Von Sabine Ferenschild
Bekleidung ist für die Mehrheit der Menschen ein Grundbedürfnis, für einen deutlich kleineren Teil eine Modeware. Dennoch bedient der globale Bekleidungshandel übersättigte, aber zahlungsfähige Modemärkte vor allem in den Industriestaaten, während Milliarden nicht za hlungsfähiger Menschen unterversorgt bleiben.
Textil- und Bekleidungsproduzenten und -händler kämpfen weltweit um Marktanteile und suchen deshalb unentwegt nach den kostengünstigsten Standorten und Lieferketten. China ist der zentrale Standort, der nach wie vor wie ein Staubsauger die globale, arbeitsintensive Produktion anzieht. Einige hoch technisierte und spezialisierte Bereiche des Textilsektors haben sich aber als Weltmarktführer auch im Hochlohnland Deutschland behaupten können - ebenso wie die arbeitsintensive Bekleidungsindustrie in Südeuropa. Beschäftigte finden in Handelsunternehmen und Fabriken im Bereich Textil und Bekleidung einerseits eine Chance, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, müssen aber andererseits gegen Hungerlöhne und um menschenwürdige Arbeitsbedingungen kämpfen. Schon wenn sie dabei kleine Erfolge erzielen, kann das Produktionsverlagerungen und somit den Verlust von Arbeitsplätzen zur Folge haben.
Entwicklungsländer haben seit den 1950er Jahren die arbeitsintensive Textil- und Bekleidungsindustrie als Einstieg in eine exportorientierte, nachholende Industrialisierung genutzt. Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) beschäftigte diese Industrie 2004 knapp 30 Millionen Menschen weltweit. Die Zahl der informell Beschäftigten dürfte deutlich darüber liegen. Die Regierungen der Industrieländer wollen aber in Zeiten von Arbeitslosigkeit und zunehmender Produktivität in ihren High-Tech-Branchen nicht tatenlos die Textil- und Bekleidungsherstellung abwandern lassen. In der EU arbeiten zum Beispiel noch knapp 2,5 Millionen Menschen in dieser Branche, die damit rund sieben Prozent der Gesamtbeschäftigung stellt. In den USA waren 2008 rund 675.000 Menschen in dem Sektor beschäftigt, in den ersten zwei Monaten 2009 gingen 20.000 Jobs in der US-Textilbranche verloren. Peter Dicken, Professor für Geographie an der Universität Manchester, beschreibt diesen Interessenkonflikt zwischen Entwicklungs- und Industrieländern mit einer Metapher: Textilien und Bekleidung stellten die Basis der neu industrialisierten und weniger industrialisierten Länder dar, hätten aber auch für die älteren Industriestaaten weiter eine - wenn auch verringerte - Bedeutung. Das mache diese Unternehmen zum „globalen politischen Fußball".
Immer neue Handelshemmnisse
Die Textil- und Bekleidungsindustrie stellte über viele Jahrzehnte eine bemerkenswerte Ausnahme im zunehmend liberalisierten Güterwelthandel dar. Zwar war sie einerseits eine Vorreiterin der globalisierten Produktion: Bereits in den 1950er Jahren begannen Produktionsverlagerungen aus den USA in kostengünstiger produzierende Länder. Andererseits ist sie geradezu ein Paradebeispiel für ständig erneuerte Handelshemmnisse bis in die Gegenwart: Mit dem Baumwollabkommen, dem Multifaserabkommen (1974-1994) und dann dessen Integration als Welttextilabkommen in die 1995 gegründete Welthandelsorganisation (WTO) wurden protektionistische Regelwerke geschaffen, die Marktanteile und Arbeitsplätze in der europäischen und US-amerikanischen Textil- und Bekleidungsindustrie sichern sollten.
Im Rahmen des Multifaserabkommens konnten die Importländer von Textilien und Bekleidung Quoten, also Obergrenzen für die Menge ihrer Importe aus jedem Exportland festlegen. Eine unmittelbare Folge war, dass Handelsunternehmen in immer neue Produktionsländer auswichen, sobald das bisherige Lieferland die Quoten ausgeschöpft hatte. Dies führte zu einer Verteilung der Produktion auf rund 160 Länder, die sich zum Teil nur aufgrund des „Schutzes" durch die Quote auf dem Weltmarkt behaupten konnten. Das Welttextilabkommen (1995-2004) folgte dann der Devise: „Liberalisierung ja - aber bitte nicht so schnell!" Die einzelnen Quoten sollten in einem vereinbarten Rhythmus reduziert werden bis zur vollständigen Liberalisierung nach zehn Jahren, also zum 1. Januar 2005.
