Kein Freiheitsrecht im Sozialismus

Lucy Nicholson/REUTERS
Ein Polizist in Hongkong geht 2019 rigoros gegen eine Demonstration für die Uiguren in Xinjiang vor. China duldet auch in der Sonderverwaltungszone keine Proteste mehr.
China
Jedes Land muss die Menschenrechte nach seinen Bedingungen umsetzen, und in China haben soziale Rechte Vorrang – so die offizielle Linie in Peking. Tatsächlich will die Kommunistische Partei aber manche Rechte gar nicht befolgen und den inter­­­na­tionalen Menschenrechtsschutz schwächen.

Die Berichterstattung über China ist durchzogen von Meldungen über Menschenrechtsverletzungen, insbesondere in Hongkong und der Provinz Xinjiang. Offizielle Stellen in China weisen die Kritik zurück als Lügen, um China zu diffamieren. Chinas Umgang mit Menschenrechten werde schlicht missverstanden und insbesondere westliche Demokratien seien bestrebt, Chinas Reputation zu schädigen, indem sie Fake News verbreiteten.

Der Parteistaat kontert mit der eigenen Menschenrechtsbilanz, insbesondere im Hinblick auf die erfolgreiche Armutsbekämpfung. Auf EU-Sanktionen gegen Personen aus China, denen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang vorgeworfen werden, folgen gezielte Gegensanktionen (beispielsweise in Form einer Einreiseverweigerung gegen den Europapolitiker Reinhard Bütikofer von den Grünen). Der Verweis auf staatliche Souveränität, das Prinzip der Nichteinmischung und ein spezifisch chinesisches Menschenrechtsverständnis dienen als rhetorische Säulen, um Kritik abzulenken. 

Die offizielle Menschenrechtstheorie Chinas operiert unter den Bedingungen des Sozialismus mit chinesischer Prägung. Auf diese Weise soll das Konzept der Menschenrechte „sinisiert“ werden. Nach offizieller Lesart und nach der chinesischen Verfassung befindet sich China in der Anfangsphase des Sozialismus. Diese „Bedingung“ bestimmt die nach chinesischer Lesart „wichtigsten Menschenrechte“: das Recht auf Existenz und das Recht auf Entwicklung. Von diesen beiden Kernrechten hänge die Verwirklichung aller anderen Menschenrechte ab.

Chinas Menschenrechtsansatz

Dieser Ansatz ist im ersten chinesischen Menschenrechts-Weißbuch von 1991 festgehalten. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 sowie die zwei UN-Menschenrechtspakte von 1966 dienten hier als Referenzrahmen, welcher objektive und universelle Standards festschreibt, um Chinas offiziellen Menschenrechtsansatz darzulegen und zu rechtfertigen. Das Prinzip der Universalität von Menschenrechten wird zwar anerkannt, Menschenrechte müssten aber sogenannten „nationalen Bedingungen“ (guoqing) – historischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen – unterliegen. 

Die offizielle Rhetorik von der schrittweisen Ausweitung des Menschenrechtsschutzes mag pragmatisch erscheinen – oder schlicht realistischer als das Versprechen eines vollumfänglichen Menschenrechtsschutzes in naher Zukunft. Dennoch ist der Ansatz bei genauerer Betrachtung hochproblematisch.

Eine Wanderarbeiterin sammelt 2017 Material aus abgerissenen Gebäuden am Stadtrand von Beijing. Chinas Regierung will sozialen Rechten Vorrang geben, gewährleistet aber auch die nicht für alle.

Nach Ende der Kulturrevolution (1966−1976) und mit der Reform- und Öffnungspolitik stieg in China eine neue Generation progressiver und liberaler Wissenschaftler auf, die ein neues Rechtssystem erschaffen wollten und Menschenrechte neu betrachteten. Junge Menschen strömten an die Universitäten, dies ermöglichte die Ausbildung von Juristen, Anwälten und Richtern. Der Erlass von Gesetzen führte zu einem stärkeren Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung. Es war möglich, Defizite des sich ausbildenden Rechtssystems vorsichtig zu kritisieren und sich für die Aufnahme bürgerlicher und politischer Rechte in Chinas nationales Recht einzusetzen. Zum Beispiel hat die Volksrepublik den UN-Zivilpakt über politische und bürgerliche Rechte 1998 unterzeichnet. Das beflügelte Wissenschaftler, sich für Rechtsreformen stark zu machen, um den Pakt möglichst schnell auch zu ratifizieren. 

