„Für die afghanischen Frauen ist eine neue Ära angebrochen“

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Bildung in Afghanistan
Seit dem Sturz der Taliban hat sich die Situation der Frauen in Afghanistan verbessert. Die afghanische Frauenrechtsaktivistin Sajia Behgam erklärt, was eine Regierungsbeteiligung der Taliban bedeuten würde – und warum man auf dem Land im Kampf für mehr Gleichberechtigung nicht um religiöse Führer herumkommt.

Frau Behgam, im Alter von 16 Jahren haben Sie unter dem Taliban-Regime eine geheime Untergrundschule für Mädchen in Kabul aufgebaut. Was machen Ihre ehemaligen Schülerinnen heute?
Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 hat das afghanische Bildungsministerium den Besuch meiner Schule als offiziellen Bildungsabschluss anerkannt. Die meisten meiner ehemaligen Schülerinnen haben inzwischen einen Universitätsabschluss und arbeiten in Führungspositionen. Einige Zeit nach dem Sturz der Taliban lief ich durch die wiedereröffnete Universität in Kabul: Eine Frau mit Burka kam auf mich zu und sprach mich an. Nach einer kurzen Schrecksekunde nahm sie den Schleier ab und ich sah, dass sie eine ehemalige Schülerin von mir war. Ich bin sehr stolz, wenn ich meine früheren Schülerinnen heute sehe – denn sie haben meine Schule in einer sehr dunklen Zeit in der Geschichte Afghanistans besucht.

Wie viele Mädchen haben bei Ihnen die Schulbank gedrückt?
Angefangen habe ich mit fünf Schülerinnen, später waren es etwa 200. Auf dem Stundenplan standen verschiedene Fächer, unter anderem Mathe, Englisch und persische Sprachen. Außerdem habe ich die Mädchen psychologisch unterstützt, indem ich mit ihnen über ihre Probleme und Gefühle geredet habe. Viele von ihnen waren depressiv, weil sie sich nicht frei bewegen oder Dinge zur Unterhaltung machen durften.

Frauen und Mädchen war es unter den Taliban verboten, eine Schule zu besuchen und zu studieren. Wie haben Sie ihre Schule geheim gehalten?
Ich habe meinen Schülerinnen gesagt, dass sie den Koran jeden Tag mitbringen sollen. Die Taliban haben meine Schule zweimal kontrolliert und meine Schülerinnen über den Islam ausgefragt. Sie konnten alle Fragen beantworten – also dachten die Taliban, dass ich den Mädchen nur etwas über den Islam erzähle.

Was wäre passiert, wenn die Taliban Ihr Geheimnis entdeckt hätten?
Sie hätten mich ins Gefängnis gesteckt. Eine Freundin von mir wurde für sechs Monate eingesperrt, weil sie unterrichtet hat.

Im Jahr 2001 wurden die Taliban von der US-geführten Militärkoalition gestürzt. Wie hat sich die Situation für Frauen in Afghanistan seitdem verändert?
Für die afghanischen Frauen ist eine neue Ära angebrochen. Wir haben jetzt eine Verfassung, die Frauen und Männern die gleichen Rechte garantiert. Im Parlament sind 25 Prozent der Sitze für Frauen reserviert; wir haben weibliche Ministerinnen und Frauen gehen wieder in die Schule und die Universität. Doch trotz der Fortschritte ist die Gesellschaft noch sehr männlich dominiert. Vor allem auf dem Land haben Frauen mit vielen Problemen zu kämpfen.

Inwiefern?
In den ländlichen Gebieten sind traditionelle Werte weiter verbreitet als in der Stadt. In den Städten können Frauen frei über ihr Leben entscheiden. Auf dem Land entscheidet die Familie; vor allem Väter und Brüder bestimmen über das Leben der Frauen. Es ist dort schwierig, sich vor der Haustür frei zu bewegen oder arbeiten zu gehen. Auch Kinderehen sind ein großes Problem.

