Der Optimismus war von kurzer Dauer. Als Anfang 2011 der tunesische Diktator Zine el-Abidine Ben Ali und wenig später sein ägyptischer Amtskollege Hosni Mubarak gestürzt wurden, erwachte die Hoffnung, nun werde auch die arabische Welt von einer Welle der Demokratisierung erfasst. Die Region war weitgehend unberührt geblieben von der „dritten Welle“ von Demokratisierungsprozessen, wie sie der US-amerikanische Politologe Samuel Huntington genannt hat.
Sie begann in den 1970er Jahren, als zunächst die Diktaturen in Südeuropa fielen, in den 1980er Jahren gefolgt von den autoritären Regierungen in Lateinamerika. In den frühen 1990er Jahren ergriff diese Welle schließlich auch Mittel- und Osteuropa sowie eine Reihe asiatischer und afrikanischer Länder. Ein globaler Siegeszug der Demokratie deutete sich an. Die kommunistische Systemalternative hatte sich weitgehend selbst abgeschafft und beließ die liberale Demokratie als das einzige globale Leitbild politischer Entwicklung.
Mehr noch: Unter dem Stichwort des „Demokratischen Friedens“ setzte sich die Idee durch, mit der voranschreitenden Demokratisierung sei auch der Weltfrieden endlich in greifbarer Nähe. Denn da Demokratien keine Kriege gegeneinander führten, müsse man bloß den verbleibenden Autokratien helfen, zur Demokratie überzugehen. Entsprechend wurde in den etablierten Demokratien des globalen Nordwestens die Demokratieförderung zu einem zentralen Ziel der Außen- und Entwicklungspolitik: Politische Bedingungen für Entwicklungshilfe oder auch für Handelspräferenzen, Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialoge sowie „Demokratiehilfe“ für staatliche Institutionen und Gruppen der Zivilgesellschaft – all das sollte helfen, die Demokratie über den Globus auszubreiten und zu festigen, und nebenbei den eigenen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen dienen.
Aber bereits gegen Mitte der 1990er Jahre setzte Ernüchterung ein. Einerseits ebbte die zahlenmäßige Zunahme der Demokratien, die nach den Demokratie-Zählern von Freedom House und Polity (siehe Kasten) seit Mitte der 1970er Jahre rasant vorangeschritten war, merklich ab. Andererseits wuchsen die Zweifel an der Qualität der politischen Regime, die in diesem Zuge entstanden waren: Wie demokratisch waren sie tatsächlich?
Demokratien mit Adjektiv
Die Demokratieforschung reagierte und erfand eine Unzahl von „Demokratien mit Adjektiv“ – zum Beispiel „illiberale Demokratie“ –, um die real existierenden und auf unterschiedliche Weise mangelhaft scheinenden Demokratien zu charakterisieren. Der Übergang weg von einem autokratischen Regime, so die Erkenntnis, führt nur in Ausnahmefällen direkt zur liberalen Demokratie. Stattdessen mündet er häufig in einer Grauzone: Demokratische Verfahren mischen sich auf unterschiedlichste Art mit autoritären oder nicht demokratischen Institutionen und Praktiken. Die Friedens- und Konfliktforschung ergänzte: Politische Transformationsprozesse, vor allem wenn sie in dieser Grauzone enden, bergen ein besonderes Gewaltrisiko, sie enden mitunter in Krieg oder Bürgerkrieg. Die jüngsten Umbrüche in der arabischen Welt bestätigen diesen skeptischen Blick.
Heute ist die Ernüchterung offenem Pessimismus gewichen. Bei seiner Gründung 1990 blickte das US-amerikanische Journal of Democracy optimistisch auf „die gewaltige Chance der Menschheit, in eine neue Ära der Freiheit einzutreten“. Das Heft zum 25. Jubiläum erschien Anfang dieses Jahres unter der Leitfrage, ob die Demokratie auf dem Rückzug sei. Die Antworten fallen unterschiedlich aus: Der US-Demokratieforscher Larry Diamond sieht seit einigen Jahren eine „demokratische Rezession“ am Werk, andere sprechen von „Stagnation“ oder „Netto-Stabilität“. Der empirische Befund ist weitgehend unstrittig: Seit ungefähr 2006 haben sich die absolute Zahl und der weltweite Anteil der Demokratien nicht weiter erhöht.
Doch als Niedergang erscheint dieser Trend nur, wenn man ihn an der Erwartung aus den 1990er Jahren misst, die Demokratie schreite unaufhaltsam voran – und wenn man die gegenwärtige Stagnation nicht nur für eine vorübergehende Pause im Siegeszug der Demokratie hält. Dass diese pessimistische Lesart mittlerweile sehr viel plausibler scheint als die in den 1990er Jahren vorherrschende Idee, es gebe keine Alternative zur liberal-kapitalistischen Demokratie, liegt nicht zuletzt an größeren weltpolitischen Verschiebungen. Sie deuten darauf hin, dass die Weltordnung der Zukunft fortgesetzt vielfältig und zunehmend multipolar sein dürfte. Kern dieser These ist das viel diskutierte Phänomen aufstrebender Mächte. China mit seiner Wirtschaftsmacht und seinem nicht demokratischen System ist dabei der prominenteste Fall, Russland gegenwärtig der schwierigste.
