 Stunden außer Haus, dann kümmert sich ihre 14-jährigen Nichte um ihre Töchter. „Sie kocht für sie, macht sie morgens zurecht und setzt sie in den Schulbus“, sagt Daniela.
Die Hausarbeit ist den Mädchen zugefallen
Es gibt keine offiziellen Daten über derlei Kinderarbeit im Haushalt während der Pandemie, aber Kinderschutzorganisationen wissen von vielen Fällen wie dem von Danielas Nichte. Meist sind es Mädchen, die unbezahlte Hausarbeit in der Familie leisten oder sich gegen Bezahlung bei anderen Leuten verdingen. „Angesichts der sozialen Isolation, der geschlossenen Schulen und der Notwendigkeit, dass die Erwachsenen außer Haus Geld verdienen, ist die Hausarbeit den Mädchen zugefallen“, erklärt Debique von der Organisation Plan International. „Wegen der zunehmenden Armut und der mangelnden staatlichen Sozialpolitik nimmt die Kinderarbeit zu.“
Anders als Mädchen arbeiten Jungen vor allem außer Haus; meist verkaufen sie Süßigkeiten auf der Straße, jobben in Autowaschanlagen oder im Bergbau oder verkaufen Drogen. Eine Untersuchung des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) in São Paulo hat ergeben, dass zwischen April und Juli 2020 die Kinderarbeit um 26 Prozent zugenommen hat.
Kinder, die arbeiten müssen, werden besonders häufig Opfer von Gewalt innerhalb und außerhalb des Hauses. Besonders schlimm sind sexuelle Übergriffe gegen Kinder und Jugendliche. „Wir haben keine offiziellen Daten für die Zeit der Pandemie. Aber wir wissen, dass sich mindestens 70 Prozent solcher Fälle im häuslichen Umfeld ereignen. Und in der Zeit der Isolation verbringen die Kinder viel mehr Zeit zu Hause mit den Tätern und können keine Außenstehenden um Hilfe bitten“, sagt Itamar Gonçalves, Koordinator der politischen Arbeit von Childhood Brasil, einer Organisation, die sich für die Vorbeugung gegen sexuellen Missbrauch einsetzt. Die Schule sei in diesem Zusammenhang besonders wichtig, weil sie zu den Einrichtungen gehört, die am häufigsten Fälle von Gewalt melden. „Viele Kinder vertrauen sich Lehrern oder anderem Schulpersonal an, weil sie sich ihnen gegenüber sicher fühlen. Das geht nicht mehr, wenn die Schulen geschlossen sind.“
Ein staatliches Programm zur Gewaltprävention ist nötig
Die Lösung dieser Probleme ist alles andere als einfach. Vor allem müssen die verschiedenen Gruppen und Institutionen an einem Strang ziehen. „Bundesstaaten und Kommunen müssen den Kindern Anlaufstellen und Schutz bieten“, sagt Gonçalves. Diesen Schutz garantiert ihnen zwar das brasilianische Recht. „Aber wir stehen jetzt vor der großen Herausforderung, diesen Anspruch in politisches Handeln umzusetzen und ein staatliches Programm zur Gewaltprävention zu entwickeln.“
Flávio Debique von Plan International stimmt dem zu. „Wir brauchen Daten, um die Probleme zu analysieren, und wir müssen uns um die Kinder und Jugendlichen kümmern, die aus dem Schulsystem herausgefallen sind.“ Immerhin herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass es gemeinsamer Anstrengungen der Gesellschaft, der Behörden, der Gesundheitseinrichtungen und der Schulen bedarf, wenn man nicht riskieren will, eine ganze Generation zu verlieren.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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