Wettstreit der Religionen

Äthiopien
Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed will das Land versöhnen. Sind die religiösen Gruppen bereit, dazu beizutragen? Oder sind sie ein Teil des Problems?

Äthiopien wandelt sich derzeit politisch, doch der Weg ist holprig. Der Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed im April 2018 hat der Bevölkerung emotionale Achterbahnfahrten zwischen Hoffnung, Unsicherheit und Verzweiflung beschert. Die Euphorie hat sich inzwischen in Luft aufgelöst, und Ungewissheit greift um sich. Das ist nicht Abiys Schuld, die Geschichte des Landes ist schwierig.

Die Religion hat einen bedeutenden Anteil an den Erfolgen, auf die Äthiopien zurückblicken kann, aber auch an seinen Nöten. Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche beispielsweise wurde im vierten Jahrhundert begründet und ist damit die älteste Institution des Landes. Sie spielte eine wichtige Rolle beim Entwurf einer Theologie, die zum Fundament äthiopischer Nationalstaatlichkeit wurde; sie brachte einen nationalen Mythos hervor, der ein heterogenes Volk einte. Aus der Verbindung von Kirche und Staat entstand so eine äthiopische Variante des Glaubens an das eigene Auserwähltsein.

Das Phänomen lässt sich mit dem amerikanischen Exzeptionalismus vergleichen, der in der puritanischen Bewegung des 17. Jahrhunderts wurzelt. Die äthiopische Version entstand wohl früher, schon als Christen das Wort „Äthiopien“ in der Bibel entdeckten. In einem einflussreichen Buch aus dem 14. Jahrhundert, dem Kibre-Negest („Ruhm der Könige“), reift dieser Anfangsgedanke zu einer Ideologie. Angesehene Wissenschaftler, die sich mit Äthiopien befassen, halten dieses Buch für eine maßgebliche Quelle nationaler und religiöser Gefühle – ähnlich bedeutsam wie die Thora für die Hebräer und der Koran für die arabische Welt.

Das Buch zieht eine Linie von der biblischen Geschichte der Königin von Saba, die mutmaßlich eine äthiopische Königin war, und entwickelt so eine weithin akzeptierte Erzählung, wonach das äthiopische Volk in einem Bund mit Gott steht. Die politischen Führer des Landes stammen demnach von Menilik I. ab, dem Sohn, den König Salomon während des Besuchs der Königin von Saba mit ihr gezeugt haben soll. Traditionell beansprucht Äthiopien zudem, das verschollene jüdische Heiligtum der Bundeslade zu besitzen. Das Land akzeptierte für mehr als eineinhalb Jahrtausende das Christentum als Staatsreligion.

Religiöse und politische Vormacht über andere Volksgruppen

Die Vorstellung, in einem Bund mit Gott zu stehen, wurde später auch die Grundlage für die Verteidigung gegen ausländische Besatzung. Dem amerikanischen Glauben an das Auserwähltsein vergleichbar, beanspruchten die Äthiopier, dass Gott in die Entstehung der Nation eingegriffen habe, so dass ihnen als „Erlösernation“ ein besonderes Schicksal bestimmt sei.

Autor

Mohammed Girma

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität von Pretoria in Südafrika und arbeitet für das britische International Bible Advocacy Centre. Er ist Autor des Buchs „Understanding Religion and Social Change in Ethiopia“ (2012).
Für manche war dies mit Kosten verbunden. Neben der amharischen Sprache – die in Äthiopien Verkehrssprache ist – wurde das orthodoxe Christentum herangezogen, um die Nation im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einen. Amharische Herrscher beanspruchten die religiöse und politische Vormacht über andere Volksgruppen. Dies wurde zu einem Nährboden für politisches und kulturelles Leid.

Aufgrund ihrer Verbindung mit dem Staat und ihres immensen politischen Einflusses auf die Nation steht die Kirche dabei oft im Zentrum des Konflikts. Das liegt auch daran, dass sie stets mehr war als eine politische Institution. Sie war auch die wichtigste Bildungseinrichtung – die politische Elite wurde aus den kirchlichen Schulen rekrutiert. Das kirchliche Gefüge war Zentrum kultureller Erneuerung und neben dem Staat wichtigster politischer Akteur. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts begann die junge Generation, die eine moderne Ausbildung genossen hatte, die Kirche in ein eher nachteiliges Licht zu rücken. Sie warf ihr vor, jeglicher Modernisierung entgegenzustehen. Das marxistische Regime, das zwischen 1974 und 1991 an der Macht war, sah in der Kirche eine Bedrohung der sozialistischen Agenda. Schließlich trennte die Regierung die politische Sphäre von religiösem Einfluss. Das Feudalsystem wurde abgeschafft und die Kirche an den Rand gedrängt.

