Weltweit hungern 800 Millionen Menschen; 165 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind chronisch mangelernährt, vor allem in Afrika und Südasien. Sie bleiben lebenslang unter ihren körperlichen und geistigen Entwicklungsmöglichkeiten. Die daraus resultierenden Produktivitätsverluste und Gesundheitskosten beziffert die Welternährungsorganisation FAO auf rund 3,5 Billionen US-Dollar pro Jahr. Doch während die Mangelernährung langsam zurückgeht, bahnt sich eine neue Ernährungskatastrophe an: Immer mehr Bürger armer Länder essen Fertigprodukte der internationalen Nahrungsmittelindustrie, die vor allem Zucker, Mehl, Fett und Salz enthalten. Milliarden Menschen geraten vom Regen des „stillen Hungers“ in die Traufe von Fettleibigkeit und Diabetes.
Hersteller von Junk Food kämpfen in Industrieländern mit wachsender Verbraucherkritik und Umsatzrückgängen. In armen Ländern hingegen sehen sie neue lukrative Märkte. Besonders aktiv sind Konzerne wie Nestlé, Danone, Unilever, Coca-Cola, Pepsico und Kellogg sowie die Fastfood-Ketten Yum! (KFC, Pizza Hut, Taco Bell) und McDonald‘s. Sie suggerieren Müttern, Kindern und Jugendlichen, industriell hergestellte Kekse, Cornflakes, Chips und Softdrinks seien gesünder als Speisen, die aus frischen Zutaten selbst zubereitet werden. Industrienahrung schmecke besser, sie signalisiere einen modernen Lebensstil und erspare Arbeit und Zeit.
Häufig behaupten die Hersteller in ihrer Werbung, ihre Produkte förderten die Gesundheit. Solche „health claims“ sind in den USA und Europa nur sehr eingeschränkt zulässig. Im südafrikanischen Fernsehen hingegen wirbt der französische Konzern Danone damit, sein Joghurt Nutriday fördere die Gesundheit von Kindern; indische Frauen erfahren in wissenschaftlich wirkenden Spots, das Danone-Produkt Activia beuge Darmstörungen vor. Und Kellogg dient jungen Frauen Cornflakes mit 25 Prozent Zucker als Schlankheitskur an.
Mit besonders preisgünstigen Produkten versuchen etliche Konzerne, die sogenannte „Basis der Pyramide“ (BoP) zu erschließen: Das sind rund vier Milliarden besonders arme Verbraucher in Entwicklungsländern, die sich bislang traditionell ernähren. BoP-Produkte sind aus möglichst billigen Rohstoffen hergestellt – anstelle von Frischmilch wird etwa Magermilchpulver mit Palmöl und Wasser verwendet. Markenprodukte werden zudem in kleinsten Packungen angeboten, so dass auch Arme sie ab und zu kaufen können.
Die zunehmende „Junkfoodisierung“ der Ernährung in armen Ländern hat verheerende Folgen für die öffentliche Gesundheit: Zwischen 1980 und 2008 hat sich der Anteil übergewichtiger Männer und Frauen an der Weltbevölkerung verdoppelt; heute sind zwei Milliarden Menschen übergewichtig oder sogar krankhaft fett (adipös). In der Folge ist auch die Zahl der Diabetiker weltweit zwischen 1990 und 2013 um 45 Prozent gestiegen, in Indien hat sie sich mehr als verdoppelt.
Die Ausbreitung von Junk Food wird verstärkt durch einen fatalen Trend im Kampf gegen Mangelernährung. Regierungen und Hilfsorganisationen betonen stets, ihr Ziel sei eine ausgewogene, gesunde Ernährung. Sie propagieren langfristige Maßnahmen wie die Verbesserung der Hygiene, Ernährungsaufklärung und die Förderung von Hausgärten, Bildung, die Stärkung von Mädchen und Frauen, einen Wandel in der Landwirtschaft, den Auf- und Ausbau sozialer Sicherung und von Gesundheitsdiensten. Doch tatsächlich verlagert sich der internationale Kampf gegen Mangelernährung zunehmend darauf, Vitamin- und Mineralstoffpräparaten zu verteilen, so genannte Nutrazeutika. Der aufwendigere Kampf gegen die Ursachen des „stillen Hungers“ tritt in den Hintergrund. Das spiegelt sich in den Fördersummen wichtiger Geber wieder.
Am Tropf der Industrie
„Die Menschen hängen zunehmend am Tropf der Industrie – anstatt sich aus eigener Kraft und selbstbestimmt ausgewogen und gesund zu ernähren“, klagt Biraj Patnaik, ein Führer der indischen Kampagne für das Recht auf Nahrung. Der kulturell geprägte Vorgang des Essens degeneriere zu bloßer Nährstoffzufuhr. Dieses fragwürdige Vorgehen spielt, nicht zufällig, der Industrie in die Hände: Es hat sich eine einflussreiche Koalition gebildet, die den Kampf gegen Mangelernährung vor allem mit Hilfe von Nahrungsmitteln führt, die mit Mikronährstoffen angereichert sind.