Den UN-Zivilpakt hat China bis heute nicht ratifiziert

Damals bestand Hoffnung, dass der Parteistaat das tun würde. Dennoch gab es immer gewisse Grenzen, die nicht übertreten werden durften. So durften die Gründe für Menschenrechtsverletzungen nicht in der Partei beziehungsweise dem politischen System gesucht werden. Trotz aller Bemühungen hat China den Zivilpakt bis heute nicht ratifiziert, und unter Präsident Xi Jinping (seit 2013) scheint dieses Ziel inzwischen unerreichbar. Chinesische Stellungnahmen legen zudem nahe, dass der Parteistaat nie die Absicht hatte, den Pakt voll zu erfüllen – insbesondere nicht Menschenrechtsnormen, welche dem Staat gewisse Schranken auferlegen.

Die Weißbücher und Aktionspläne zu Menschenrechten, die der Staatsrat regelmäßig veröffentlicht, sollen dem Ausland Chinas Strategie näherbringen. Zumeist beschränken sich diese Dokumente darauf, auf Rechtsreformen und sozioökonomische Ziele zu verweisen, um den Ansatz eines graduellen Menschenrechtsschutzes zu untermauern. Ob das den Schutz der Menschenrechte insgesamt verbessert, wird nicht diskutiert. 

Doch China ist deutlich aktiver geworden, um diese „sinisierte“ Menschenrechtskonzeption international salonfähig zu machen. Im Dezember 2017 lud Peking Expertinnen und Experten aus Entwicklungsländern zu einem Menschenrechtsforum (So-uth-South Human Rights Forum) ein, um über eine gemeinsame Menschenrechtsstrategie zu beraten. Dort wurde die Beijing Declaration angenommen, welche das Konzept der Menschenrechte mit chinesischer Prägung detailliert verankert, um es zu legitimieren und zu globalisieren. 

Glück definiert als materielles Wohlergehen

Anlässlich des jährlichen Menschenrechtstags verkündete Zhang Jun, Chinas ständiger UN-Vertreter, im Dezember 2021, der Menschenrechtsschutz habe für die chinesischen Bürger ein „besseres Niveau“ erreicht. Er begründete das mit Chinas Erfolgen in der Armutsbekämpfung. Dieses Ziel genießt nach offiziellem Verständnis Vorrang, da der Parteistaat einen „volkszentrierten Ansatz“ verfolgt und den chinesischen Bürgern so ein „glückliches Leben“ ermöglicht. „Glück“, welches hier als das „höchste Menschenrecht“ bezeichnet wird, soll also über das materielle Wohlergehen erreicht werden. 

Ungern hingegen thematisiert die Regierung die Kosten und Menschenrechtsverletzungen, die das Wirtschaftswachstum überhaupt ermöglichen – wie unrechtmäßige Enteignungen oder die sozialen Ungleichheiten zwischen Städtern und vom Land Stammenden in Folge des sogenannten Haushaltsregistrierungssystems (Hukou). Nach seinem Besuch in China im August 2016 erkannte Philip Alston, damaliger UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, zwar Chinas Erfolge bei der Armutsbekämpfung an. Er kritisierte jedoch, dass China die meisten der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nicht übernommen habe; Mechanismen für die Rechenschaftspflicht fehlten zudem oder seien unwirksam. 

UN-Überprüfungsmechanismen sind dem Parteistaat ein Dorn im Auge. Bereits im Jahr 1988, als die Volksrepublik das UN-Übereinkommen gegen Folter ratifizierte, reichte sie einen Vorbehalt gegenüber Artikel 20 ein, der den zuständigen UN-Ausschuss ermächtigt, Informationen über systematische Folter in einem Vertragsstaat zu untersuchen. Der letzte Besuch des UN-Sonderberichterstatters über Folter fand vor 17 Jahren statt; die Empfehlungen des UN-Ausschusses gegen Folter setzt Peking nur mangelhaft um. 

Abehnung universeller Werte

Im UN-Menschenrechtsrat ist China bestrebt, „weichere“ Mechanismen zu etablieren, und hat bereits erfolgreich entsprechende Resolutionen eingebracht. Sie betonen Souveränität, Dialog und Kooperation statt der Überprüfung von Menschenrechtsverletzungen. Im Rahmen der letzten Allgemeinen Periodischen Überprüfung Chinas durch den UN-Menschenrechtsrat vor vier Jahren lehnte Peking alle Empfehlungen ab, den Vereinten Nationen (UN) oder Medien Zugang zu Xinjiang zu gewähren. Auch Empfehlungen, die Zusammenarbeit mit dem UN-Menschenrechtsrat zu stärken und Besuche zuzulassen, hat die Regierung abgelehnt. 

