Die Geschäfte auf der Bazaar Street in Bangalore laufen gut. Auch das von Nirmal. Seit 25 Jahren verkauft er in seinem winzigen Laden alle Arten von Speiseöl: Erdnuss-, Sonnenblumen-, Kokosnuss- und Palmöl sowie Bratfett. Und schon fast genauso lange wehrt er sich gemeinsam mit etwa 200 anderen Geschäftsleuten erfolgreich gegen die Zwangsräumung. Denn nach dem Willen der Stadtverwaltung sollen die kleinen Geschäfte auf der Bazaar Street einem großen Einkaufstempel weichen.
Darunter würden nicht nur die Ladeninhaber leiden, sondern auch ihre Stammkunden, meint Nirmal. „Die meisten Kunden sind ungelernte Arbeiter, die ihren Lohn täglich ausbezahlt bekommen. Im Supermarkt kann man für fünf Rupien (sieben Cent) kein Speiseöl kaufen“, sagt er. „Unsere Laufkundschaft mit ihrem kleinen Einkommen könnte sich nichts mehr leisten, wenn hier anstelle der kleinen Läden eine Mall steht.“
Mieter in dem Einkaufszentrum wären mit ziemlicher Sicherheit transnationale Konzerne wie die Metro Group, die schon ein paar Hundert Meter entfernt einen Großhandelsmarkt eröffnet hat. Das wäre Teil eines tiefgreifenden Umbruchs in der Herstellung, im Vertrieb und im Verkauf von Lebensmitteln, der sich derzeit in Indien und in ganz Asien vollzieht – mit gravierenden Folgen für die kleinen Händler und Verarbeiter, die Frischemärkte und Straßenverkäufer.
Von Großhandelszentralen bis zu Nachbarschaftsläden
Nirgendwo wächst der Markt für den Lebensmitteleinzelhandel schneller als in Asien. Hier werden die meisten Lebensmittel weltweit verbraucht und hier investiert die Branche bevorzugt. Der Siegeszug der Supermärkte wird von denselben Faktoren wie andernorts getrieben: Steigende Einkommen und rasche Urbanisierung auf der Nachfrageseite sowie Werbung und ausländische Direktinvestitionen auf der Angebotsseite. Die Handelsunternehmen nutzen unterschiedliche Modelle von Großhandelszentralen bis zu Supermärkten und Nachbarschaftsläden. Sie versuchen, möglichst in jedem Stadtteil präsent zu sein und Beschränkungen für Investitionen oder durch städtische Flächennutzungspläne zu umgehen.
Indien hat 2006 begonnen, seinen Einzelhandelssektor für ausländische Investoren zu öffnen. Seitdem sind im Cash & Carry-Großhandel Firmen mit bis zu 100 Prozent ausländischen Direktinvestitionen erlaubt. Laut Gesetzen von 2013 ist ausländischen Handelsunternehmen zudem eine Beteiligung von 51 Prozent an Einzelhandelsfirmen mit mehreren Marken (Multi Brand Retail) und 100 Prozent im Ein-Marken-Einzelhandel (Single Brand Retail) gestattet, wie ihn etwa das Einrichtungshaus Ikea betreibt. Den Bundessstaaten bleibt überlassen, wie sie die Gesetze anwenden. Zwar werden noch immer 98 Prozent aller Lebensmittel auf Märkten verkauft, aber der „moderne“ Lebensmitteleinzelhandel wächst rapide. Die Zahl der modernen Ladenlokale ist von geschätzten 200 im Jahr 2005 auf 3000 im Jahr 2012 gestiegen.
Darüber hinaus fördern staatliche und nationale Investoren das Wachstum der Supermärkte in Asien. In China etwa sind die am stärksten expandierenden Supermarktketten in staatlicher Hand. In Japan gehören die meisten Handelsmärkte staatlichen Einzelhandelsunternehmen, die inzwischen in Nachbarländer expandieren. In Indien besteht der Einzelhandel aus einer Mischung von unterschiedlichen Handelsmärkten, Supermärkten, Fach- und Feinkostgeschäften sowie Convenience Stores. Er wird noch immer von großen indischen Unternehmen dominiert. Ermöglicht wurde ihr Wachstum durch nationale und kommunale Vorgaben und Entwicklungsprogramme. Sie haben zum Ziel, die traditionellen Märkte durch den scheinbar sichereren und hygienischeren Einzelhandel zu ersetzen.