Zu dieser Koalition zählen: das Welternährungsprogramm WFP, das UN-Kinderhilfswerk UNICEF, Stiftungen wie die von Bill und Melinda Gates und der Wellcome-Trust sowie das einflussreiche Business-Netzwerk der „Scaling up Nutrition-Initiative“ (SUN). In der globalen SUN-Bewegung gegen Mangelernährung engagieren sich zahlreiche Regierungen, UN-Organisationen, NGOs und kommerzielle Unternehmen. Die mit SUN eng verbundene, von den genannten Stiftungen finanzierte und als Stiftung verfasste „Globale Allianz für verbesserte Ernährung“ (GAIN) tritt als Wortführer und Motor auf.
GAIN fördert unter anderem Studien, die den (kurzfristigen) Nutzen von Nutrazeutika belegen. Die Organisation propagiert außerdem die obligatorische Anreicherung von Grundnahrungsmitteln wie Zucker, Mehl und Salz; sie fördert die Verteilung von Mikronährstoffpulver und Nahrungskonzentraten durch Hilfswerke wie UNICEF und das WFP sowie die Anreicherung industriell hergestellter Fertignahrungsmittel und Getränke mit Mikronährstoffen.
Entwicklungsorganisationen wie Brot für die Welt, Misereor, die Deutsche Welthungerhilfe und Terre des Hommes sprechen sich derweil gemeinsam mit ihren Partnern im Süden dafür aus, die Ursachen von Mangelernährung zu bekämpfen und nicht nur die Symptome. Die Wirksamkeit solcher langfristig angelegten Maßnahmen lässt sich jedoch nur aufwendig wissenschaftlich nachweisen. Das ist ein großer Nachteil beim Kampf um begrenzte Projektmittel, bei dem möglichst spektakuläre Erfolge mit möglichst einfachen Interventionen zählen.
Der Fokus auf Nutrazeutika, um Mangelernährung zu verhindern, ist problematisch: Nur in wenigen Fällen, wie bei der Anreicherung von Salz mit Jod und von Speiseöl mit Vitamin A, verbessert ihre massenhafte Verteilung die öffentliche Gesundheit. Sonst ist nur ein kurzfristiger Nutzen bei akutem schwerem Nährstoffmangel belegt, nicht aber eine dauerhafte Wirkung. Häufig werden zudem gerade die Ärmsten nicht erreicht. Sie können sich angereicherte Grundnahrungsmittel nicht leisten oder produzieren ihr Essen selbst. Oft leben sie so abgelegen, dass sie bei humanitären Verteilungen leer ausgehen.
Zudem kann der menschliche Organismus Nutrazeutika nur begrenzt verwerten, wenn sie isoliert von natürlichen Nahrungsmitteln eingenommen werden oder der Körper mangelernährt ist. Bei Vitamin A und Eisen besteht die Gefahr der Überdosierung. Insgesamt bekämpfen Nutrazeutika nicht die Ursachen von Mangelernährung. Sie wirken nur, solange sie verabreicht werden.
Kekse mit Mineralstoffen
Zudem ebnet die Nutrazeutika-Strategie der Junkfood-Industrie den Weg: In einer Veröffentlichung der Asiatischen Entwicklungsbank und von UNICEF vom April 2010 heißt es: „Für den Privatsektor verkörpert die Nahrungsmittelergänzung eine Geschäftsgelegenheit: Produkte mit hohem Nährwert können den Wert der Marke und die Profitabilität erhöhen.“
Die Industrie kann, nachdem die Organisation GAIN politische Vorarbeit geleistet hat, hygienisch verpackte Nahrungsmittel für die Armen als „gesunde“ Mittel gegen Mangelernährung anpreisen. Lokal hergestellte Lebensmittel wirken im Vergleich schlechter und teurer. Der in Industrieländern wachsende Trend zurück zu ökologisch produzierten, frischen Nahrungsmitteln erscheint als Luxus, den sich arme Gesellschaften nicht leisten können.
Die neue Chance, krankmachende Nahrungsmittel als „gesund“ zu verkaufen, nutzen Nahrungsmittelunternehmen etwa in Indien: In fast allen Haushalten dort werden täglich Kekse gegessen. Etliche Unternehmen haben ihre Kekse deshalb mit Vitaminen und Mineralstoffen angereichert, allen voran der Britannia-Konzern, der in Indien jährlich 30 Milliarden Packungen der Marke Tiger verkauft. Vor einigen Jahren versuchte die damalige Britannia-Chefin Vinita Bali, das gekochte Mittagessen an Indiens Schulen durch eine Packung Kekse zu ersetzen. Sie scheiterte knapp am Widerstand in Parlament und Zivilgesellschaft. Vinita Bali ist heute Verwaltungsratsvorsitzende von GAIN.
