"Wir haben Angst"

REUTERS/Mohammad Ismail
Echter Frieden ist nicht in Sicht: Mitte März erreichen Polizisten den Ort eines Bombenanschlags in der afghanischen Hauptstadt Kabul.
Afghanistan
Nach 20 Jahren wollen die USA und die Nato ihre Truppen aus Afghanistan abziehen. Viele Afghaninnen und Afghanen fürchten sich nun vor einer Rückkehr der Taliban.

Ende September 2001 waren die ersten US-Truppen im Norden Afghanistans gelandet. Sie wurden in einen zwanzig Jahre anhaltenden, tödlichen Krieg hineingezogen. Auf dessen Höhepunkt kämpften bis zu 100.000 US-Soldaten und fast 40.000 Nato-Soldaten gegen die Taliban, Al-Qaida und andere aufständische Gruppen.

Zwei Jahrzehnte später wollen die USA zusammen mit den NATO-Truppen bis spätestens zum 11. September 2021 – dem Jahrestag des Anschlags auf das World Trade Center in New York – aus Afghanistan abziehen. Mitte April verkündete US-Präsident Joe Biden das Abzugsdatum, das den bisher längsten Krieg der USA und der Nato beenden soll. Doch in Afghanistan wird der Krieg weiter andauern.

Die USA versprachen Demokratie und Menschenrechte

Die USA sind vor 20 Jahren in Afghanistan einmarschiert, nachdem die islamistische Terrormiliz Al-Qaida am 11. September 2001 einen Anschlag auf das World Trade Center verübt hatte. Die damals in Afghanistan herrschenden Taliban weigerten sich, die Al-Qaida-Führer an die Vereinigten Staaten auszuliefern. Der damalige US-Präsident George W. Bush schwor Rache an den Taliban und Al-Qaida; den Afghanen versprach er Frauenrechte, Demokratie und Menschenrechte.

Heute kontrollieren die Taliban erneut fast die Hälfte des Landes. Die von den USA unterstützte afghanische Regierung ist fragil und tut sich schwer damit, die Taliban zu bekämpfen. Nach dem Abzug der US-Truppen droht dem Land ein Bürgerkrieg. Ohne die Unterstützung der USA und Europas fürchten viele afghanische Frauen um ihr Leben und um ihre Rechte.

Noch unter Donald Trump hatten die USA ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet, welches den Rahmen für Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban absteckt. Das Abkommen sah vor, dass die USA ihre Truppen bis zum 1. Mai 2021 abziehen. Im Gegenzug sollten die Taliban ihre Verbindungen zu Al-Qaida kappen. Zuletzt sind die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban ins Stocken geraten und die Frist für den Abzug wurde nicht eingehalten. Nun hat der neue US-Präsident Joe Biden das neue Abzugsdatum verkündet, das unabhängig vom Verlauf der Friedensgespräche gelten soll.

Fachleute warnen vor neuer Angriffswelle

Nach der verpassten Abzugsfrist haben die Taliban erklärt, dass ihnen nach dem 1. Mai alle Optionen offenständen und die USA dafür verantwortlich seien. Zurzeit sind noch 3500 US-Soldaten und 7500 Soldaten der Nato-Mission in Afghanistan stationiert, darunter etwa 1100 deutsche.

Autor

Ezzatullah Mehrdad

ist freier Journalist und lebt in Kabul, Afghanistan.
Fachleute wie der Politikwissenschaftler Asfandyar Mir fürchten, dass die Taliban während des Abzugs zu einem letzten Schlag ausholen könnten, um in der Öffentlichkeit einen Sieg über die USA und die Nato zu verkünden. Um den Abzug zu schützen, entsenden die USA einen Flugzeugträger in den Persischen Golf, fliegen zusätzliche Lufteinsätze über dem Land und stationieren vorübergehend 665 weitere Soldaten in Afghanistan.

Doch spätestens nach dem Abzug der internationalen Truppen muss die afghanische Regierung die aufstrebenden Taliban alleine bekämpfen. Zwar haben die USA und die Nato zugesagt, die Gehälter von 300.000 Angehörigen der afghanischen Streitkräfte mindestens bis zum Jahr 2024 zu zahlen. Dennoch wird die Regierung Schwierigkeiten haben, ihr Territorium zu halten und die Taliban zurückzudrängen. Bereits jetzt haben sie wichtige Provinzhauptstädte des Landes umzingelt, etwa in Kandahar, Ghazni und Helmand.