Unter Xi Jinping verschärft sich die Ablehnung universeller Werte. Das parteiinterne „Dokument Nr. 9“, das 2013 an die Öffentlichkeit gelangte, wertet bereits das Eintreten für „universelle Werte“ als Versuch, die Führung der KPCh zu untergraben. An die Stelle universeller Menschenrechte sollen „Sozialistische Grundwerte“ treten, welche passgenau für das chinesische System seien. Die KPCh behält die Interpretationshoheit über diese Grundwerte, die sich ausdrücklich von „westlichen“ Werten abgrenzen sollen. Der Raum für kritischere und pluralistischere Diskurse ist unter Xi Jinping auf ein Minimum geschrumpft. Kritik an der KPCh, dem Parteistaat oder dem Rechtssystem kann drastische Folgen haben. Das haben unter anderem Universitätsprofessoren zu spüren bekommen, die nach Kritik an der Regierung entlassen, inhaftiert und zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden.

Ebenso hat Peking den Ton gegenüber dem Ausland verschärft. Auch hier reagiert der Parteistaat empfindlich auf Kritik. Bei seinem Besuch in Deutschland im Herbst 2020 signalisierte Chinas Außenminister Wang Yi zwar Gesprächsbereitschaft, allerdings nur, sofern die Themen keine Einmischung in innere Angelegenheiten darstellten. Chinas Weigerung, über konkrete Sachverhalte zu sprechen, zeigte sich im Rahmen des Deutsch-Chinesischen Menschenrechtsdialogs im selben Jahr. 

Kritische Äußerungen zur Menschenrechtslage werden nicht toleriert

Im UN-Menschenrechtsrat im September 2021 kritisierte der damalige Außenminister Heiko Maas die „Internierung ethnischer Minderheiten wie der Uiguren und die Missachtung der bürgerlichen Freiheitsrechte in Hongkong“ und forderte Peking auf, den UN Zugang zu gewähren. Die Antwort der chinesischen Delegation folgte prompt: Der deutsche Außenminister habe den UN-Menschenrechtsrat für haltlose Anschuldigungen missbraucht, die auf Fehlinformationen beruhten; er habe so die Konfrontation provoziert. Ein Besuch der Hohen Kommissarin für Menschenrechte in Xinjiang müsse „freundlich“ sein. Eine „Untersuchung“ hingegen käme einer Schuldvermutung gleich und wäre somit zum Scheitern verurteilt. 

China scheint zunehmend eine Strategie der „Null Toleranz“ gegenüber auch nur ansatzweise kritischen Äußerungen zur Menschenrechtslage zu fahren. Umso erstaunlicher scheint es, dass die Volksrepublik im Oktober 2020 erneut in den UN-Menschenrechtsrat gewählt wurde – es zeigt allerdings auch, dass China erfolgreich Verbündete wie Indien, Pakistan, Venezuela oder Saudi-Arabien mobilisiert hat.

Chinas Zugeständnisse hinsichtlich universeller Menschenrechte unterliegen seit jeher Vorbehalten. Die Lage unter Präsident Xi Jinping ist also insgesamt kein krasser und plötzlicher Rückschritt, sondern steht für eine Entwicklung von einem relativ liberalen Klima hin zu zunehmender Repression und Verunsicherung. Die Möglichkeiten, Chinas Menschenrechtspolitik zu beeinflussen, waren schon immer begrenzt, doch China weist inzwischen jede Kritik als Lügen und Diffamierungen zurück. Versuche, auf bilateraler Ebene oder in multilateralen Foren Einfluss zu nehmen, zeigen kaum bis gar keinen Erfolg. 

Es ist deshalb wichtig, Menschenrechte weiterhin hochzuhalten, indem beispielsweise EU-Mitgliedsstaaten eine kohärente und solide Strategie gegenüber Chinas Menschenrechtsposition entwickeln. In bi- wie auch multilateralen Foren muss China an die eigenen Menschenrechtsverpflichtungen erinnert und Menschenrechtsverletzungen müssen offen angesprochen werden. In Handels- und Investitionsbeziehungen muss die EU auf vertraglichen Zugeständnissen in Bezug auf Menschenrechte beharren und für Verstöße klare Konsequenzen formulieren und diese auch umsetzen. Wirtschaftliche Interessen dürfen Menschenrechte nicht aushebeln. UN-Organe wie der Menschenrechtsrat müssen reformiert werden, um zu verhindern, dass das Menschenrechtssystem weiter untergraben wird.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2022: Streiten für die Menschenrechte
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