Viele Entwicklungsländer hatten in der Gründungsphase der WTO noch für eine rasche Liberalisierung des Textil- und Bekleidungshandels gekämpft. Mit dem Beitritt Chinas zur WTO 2001 fürchteten jedoch vor allem die schwächeren Anbieterländer, ihre Bekleidungsbranchen könnten bei freier Konkurrenz zu China zusammenbrechen. Da die USA und die EU ähnliche Befürchtungen für ihre eigenen Industrien hegten, schöpften sie ihre Möglichkeiten im Rahmen des Beitrittsprotokolls Chinas zur WTO aus und „vereinbarten" mit China die Deckelung bestimmter Produktkategorien bis Ende 2007 (EU) beziehungsweise Ende 2008 (USA). Bis heute ist also der Textil- und Bekleidungshandel ein politisch umkämpftes Feld. Liberalisierung gilt zwar nach wie vor als Leitmotiv, in der Realität ist allerdings eine Mischung aus Liberalisierung und Protektionismus festzustellen.
Die Liberalisierung hat aber das Machtgefüge im Textil- und Bekleidungssektor verändert: Die Möglichkeit der Unternehmen, die Produktion an den jeweils günstigsten Standort zu verlagern, hat zunächst die Interessenvertretungen der Beschäftigten geschwächt oder sie bereits in der Gründungsphase unterminiert. Ohne eine unabhängige gewerkschaftliche oder betriebliche Organisation im Rücken sind vor allem junge Arbeiterinnen, die oft bis zu vier Fünftel einer Belegschaft stellen, niedrigen Löhnen, überlangen Arbeitszeiten und anderen Missständen ausgeliefert. Dabei ist die arbeitsrechtliche Situation in der Bekleidungsindustrie schlechter als in der Textilindustrie, die kapitalintensiver produziert, einen höheren Ausbildungsgrad und einen größeren Anteil männlicher Beschäftigter aufweist. Beide Industrien sind aber primär in den sogenannten Freien Exportzonen angesiedelt, die viele Entwicklungsländern eingerichtet haben, um ausländische Investoren mit Anreizen wie niedrigen Löhnen und Steuerbefreiung anzulocken.
Der Trend, immer neue Landstriche als Freie Exportzonen auszuweisen, verstärkt den Verdrängungswettbewerb im liberalisierten Weltmarkt: Für 2007 geht die ILO von mehr als 2700 solcher Zonen mit insgesamt 63 Millionen Beschäftigten aus, davon allein 40 Millionen in China. Die Zunahme der Freien Exportzonen geht mit sinkenden Reallöhnen, mehr Überstunden und der Zunahme von informeller Beschäftigung und Kurzzeit-Beschäftigung einher. Das ist ein Zeichen dafür, dass der globale Kampf um Marktanteile vor allem auf dem Rücken der Arbeiter ausgetragen wird - sie finanzieren ihn mit Lohneinbußen und immer längeren Arbeitszeiten.
Dass bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass alle Unternehmen zu den Gewinnern gehören. Zwar wird die Textil- und Bekleidungsindustrie nach wie vor von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägt. In der EU sind noch rund 176.000 Unternehmen in dieser Branche tätig, in China etwa 50.000. Doch sie stehen in wachsendem Maße unter dem Druck und dem Preisdiktat globaler Handelshäuser und -ketten. Einige von ihnen wie Adidas haben früher selbst Kleidung hergestellt, organisieren jetzt aber nur noch als beherrschende Glieder ein globales Produktionsnetzwerk. Wo, was, wie viel und zu welchem Preis produziert wird, bestimmt eine immer kleinere Zahl solcher großer Anbieter in den Hauptabsatzmärkten. Sie sind die wirklichen Profiteure der Liberalisierung. Ihr Handlungsspielraum hat sich enorm vergrößert. Sie vergeben ihre Aufträge dorthin, wo der Preis und die Qualität stimmen.