Pepsico vermarktet mit besonderem Engagement seine eisenhaltigen Lehar Iron Chusti-Kekse in der Zielgruppe anämiegefährdeter junger Mädchen. Die Kekse enthalten so viel Eisen, dass schon 50 Gramm den Tagesbedarf decken. Pepsico-Konkurrent Coca-Cola wiederum verkauft in Indien ein angereichertes Getränkepulver für Kinder namens Vitingo. Das Pulver wird in armen Regionen auch mithilfe karitativer Organisationen unter die Kinder gebracht.
Biraj Patnaik kritisiert das. Seiner Ansicht nach legen die meisten Inder Wert auf den natürlichen Ursprung ihrer Nahrung: „Wir wollen kontrollieren, was drin ist und wie es zubereitet ist. Wir wollen natürlichen Geschmack und Geruch spüren, wir wollen eingebettet in unsere Familie, Gemeinschaft und Kultur essen.“
Vorerst jedoch scheint die transnational operierende Nahrungsmittelindustrie am längeren Hebel zu sitzen. Allein die zehn größten Konzerne geben jährlich 30 Milliarden US-Dollar für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit aus. Sie manipulieren die für politische Entscheidungen maßgebliche öffentliche Meinung – und das mithilfe internationaler Organisationen, aber auch Hilfsorganisationen und der Wissenschaft: In der „Lead Group“ der SUN-Bewegung etwa sitzen – gleichrangig mit je zwei Vertretern internationaler Organisationen, der Zivilgesellschaft und der Geberländer – zwei Vertreter des SUN-Business-Netzwerks, also der Industrie: Unilever-Chef Paul Polman und GAIN-Funktionärin Vinita Bali.
Manche NGOs sind heute die Schoßhunde der Industrie
Das chronisch klamme Welternährungsprogramm unterhält Partnerschaften mit Pepsico, der Fastfood-Kette Yum!Brands, Coca-Cola, Mars, Unilever und DSM, dem in den Niederlanden ansässigen Weltmarktführer bei Nahrungsergänzungsmitteln. UNICEF betreibt in etlichen Ländern Projekte mit Coca-Cola. Margaret Chan, die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation WHO, bezeichnete 2013 transnational operierende Nahrungsmittelkonzerne als „furchterregenden Gegner“. Trotzdem sitzen im WHO-Gremium, das Richtlinien für den Zucker-, Salz- und Fettgehalt in Lebensmitteln erarbeitet, mindestens drei Experten mit finanziellen Beziehungen zu „Big Food“ – in zwei Fällen zu Nestlé, in einem zu Unilever.
Das „Panamerikanische Forum für Handeln gegen nicht übertragbare Krankheiten“ der WHO akzeptierte 2012 von Coca-Cola 50.000 US-Dollar und von Nestlé sowie Unilever jeweils 150.000 US-Dollar. Dabei darf die WHO laut einer eigenen Richtlinie Projekte nicht von Unternehmen mit kommerziellem Interesse daran fördern lassen.
Zahlreiche internationale NGOs, die vordergründig als „watchdog“ gegenüber der Industrie auftreten, sind finanzträchtige Partnerschaften mit Konzernen oder deren Stiftungen eingegangen und haben sich von der Nahrungsmittelindustrie in Schoßhunde verwandeln lassen. „Save the Children“ kooperiert unter anderem mit Unilever, Pepsico, und Mars; Care International mit Mondelez und Kellogg; World Vision mit Coca-Cola. Besonders pikant: Oxfam, das mit seiner Kampagne „Behind the Brands“ Nahrungsmittelkonzerne angeblich besonders kritisch unter die Lupe nimmt, unterhält zugleich Partnerschaften mit zwei dieser Konzerne: Coca-Cola und Unilever.
Autor
Thomas Kruchem
publiziert als Journalist sowie Hörfunk- und Buchautor zu entwicklungspolitischen Fragen.Eine in der Zeitschrift „PLOS Medicine“ veröffentlichte Studie zeigt: Von der Industrie finanzierte Untersuchungen zu Ernährungsfragen kommen vier- bis achtmal so häufig zu für die Industrie erfreulichen Ergebnissen als unabhängig finanzierte Studien. Es ist allzu offensichtlich: Zahlreiche Lebensmittelkonzerne schädigen um des Profits willen die Gesundheit wehrloser Menschen in armen Ländern – unterstützt von Teilen der Entwicklungszusammenarbeit. Es ist höchste Zeit, die Akteure auf ihre Verantwortung hinzuweisen und sie in die Pflicht zu nehmen.
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