Wie ließe sich die Situation auf dem Land verbessern?
In der Vergangenheit gab es viele Workshops und Bildungsprogramme. Ich glaube aber, dass wir zu den religiösen Führern gehen und mit ihnen reden müssen. Die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten hört auf sie. Nur zusammen mit den Geistlichen können wir die Einstellung gegenüber Frauen verändern. Außerdem sollten wir im Bildungssystem unseren Kindern vom ersten Tag an beibringen, dass sie Frauen respektieren müssen. Das wird einen viel größeren Einfluss auf gesellschaftliche Denkmuster haben als schicke Projekte zu Frauenrechten.

Inzwischen kontrollieren die Taliban wieder die Hälfte des Staatsgebiets. Haben sie zuvor erreichte Fortschritte wieder rückgängig gemacht?
Ja. Seitdem die Taliban die Kontrolle übernommen haben, ist alles wieder wie vorher: Mädchen dürfen die Schulen nicht besuchen; manche Schulgebäude wurden sogar niedergebrannt. Frauen, die ausgehen, werden von den Taliban mit Säure angegriffen. Und die Frauen leiden an den Folgen des Krieges. Sie verlieren ihre Familienangehörigen, sie werden Witwen und haben niemanden, der sie unterstützt.

Nach dem Abbruch der Friedensgespräche gibt es Medienberichten zufolge wieder informelle Treffen zwischen den Taliban und Vertretern der USA. Was halten Sie von Friedensverhandlungen mit den Taliban?
Der afghanischen Bevölkerung muss das Recht eingeräumt werden, zu entscheiden, was sie will. Seit vielen Jahren töten die Taliban Menschen in Afghanistan. Die Taliban müssen akzeptieren, dass die Afghaninnen und Afghanen entscheiden wollen, ob und unter welche Bedingungen sie zurückkommen. Leider ist es derzeit andersrum: Die Taliban diktieren die Bedingungen für eine Einigung. Die USA haben zu keinen Zeitpunkt die Autorität über den Friedensprozess an die afghanische Regierung abgegeben, dabei kann nur sie über einen Friedensvertrag entscheiden. Für uns war das sehr verwirrend.

Sind die Taliban bereit, den afghanischen Frauen Rechte zuzugestehen, um an der Macht teilzuhaben?
Bei manchen Themen sagen sie, dass es nicht wie früher sein wird. Aber ich sehe keinen Wandel in ihrer Ideologie. Und wir wissen nicht, ob sie gewillt sind, den gegenwärtigen Stand der Dinge zu akzeptieren: Würden sie weibliche Aktivistinnen in der Zivilgesellschaft akzeptieren? Würden sie mit einer weiblichen Ministerin zusammenarbeiten? Eines der größten Probleme ist, dass die Taliban die Verfassung ändern wollen. Für die afghanischen Frauen ist das eine rote Linie, weil sie uns die gleichen Rechte wie den Männern garantiert.

Wie könnte man im Falle von neuen Friedensverhandlungen sicherstellen, dass Frauen gehört werden?
Sie müssen sich an den Gesprächen beteiligen: Von zehn Menschen am Verhandlungstisch sollten mindestens vier Frauen sein. Zum Glück haben wir viele starke Aktivistinnen, die für ihre Belange kämpfen. Bereits bei den gescheiterten Verhandlungen haben sie auf verschiedenen Ebenen für die Rechte von Frauen gestritten. So haben sie beispielsweise mit der US-amerikanischen Regierung und mit den Botschaftern verschiedener Länder gesprochen.

Wie gefährlich ist das Engagement für die Rechte von Frauen in Afghanistan heutzutage?
Viele Männer denken immer noch, dass wir nicht ausgehen oder in der Politik aktiv sein sollten. Der Kampf dauert also noch an. Vor zwei Jahren wurde ich mit Säure angegriffen, weil ich für die Regierung arbeite – der Täter war kein Talibankämpfer, sondern ein gewöhnlicher Mann, der gegen die Freiheit von Frauen war.

Das Gespräch führte Moritz Elliesen

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