Da die Hauptabsatzmärkte gesättigt sind und deshalb immer schnellere Modewechsel erforderlich sind, um mehr zu verkaufen, verkürzen sich auch die Lieferzeiten. Das wiederum führt in den Lieferländern zu einer zunehmenden Verschränkung von formeller und informeller Produktion: Die direkten Lieferanten fangen Auftragsspitzen mit Hilfe von Sublieferanten auf, die zum Teil formell, zum Teil informell in kleinen Klitschen und in Heimarbeit arbeiten. Dicken spricht von einer händlergesteuerten Lieferkette im Unterschied zu produzentengesteuerten Lieferketten wie der Automobilindustrie.
China beliefert die ganze Welt
Die Liberalisierung im Textil- und Bekleidungshandel hat die Welthandelsströme umgeleitet. Sie konzentrieren sich zunehmend auf Asien, wie der WTO-Vergleich der zehn größten Bekleidungs-Exporteure zeigt. 2007 wuchs der Wert des Weltbekleidungshandels um 12 Prozent auf 345 Milliarden US-Dollar (Textilien: 238 Milliarden US-Dollar), der Wert der chinesischen Bekleidungsexporte wuchs sogar um 21 Prozent auf 115 Milliarden US-Dollar. Der chinesische Anteil am Welttextilmarkt ist von 13,5 Prozent im Jahr 2002 auf 23,5 Prozent im Jahr 2007 gestiegen.
China hat also, anders als vor 2005 vermutet, noch nicht die Hälfte des globalen Textil- und Bekleidungsmarktes erobert. Doch zeigen die Entwicklungen im EU-Markt 2008 und im US-Markt im ersten Quartal 2009, dass das chinesische Wachstumspotenzial noch nicht ausgeschöpft ist: Der Anteil Chinas an den Textil- und Bekleidungseinfuhren Deutschlands ist von Januar bis September 2008 im Vergleich zum Vorjahr von 24 auf 26,2 Prozent gestiegen. China hatte bereits zwischen 2004 und 2007 enorme Wachstumsraten im EU-Markt verzeichnet: Im Bereich Textil erhöhten sich die Einfuhren von 18,5 Prozent auf 26 Prozent, im Bekleidungssektor von 25,6 Prozent auf 37,7 Prozent. Für die USA gilt seit Januar 2009 vergleichbares: Die chinesischen Importe stiegen im ersten Quartal 2009 um bis zu 36 Prozent. Durch die Wirtschaftskrise schrumpften zwar die Textil- und Bekleidungsexporte Chinas Anfang 2009 deutlich (das chinesische Konjunkturprogramm federte mit Hilfen für die Branche den Einbruch ab, was von der US-amerikanischen Textil- und Bekleidungsindustrie bereits als Exportsubventionierung angeprangert wurde). Doch hat China weiterhin die besten Karten auf diesem Markt. Das zeigen auch Zahlen für Afrika: Bis Mitte 2006 ist der chinesische Anteil an den Textil- und Bekleidungsimporten Südafrikas auf 75 Prozent gestiegen.
Die Verlierer der Liberalisierung
Was bedeutet dieser andauernde Sog nach China für andere Regionen der Welt? Unter ihnen gibt es Gewinner und Verlierer. Bereits die Veränderung der Anteile an den Weltbekleidungsexporten zwischen 2000 und 2007 hat laut dem „Multi Fiber Arrangement Forum" gezeigt, dass nicht nur China vom liberalisierten Umfeld profitiert hat. Das Forum - eine Initiative aus Firmen, Regierungen, Gewerkschaften, nichtstaatlichen Organisationen und multilateralen Institutionen - hat 21 Länder als durch die Liberalisierung verwundbar identifiziert. Von diesen konnten neben China auch neun andere ihre Exporte von 2004 bis 2007 steigern - besonders stark Mazedonien, Indien, Kambodscha, Indonesien und Bangladesch. Zwölf Länder hingegen - darunter Südafrika, Südkorea, die Dominikanische Republik, Mexiko, Rumänien und Guatemala - verzeichneten teilweise dramatische Einbrüche. Die US-Importe aus Mexiko, der Karibik und einigen zentralamerikanischen Ländern fielen nach 2004 um circa 13 Prozent pro Jahr. Die Zugehörigkeit Mexikos zur nordamerikanischen Freihandelsregion NAFTA sowie die gegen China verhängten Sicherungsmaßnahmen der USA konnten die Folgen der Wettbewerbsfähigkeit Chinas, aber auch Vietnams und Kambodschas nur dämpfen. Südafrika traf es jedoch am härtesten: Obwohl das Land von der Zollpräferenz in den USA nach dem African Growth and Opportunities Act (AGOA) profitiert und ein Freihandelsabkommen mit der EU hat, brachen die Textil- und Bekleidungsexporte um drei Viertel Prozent ein.