China betreibt keine Autokratieförderung
Sie stehen denn auch im Fokus einer neuen Debatte über eine mögliche Politik der „Autokratieförderung“ – in ausdrücklicher Konkurrenz zur westlichen Demokratieförderung. Die Forschung deutet aber darauf hin, dass weder Russland noch China autokratische Herrschaftssysteme systematisch fördern. Chinas Außen- und Entwicklungspolitik ist primär von Wirtschaftsinteressen geleitet und zielt auf gute und verlässliche Beziehungen zu Regierungen des globalen Südens ab – ob diese nun demokratisch gewählt sind oder nicht. Der von der chinesischen Führung deklarierte Respekt vor der Souveränität anderer Staaten ist insofern nicht bloße Rhetorik.
Das ist im Fall Moskaus eindeutig anders – jedenfalls sobald es um die unmittelbare Nachbarschaft Russlands geht. Aber auch die russische Außen- und Entwicklungspolitik zielt weniger darauf ab, Autokratie als Herrschaftssystem zu fördern. Ihr geht es darum, politisch wohlgesonnene Regierungen zu unterstützen und gegebenenfalls solche zu unterminieren, deren Politik russischen Interessen zuwiderläuft.
Die Idee einer neuen „östlichen“ Autokratieförderung ist auch in anderer Hinsicht fragwürdig: Die Muster der chinesischen und russischen Politik sind aus Geschichte und Gegenwart der westlichen Außen- und Entwicklungspolitik nur allzu bekannt. Dies gilt für die Ausrichtung an wie auch immer definierten „nationalen Interessen“ ebenso wie für das Ergebnis: Wohlgesonnene Regierungen werden gefördert, andere im Zweifel unterminiert, auch wenn sie demokratisch gewählt sind. Die Vorstellung einer Konkurrenz zwischen Demokratien, die die Demokratie fördern, und Autokratien, die das Gegenteil tun, trägt folglich nicht sonderlich weit.
Dennoch: Die globalen Machtverschiebungen verändern auch die Bedingungen für Demokratisierung. Die Möglichkeit für Länder des globalen Südens, auf chinesische Kredite, brasilianische Investitionen oder südafrikanische Unterstützung zurückzugreifen, verringert den Einfluss „des Westens“. Das betrifft vor allem politisch und wirtschaftlich relativ schwache Länder, die von westlichen Staaten mit Vorliebe mit politischen Konditionen belegt werden. Der Aufstieg neuer Mächte eröffnet den Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas neue außenwirtschaftliche und außenpolitische Optionen.
Wie das Beispiel Lateinamerikas zeigt, geht damit keineswegs automatisch eine Abkehr von der Demokratie einher. Vielmehr nimmt der politische Homogenisierungsdruck spürbar ab. Länder können leichter eigene Entwicklungspfade einschlagen. In diese Richtung wirken auch die Erfolge Chinas bei Entwicklung und Armutsbekämpfung. Nur wenige Länder suchen das chinesische Modell offen nachzuahmen. Dennoch schwächt sein Erfolg die Losung der 1990er Jahre, Entwicklung sei nicht ohne Demokratie und freie Marktwirtschaft zu haben ist. Bestärkt wird das von der zunehmend prekären Leistung der demokratischen Staaten, von der noch zu sprechen ist.
Differenzierter Blick auf Autokratien
Kurz: Die liberale Demokratie hat ihre für selbstverständlich gehaltene Anziehungskraft verloren. Passé ist jedenfalls die Vorstellung, dass autoritäre Herrschaftssysteme strukturell instabil sind und sich deshalb eher früher als später in Richtung Demokratie wandeln. Die vergleichende Regimeforschung sucht entsprechend nicht mehr nach neuen „Demokratien mit Adjektiv“, sondern seit einigen Jahren vermehrt nach Subtypen autoritärer Herrschaft. Konzepte wie „kompetitiver“ oder „elektoraler“ Autoritarismus spiegeln die Erkenntnis, dass ein autoritärer Staat nicht schon deshalb auf dem Weg in Richtung Demokratie ist, weil er zum Beispiel Wahlen durchführt. Auch die Vorstellung, undemokratische Herrschaftssysteme beruhten im Wesentlichen auf der erfolgreichen Unterdrückung der Bevölkerung, spiegelt nicht mehr den Forschungsstand: Heute wird differenzierter untersucht, wie sich Autokratien legitimieren und stabilisieren. Die Umbrüche in der arabischen Welt zeigen nun zwar, dass die Stabilität autoritärer Herrschaftssysteme nicht überschätzt werden sollte. Sie bestätigen aber auch, dass von einer allgemeinen Ausrichtung des politischen Wandels auf die Demokratie keine Rede sein kann.