1991 setzten eine Dürre, anhaltende Unterdrückung und der geopolitische Wandel zwischen Ost und West dem marxistischen Regime ein Ende, und die Guerillakämpfer der Tigray-Befreiungsfront (TPLF) eroberten die Macht. Sie teilte zwar die Ideologie der Marxisten, hatte aber einen anderen Fokus: Es ging ihr darum, verschiedene kollektive Identitäten in Äthiopien zuzulassen. Stimmen am Rande der Gesellschaft zu integrieren, schloss religiöse Sichtweisen ein. Dieses politische System wurde „ethnischer Föderalismus“ genannt – ein System, das den Volksgruppen Selbstverwaltung und die Pflege ihrer Sprache zugestehen wollte.

Kritiker warfen der neuen Regierung jedoch vor, diesem Anspruch keine Taten folgen zu lassen und sich mit autokratischen Methoden an der Macht zu halten. Es gab zwar offizielle Repräsentanten der ethnischen Gruppen, doch oft wurden die von der Zentralregierung ernannt. Ähnlich erging es Religionsgemeinschaften, die von den herrschenden Eliten entweder streng kontrolliert oder aber unterwandert wurden.

Das war auch bei der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche der Fall, die deshalb für beinahe drei Jahrzehnte geteilt war in die Landeskirche und die Kirche im Exil. Denn das rechtmäßige Kirchenoberhaupt, der Abune, wurde 1991 des Landes verwiesen. Er gehörte zum Volk der Amharen. Sein Nachfolger hingegen entstammte den Tigre – derselben ethnischen Gruppe wie der frühere Premierminister Meles Zenawi – und stand der Kirche bis zu seinem Tod im Jahr 2012 vor.

Die gesellschaftliche Polarisierung nimmt zu

Doch der Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed hat frischen Wind ins Land gebracht. Seine religiös gefärbte Botschaft von Vergebung und Liebe, die Einladung an politische Dissidenten, nach Hause zurückzukehren und sich an der Erneuerung zu beteiligen, die Freilassung von politischen Gefangenen und Journalisten haben neue Hoffnung gebracht. Die Menschen haben mehr Freiheit, ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen.

Doch auch die gesellschaftliche Polarisierung nimmt zu. Sowohl die politischen als auch die religiösen Gruppen sind sich bewusst geworden, dass ihnen die gesellschaftspolitische Bühne offensteht. Viele verweisen auf ihr Leid aus der Vergangenheit, um ihre Ziele auf dem kürzesten Weg zu erreichen. Ethnische Politik ist oft auf eine gefährliche Art religiös unterfüttert, denn ethnische Gefühle sind häufig mit religiösen Loyalitäten verschränkt.

Die traditionelle Religion der Oromo zum Beispiel, Waaqeeffanna, wurde als eine der offiziellen Religionsgemeinschaften Äthiopiens anerkannt. Religiös geprägte indigene Feste haben es zu nationaler Aufmerksamkeit gebracht. Es gab zwar schon vorher Anzeichen für ein Wiederaufleben traditioneller Religiosität – doch seit dem Amtsantritt von Abiy Ahmed ist der Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit schärfer geworden. Emotional aufgeheizte Rhetorik, unterschwellige Spannungen und kleinere Konflikte sind dabei, Teil der neuen Normalität zu werden.

Der Islam wurde im frühen siebten Jahrhundert in Äthiopien eingeführt, als eine Gruppe von Muslimen vor ihrer Verfolgung in Arabien in das Königreich Axum floh, das 200 Jahre zuvor christlich geworden war. Muslimische Flüchtlinge wurden dort gut behandelt, was den Propheten Mohammed dazu veranlasst haben soll, die Abessinier im Dschihad zu verschonen.
Der zentralen äthiopischen Statistikbehörde zufolge sind 46 Prozent der Bevölkerung orthodoxe Christen, 35 Prozent Muslime und 19 Prozent Protestanten. Äthiopien ist für ein friedliches Zusammenleben von Muslimen und Christen bekannt. Die Realität jedoch ist kompliziert. Auf der politischen Ebene wurden Muslime von den herrschenden christlichen Eliten als Gäste bezeichnet, und man hielt sie davon ab, sich in der Politik zu engagieren. Stattdessen waren sie vor allem als Händler und Geschäftsleute bekannt, die sich von Zeit zu Zeit diplomatische Verdienste im Umgang mit den Nachbarländern erwarben.