Diesem internationalen Wettlauf um Kostensenkung scheint ein ebensolcher Wettlauf im deutschen Markt zu entsprechen: Die Discounter sind auf dem Vormarsch und gehören zu den führenden Anbietern von Textilien und Bekleidung. Aldi wird bereits seit 1987 auf der Liste der größten Anbieter geführt; mittlerweile sind Lidl, Tchibo, Tengelmann (mit Kik und Plus, wobei Plus seit Ende 2008 zu Edeka gehört) und andere nachgerückt. Insbesondere der Discounter Kik macht seit einigen Jahren den „alten" Discountern Konkurrenz (siehe Tabelle).
Warum dieser Trend so bemerkenswert ist, formuliert eine neue Studie der internationalen Kampagne für Saubere Kleidung in aller Deutlichkeit: Das Spezielle an Wal-Mart, Tesco, Carrefour, Lidl und Aldi „ist ihre Größe: ihre globale Reichweite und ihre großen Marktanteile in vielen Ländern. Diese Giganten erledigen ihr Geschäft, indem sie ihre Zulieferer dominieren und sie dazu bringen, niedrigere Preise anzubieten." Der Studie zufolge tragen die Arbeiterinnen und ihre Familien die Kosten dafür, dass die Giganten ihre Bekleidungslieferanten auf niedrigere Preise und schnellere Umschlagszeiten drängen (siehe dazu den folgenden Artikel).
Die „Discounterisierung" des Marktes verschärft die Preiskonkurrenz und somit die Kostensenkung in der Produktion - zu Lasten der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Konsumenten in den Hauptabsatzmärkten profitieren hingegen von fallenden Preisen infolge der „Discounterisierung". Der Umsatz mit Textilien und Bekleidung in Deutschland ist zwischen 1995 und 2007 von 65 Milliarden Euro auf 60,8 Milliarden Euro gesunken. Entsprechend ist der Anteil der Bekleidung an den gesamten Konsumausgaben der Haushalte gesunken. Weniger als jeder zwanzigste Euro des privaten Konsums wird für Bekleidung ausgegeben - mit leicht fallender Tendenz in den vergangenen Jahren.
Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise wird den Wettlauf um Kostensenkung und Konzentration im internationalen Textil- und Bekleidungshandel vermutlich verschärfen. Sollten die Rahmenbedingungen in der Weltwirtschaft aufrecht erhalten bleiben, würden sich aus Perspektive der Arbeitenden sowie der Produzenten in den südlichen Ländern zwei Ansätze für Verbesserungen anbieten: Zum einen muss der Kampf um menschenwürdige Arbeitsbedingungen auf der Grundlage der international anerkannten Kernarbeitsnormen der ILO verstärkt werden - und zwar auf allen Ebenen, von den Betrieben über internationale Kampagnen wie die für Saubere Kleidung bis hin zu Sozialkapiteln in internationalen Handelsverträgen und im Rahmen der WTO. Zum zweiten könnte die Entwicklung oder Stärkung regionaler Märkte in den südlichen Ländern mehr Unabhängigkeit von den alles dominierenden Bekleidungshändlern ermöglichen. Dies wäre zwar weder der Beginn einer alternativen Wirtschaftsweise noch der Einstieg in die Abkopplung vom Weltmarkt. Aber ein zweites starkes Standbein in regionalen Märkten könnte die Gefahr eines Zusammenbruchs reduzieren, wenn der Export schwächelt. Deshalb böten regionale Märkte mehr soziale Sicherheit für die dortige Bevölkerung.
Sabine Ferenschild ist Referentin beim Ökumenischen Netz Rhein Mosel Saar e.V., einem Mitträger der Kampagne für Saubere Kleidung.