Die globalen Machtverschiebungen zeigen sich auch in einer wachsenden Skepsis und mitunter im offenen Widerstand gegen westliche Demokratieförderer. In den 1990er Jahren wurde es zunehmend selbstverständlich, dass Regierungen, Entwicklungsagenturen und mehr oder minder unabhängige nichtstaatliche Organisationen aus Westeuropa und den USA mit eindeutig politischen Zielen in innergesellschaftliche Transformationsprozesse in anderen Ländern eingreifen. Heute stellen nicht nur autoritäre Herrscher die Frage, auf welcher Legitimationsgrundlage sie das eigentlich tun.
Und es bleibt nicht bei kritischen Fragen: Dutzende Länder rund um den Globus haben in den vergangenen Jahren etwa die Möglichkeit eingeschränkt, zivilgesellschaftliche Gruppen aus dem Ausland zu finanzieren. Aus Sicht der selbst ernannten Demokratieförderer besonders unbequem: Unter diesen Ländern finden sich auch demokratisch verfasste Staaten wie Indien und Indonesien, Bolivien und Peru.
Eine Erosion demokratischer Verfahren
Das wachsende Selbstbewusstsein „der Anderen“ ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere betrifft den globalen Nordwesten selbst. „Der Westen“ und seine Politik der Demokratieförderung haben empfindlich an Glaubwürdigkeit verloren. Der völkerrechtswidrige Krieg mit dem Ziel des Regimewechsels im Irak seit 2003 hat tiefe Spuren hinterlassen. Auch der globale „Krieg gegen den Terror“ hat die Widersprüche westlicher Demokratie- und Menschenrechtspolitik verschärft – Abu Ghraib und Guantánamo, Massenüberwachung und Drohnenkrieg stehen nur für die extremen Exzesse. Der Modell- und Vorbildcharakter, den die etablierten Demokratien der sogenannten entwickelten Welt für sich beanspruchen, hat Schaden genommen. In Europa sind hierfür – neben der Komplizenschaft im US-geführten Anti-Terror-Krieg – besonders das demokratieschädliche Management der Eurokrise und die menschenverachtende Politik der Flüchtlingsabwehr verantwortlich.
Die Schwierigkeiten der westlichen Demokratieförderung verweisen mithin auf den Zustand der Förderer selbst. Es wäre übertrieben, von einer offenen Krise der Demokratie in den USA oder Europa zu sprechen. Aber Krisentendenzen und eine Erosion demokratischer Verfahren, die zunehmend ihre Substanz verlieren, sind nicht zu übersehen. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls ein Band über „Demokratie und Krise“, den der Berliner Demokratieforscher Wolfgang Merkel jüngst herausgegeben hat. Darin wird betont, dass die seit Jahrzehnten zunehmende sozioökonomische Ungleichheit politische Ungleichheit zur Folge hat und so ein Kernprinzip demokratischer Herrschaft untergräbt. Die unteren Schichten werden an den Rand und in die „Selbstexklusion“ gedrängt, und eine winzige Elite genießt die „Selbstbefreiung“ von der Sozialbindung ihres Wohlstands „bei gleichzeitigem maximalen politischen Einfluss“, resümiert Merkel.
Dramatische Formen nimmt das in den Euro-Krisenstaaten Südeuropas an. Dort verbindet sich das Demokratiedefizit der EU mit der offen antidemokratischen Logik eines globalisierten Kapitalismus, die von einer außerhalb aller Verfassungen operierenden Troika durchgesetzt wird. Demokratische Verfahren werden so weitgehend zur Farce, die sozialen Grundlagen der Demokratie untergraben.
Autor
Jonas Wolff
ist Vorstandsmitglied und Programmbereichsleiter am PRIF und Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Transformationsforschung, Fokus Lateinamerika, an der Goethe-Universität Frankfurt (wolff@prif.org).Insofern ist es kein Widerspruch, dass die etablierten Demokratien Westeuropas und Nordamerikas selbst zum Ziel prodemokratischer Proteste werden, ob in Gestalt von Occupy Wall Street oder der spanischen Indignados. Oder dass in Lateinamerika verschiedene Experimente mit partizipativer und direkter Demokratie die repräsentative Demokratie ergänzen, aber mitunter auch herausfordern. Im Idealfall, so ließe sich die Ernüchterung der Demokratieforscher positiv wenden, könnte an die Stelle des globalen Leitbilds der neoliberalen Demokratie eine Auseinandersetzung über vielfältige Formen demokratischer Herrschaft treten.
ZUM WEITERLESEN
- Thomas Carothers und Oren Samet-Marram: The New Global Marketplace of Political Change; Carnegie Paper, April 2015, http://carnegieendowment.org
- Journal of Democracy, Jg. 26 Nr. 1 (2015): Is Democracy in Decline?
- Wolfgang Merkel (Hg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie; Springer VS, Wiesbaden 2015
- Jonas Wolff: Von Werten und Schurken. Menschenrechte, Demokratie und die normative Grundlagen deutscher Außenpolitik; HSFK Standpunkte Nr. 3 (2013), www.hsfk.de
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