Kann die Regierung gegen die Taliban bestehen?

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani hat bereits auf die wachsenden Befürchtungen reagiert, seine Regierung könne nach dem Abzug zusammenbrechen. „Afghanistans stolze Sicherheits- und Verteidigungskräfte sind voll und ganz in der Lage, ihr Volk und Land zu verteidigen“, erklärte er Mitte April auf Twitter. Regierungsbeamte behaupten, dass die afghanischen Streitkräfte bereits jetzt fast alle Operationen gegen die Taliban und andere terroristische Gruppen durchführen.

Ob die Regierung tatsächlich gegen die Taliban bestehen kann, wird sich im Sommer zeigen. Die afghanische Bevölkerung hingegen leidet bereits jetzt unter den anhaltenden Kämpfen. Allein seit Anfang des Jahres wurden nach Angaben der Vereinten Nationen über 500 Zivilisten getötet und mehr als 1200 verwundet. Die Zahl der von 2009 bis 2019 getöteten oder verwundeten afghanischen Zivilisten beläuft sich nach UN-Angaben auf mehr als hunderttausend.

„Die internationalen Truppen ziehen ab und die Friedensgespräche sind ausgesetzt“, sagt Shaharzad Akbar, der Vorsitzende der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission. „Die Unsicherheit ist größer als noch vor einem Monat.“ Die Gewalt halte trotz des islamischen Fastenmonats Ramadan an. Seit Beginn der Friedensverhandlungen wurden in Afghanistan eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Aktivisten und Journalisten getötet. Alleine zwischen September und Ende Januar wurden nach UN-Angaben 11 Journalisten und Menschenrechtsaktivisten ermordet.

„Jeden Tag sterben Menschen und die gezielten Tötungen gehen weiter“, sagt Akbar. Mit dem Abzug der internationalen Truppen drohe dem Land nun ein Bürgerkrieg. Akbar fürchtet auch, dass der Spielraum für zivilgesellschaftliches Engagement nach dem Abzug weiter schrumpft. Bereits jetzt sei es wegen der Gewalt der Taliban schwierig, sich zu engagieren. „Wir haben Angst, dass die Taliban, aber auch die Regierung den Raum für Engagement weiter einschränken, wenn die internationale Gemeinschaft nicht mehr hier ist.“

Im Stich gelassen

Viele Afghaninnen und Afghanen fühlen sich durch den Abzug der US-Truppen im Stich gelassen und verraten. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben die USA und die EU Unterstützung für Frauen- und Menschenrechte versprochen und versucht, liberale Werte zu fördern. Aber angesichts der erstarkenden Taliban lassen die USA die Frauen nun zurück.

Die USA und die Europäische Union werden mit dem Abzug der Truppen weniger Macht haben, die politische Entwicklung in Afghanistan zugunsten der Frauen zu gestalten. Zwar wollen beide ihre Entwicklungshilfe in Zukunft davon abhängig machen, ob die Taliban und die Regierung die Menschenrechte respektieren. Aber mittels solcher Bedingungen für die Auszahlung von Entwicklungsgeldern können sie weniger Einfluss ausüben als bisher.

"Bomben im Namen von Demokratie und Frauenrechten"

Afghanische Frauen befürchten, dass die Taliban und andere Gruppen ihnen verbieten, in der Öffentlichkeit zu arbeiten und Schulen oder Universitäten zu besuchen. Die Taliban behaupten zwar, dass sie Rechte von Frauen respektieren und ihnen erlauben wollen, zu arbeiten – allerdings nur nach dem islamischen Recht. Während der bis 2001 währenden Herrschaft der Taliban durften Frauen nur mit männlicher Begleitung in die Öffentlichkeit.

„Die USA haben Afghanistan im Namen von Frauenrechten und Demokratie bombardiert“, sagt die in Kabul ansässige Frauenrechtsaktivistin Laila Haidari. Die Rede, bei der Biden den Abzug der US-Truppen verkündete, hat sie im Fernsehen verfolgt. „Wir wollen alle Rechte haben, die Frauen in anderen Ländern zum Leben haben“, sagt Haidari. „Wir wollen arbeiten, reden und Entscheidungen für unser Leben treffen – unabhängig von den Männern.“

Aus dem Englischen von Moritz Elliesen.

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