Frischemärkte gibt es überall in Asien. Hier versorgen sich die Verbraucher mit hochwertigem Obst und Gemüse, Fleisch und anderen Nahrungsmitteln. Diese Märkte sichern Millionen Menschen entlang der Vertriebswege den Lebensunterhalt: von den Kleinbauern, die ihre Ernte dorthin schaffen, bis hin zu Standbesitzern und Straßenverkäufern sowie unzähligen informellen Arbeitskräften wie Packern und Trägern. Supermärkte bedrohen die Existenz dieser Menschen. Straßenverkäufer und informelle Händler stehen deshalb an der Spitze des Widerstands gegen die Öffnung der Märkte für Investoren aus dem Ausland.
Bewegung für einen demokratischen Einzelhandel
In Indien, wo noch fast 40 Millionen Menschen vom informellen Handel und den Wochenmärkten abhängig sind, ist der Widerstand besonders groß. 2006 wurde ein nationaler Lenkungsausschuss eingesetzt, um eine Bewegung für die „Demokratie des Einzelhandels“ zu koordinieren. Sie wird von denen angeführt, die die Liberalisierung am stärksten trifft: Handelsverbände, Gewerkschaften, Organisationen der Straßenhändler und Landwirte und der Kleinindustrie. Der nationale Lenkungsausschuss organisiert auf lokaler und nationaler Ebene eine breite Kampagne und fordert von der Politik, die zu schützen und zu fördern, die am meisten betroffen sind.
Das Rückgrat der lokalen Lebensmittelsysteme sind die Kleinhändler. Sie kaufen ihr frisches Obst und Gemüse, ihr Fleisch, ihre Eier und ihren Fisch üblicherweise auf Großmärkten, auf denen die Bauern aus der Umgebung täglich frische Ware anliefern. Große Einzelhandelsunternehmen organisieren Ein- und Verkauf völlig anders. Jede Supermarktkette hat ein zentrales Beschaffungswesen für alle Läden weltweit. Die Lebensmittel stammen von großen transnationalen Konzernen. Sie können kontinuierlich große Mengen liefern, die den von den Supermärkten vorgegebenen Standards genau entsprechen.
Beschaffung und Vertrieb ist für die Supermärkte vollständig integriert, „vom Hof auf den Teller“, wie es gerne heißt. Kleinbauern haben kaum eine Chance, Teil dieser Lieferketten zu werden. Denn sie können unmöglich die Standards bei der Lebensmittelsicherheit einhalten, auf deren Einhaltung die Supermärkte bestehen. Entwickelt wurden diese Standards in Europa ohne Rücksicht auf die traditionellen Lebensmittelsysteme in Asien. Der Direktor für Frischware von Carrefour in Indonesien teilte GRAIN mit, dass die Lieferanten an die Beschaffungsstandards im internen Unternehmenshandbuch gebunden sind. Daran hat sich nichts geändert, obwohl Carrefour inzwischen vollständig im Besitz des indonesischen Unternehmens Trans Retailindo ist.
Fünf Zentimeter muss der Broccoli-Strunk lang sein
Indonesische Kleinbauern können diese Standards jedoch nicht erfüllen, ohne Zugang zu landwirtschaftlichen Maschinen und Technik für die Behandlung nach der Ernte zu haben. Die Vorgaben für Frische und Größe der Produkte sind auf die industrielle Landwirtschaft zugeschnitten: ein Broccoli etwa muss hellgrün gefärbt sein und einen Strunk von exakt fünf Zentimetern haben.
In Indien haben viele nationale und multinationale Unternehmen Vereinbarungen über Vertragsanbau getroffen, um die Supermärkte zu beliefern. Man verspricht den Bauern garantierte Märkte, stabile und bessere Preise sowie technische Unterstützung. Doch die Landwirte beklagen, dass die Bedingungen zu kompliziert und belastend sind. Nach ihrer Darstellung werden die geernteten Produkte oft abgelehnt und auf den Müll geworfen. Mit der Bezahlung ließen sich die Aufkäufer regelmäßig viel Zeit. Die Erzeuger haben Mühe, mit dem Tempo und den vereinbarten Produktionsmengen Schritt zu halten. Darüber hinaus sind sie bei Entscheidungen über die Produktion und den Verkauf außen vor – etwa wenn es darum geht, welche Art von Produkten angebaut oder welches Saatgut verwendet werden oder wie hoch der Preis sein soll.