D8e muslimische Bewegung „Verschaffe unseren Stimmen Gehör“

In den vergangenen Jahren hat die Globalisierung der Religion äthiopische Muslime jedoch anscheinend veranlasst, sich im Wettbewerb um Öffentlichkeit nachdrücklicher zu äußern. In der Folge erlebte Äthiopien einige Polemik, aber auch die Entstehung einer Bewegung namens Demtsachin Yisema („Verschaffe unseren Stimmen Gehör“), die Aufmerksamkeit für die Nöte der Muslime fordert. Statt ihr Anliegen umsichtig zu behandeln, agierte das TPLF-geführte Regime ungeschickt. Abiy Ahmed hat dazu beigetragen, die Spannungen zu entschärfen. Auf diese Weise hat er zugleich den Beitrag der Muslime zur Gesellschaft anerkannt.

Andererseits gehört die protestantische Kirche in Äthiopien zu den am schnellsten wachsenden Religionsgruppen. Üblicherweise spielen orthodoxe und muslimische Gläubige ihre theologischen Differenzen herunter, um einvernehmlich zusammenzuleben. Für die Protestanten hingegen ist die evangelikale Agenda wichtiger. Premierminister Abiy Ahmed ist einer von ihnen.

Obwohl dieser vergleichsweise jungen Gruppe keine politischen Ambitionen nachgesagt werden, finden sich vermehrt Anzeichen von Triumphgebaren in der Öffentlichkeit. Beispielsweise waren der Premier und seine Ehefrau unlängst auf einer Konferenz, die ein als Protestant bekannter Minister organisierte. Er leitet ein beliebtes Rehabilitationszentrum für Jugendliche. Tausende protestantische Jugendliche tanzten dort, was wohl vor allem bei der orthodoxen Kirche ein Verlustgefühl hervorgerufen haben dürfte. Protestantische Kirchen werden oftmals beschuldigt, der verlängerte Arm fremder beziehungsweise westlicher Kultur zu sein; auch ein Mangel an Patriotismus wird ihnen vorgeworfen. In der Öffentlichkeit so aufzutreten, könnte die Beziehungen zwischen Parteien, die sich ohnehin misstrauisch gegenüberstanden, zusätzlich belasten.

Intoleranz innerhalb religiöser Gruppen

Äthiopien steht am Scheideweg. Es gibt Kräfte, die nicht nachlassen dürften, jede Bruchstelle in der Gesellschaft für ihre Zwecke zu nutzen. Die größte Bedrohung geht aber nicht von Intoleranz zwischen, sondern innerhalb religiöser Gruppen aus. Das zeigen anhaltende Streitigkeiten innerhalb der orthodoxen Kirche. Die Debatte kreist hier um das Recht, Theologie und Liturgie in der eigenen Sprache zu halten; nicht nur Ethnizität, auch Sprache ist in Äthiopien derzeit stark politisiert. Politische Kräfte beider Seiten reißen die Diskussion an sich und erschweren es der Kirche, ihren Kurs zwischen Tradition und Reform zu finden.

Brücken zu bauen, erfordert eine neutrale Sicht sowie emotionale Distanz zu den verschiedenen politischen Positionen. Es hat den Anschein, dass es den religiösen Institutionen Äthiopiens daran fehlt. Protestantische Kirchen zeigen gefährliche Nähe zum Premierminister. Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche kämpft damit, den Ballast der Vergangenheit abzuwerfen und sich neu zu erfinden als eine Kirche mit einer Botschaft für eine moderne Gesellschaft. Muslimische Gemeinden sind zur Zielscheibe von Gewalt im christlichen Norden geworden und haben dazu selbst beitragen: Vor allem in Alaba Kulito und in der Somali-Region des Landes haben sie selbst Gewalt gegen andere ausgeübt.

Um als Friedensstifter zu wirken, haben alle Religionsgemeinschaften einen dramatischen Kurswechsel nötig. Derzeit hemmen sie den Zusammenhalt der Nation eher, statt Brücken zu bauen.

Aus dem Englischen von Julia Lauer.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2019: Aufbruch am Horn von Afrika
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