Auch wenn es zunehmend mehr Programme für Vertragslandbau gibt, kaufen die Supermärkte nur einen sehr geringen Teil ihrer Ware bei Kleinbauern. Die meisten Lebensmittel stammen von landwirtschaftlichen Großbetrieben. Mega-Einzelhandelsunternehmen wollen stets dieselben Früchte und dasselbe Gemüse anbieten – unabhängig davon, ob sie gerade Saison haben. Das gelingt ihnen, indem sie ihre Produkte aus unterschiedlichen geografischen Regionen auf der ganzen Welt beziehen. Sie wollen diese Ware aber auch so billig wie möglich erwerben. So sind sie auf der Suche nach Produktionszentren, wo sie zu den geringsten Kosten einkaufen können. China entwickelt sich gerade zu einem großen Produktions- und Vertriebszentrum für Geflügel und Gartenbauerzeugnisse und beliefert Supermärkte in vielen asiatischen Ländern.
Die steigende Zahl an Freihandels- und Investitionsabkommen in Asien erleichtert die globale Beschaffung der Einzelhandelsunternehmen. Die in Thailand ansässige Großhandelskette Siam Makro hat entlang der kambodschanischen Grenze bereits neue Läden eingerichtet, die nicht nur neue Konsumenten im Blick haben, sondern auch von den Lieferanten im Nachbarland profitieren, die preisgünstiger sind als die thailändischen Erzeuger. Der Geschäftsführer von Siam Makro, Suchada Ithijarukul, bestätigt, dass solche Chancen auch in Laos sondiert werden.
Die wachsende städtische Bevölkerung muss ernährt werden
Eine der größten Aufgaben im heutigen Asien ist es, die große und weiter wachsende städtische Bevölkerung zu ernähren. Die Urbanisierung bringt Veränderungen im Lebensstil und Konsumverhalten mit sich, geprägt durch einen steigenden Bedarf an Halbfertig- oder Fertigwaren. Supermarktketten bringen sich in Stellung, um davon zu profitieren und zu den wichtigsten Lebensmittelanbietern in den städtischen Zentren zu werden. Vertikal integrierte Lieferketten, die Erzeuger, Verarbeiter, Verteiler und Händler in Verbindung bringen, werden immer wichtiger, um die geänderte Nachfrage zu decken. Supermarktketten gelingt das wegen der politischen Lockerungen der Handels- und Investitionsregeln. Ausländische Investoren tragen zu einer Änderung der Essgewohnheiten bei, indem sie den Markt mit verarbeiteten Lebensmitteln überfluten und immer mehr Menschen Zugang dazu verschaffen.
In Indien sind 2011 rund 117 Millionen US-Dollar aus dem Ausland in die lebensmittelverarbeitende Industrie geflossen, bis Ende 2013 war der Betrag auf 2,15 Milliarden US-Dollar gestiegen. Die indische Regierung will im ganzen Land 30 riesige Food Parks schaffen. Doch der Trend hin zu Supermärkten löst nicht das Ernährungsproblem einer wachsenden Bevölkerung in Asien. Er verschiebt vielmehr die Kontrolle über und den Zugang zu Lebensmitteln von Kleinbauern, Anbietern selbst zubereiteter Speisen, lokalen Lebensmittelmärkten und Verbrauchern hin zu einer Handvoll Konzernen wie CP, Aeon, Dairy Farm und Wal-Mart und anderen global tätigen Unternehmen sowie ihren Lieferanten aus der Lebensmittel- und Agrarindustrie. Das gefährdet die Existenz von Hunderten Millionen Menschen, die ihren Lebensunterhalt im Lebensmittelsektor verdienen.
In ganz Asien wachsen das Bewusstsein der Bedrohung durch die globalen Einzelhandelsunternehmen und der Widerstand gegen ihren Vormarsch. Auch künftig müssen Strategien und Alternativen zum Vertriebsmodell der Supermärkte entwickelt und vorangetrieben werden. Ziel muss es sein, sozial gerechte, gemeinwesenbasierte und öffentliche Lebensmittelsysteme zu fördern und das Überleben von kleinen Erzeugern und Märkten vor Ort zu sichern.
Der Text ist ein Auszug aus einer Studie von GRAIN vom September 2014.
Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.
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