Das Problem mit den Patriarchen

Die Gewalt gegen Frauen in Indien ist das Ergebnis einer sexistischen Männer­gesellschaft. Allein mit neuen Gesetzen lässt sich das Problem nicht lösen. Auch die Männer müssen sich ändern.

Das Hemd in die Hose gesteckt, die Haare kurz, der Schnauzer lang: Sunil Chachar sieht aus wie einer von Millionen. Und doch drehen sich viele Passanten nach dem 25-Jährigen um. „Stoppt die Gewalt!“ ruft er. Und: „Lang lebe die Gleichberechtigung!“ Es ist der internationale Frauentag in Pune und ein paar Dutzend junge Männer haben sich dem Protestmarsch angeschlossen; in respektvollem Abstand folgen sie den Demonstrantinnen durch die Millionenmetropole.

In Indien steht der Aktionstag am 8. März im Zeichen der jüngsten Proteste gegen die Gewalt an Frauen, ausgelöst durch den Tod einer Studentin, die im Dezember 2012 von sechs Männern vergewaltigt worden war. Auch Tausende Männer sind seitdem auf die Straße gegangen, um ihre Solidarität zu zeigen. Sunil Chachar ist jedoch schon länger dabei. Seit einigen Jahren arbeitet der Sozialarbeiter für die Equal Community Foundation (ECF), die sich in Punes ärmeren Stadtvierteln gegen die Diskriminierung von Frauen wendet. Die Organisation richtet sich gezielt an junge Männer und versucht, ihr traditionelles Rollenverständnis zu durchbrechen und sie zu einem gewaltfreien Umgang mit Frauen zu bewegen.

Auch für Anand Pawar von der Organisation Samyak ist ein solcher Mentalitätswechsel die Voraussetzung dafür, dass die Benachteiligung der Frauen abnimmt. Immerhin haben die jüngsten Proteste in Indien eine öffentliche Debatte über die Ursachen der Diskriminierung von Frauen angestoßen. Seitdem werde auch mehr über die Verantwortung der Männer gesprochen, sagt Anand Pawar. „Früher wurde das als reines Frauenproblem wahrgenommen.“ Doch die patriarchalischen Traditionen, die in der indischen Gesellschaft über Jahrtausende die Überlegenheit der Männer zementiert haben, ändern sich nur sehr langsam.

Noch heute fühlen sich viele Familien verpflichtet, eine hohe Mitgift zu zahlen, wenn ihre Tochter verheiratet wird – obwohl diese Praxis seit 1961 gesetzlich verboten ist. Diese Kosten vermeiden manche Eltern von vorneherein: Obwohl die vorgeburtliche Geschlechtserkennung seit 1994 untersagt ist, werden in Indien jeden Monat laut Schätzungen des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen 50.000 weibliche Föten abgetrieben. Die Folge: Auf 1000 Männer kommen im Schnitt nur 940 Frauen, für Millionen Inder bedeutet das ein Leben ohne Frau.

Anand Pawar betont, Männer seien nicht nur Täter, sondern als Richter, Beamte, Polizisten oder Ärzte auch dafür verantwortlich, dass Gesetze wie das Verbot der Geschlechtserkennung angewendet und Vergewaltigungsfälle aufgeklärt werden. Oft würden Frauen sich nicht trauen, Vergewaltigungen anzuzeigen, weil sie von den Behörden nicht ernst genommen werden oder gar zusätzlichen Missbrauch befürchten. Seine Organisation berät Parteien, Verbände, Medienvertreter und Unternehmen in Geschlechterfragen und setzt sich bei den überwiegend männlichen Entscheidungsträgern für mehr Gleichberechtigung ein. Das sei wirkungsvoller, als unter der ärmeren Bevölkerung einzelne für das Thema zu sensibilisieren, findet Pawar.

Allerdings stoßen er und seine Kollegen mit ihrem Anliegen gerade bei gesellschaftlich und wirtschaftlich besser gestellten Männern oft auf Ablehnung. Männer aus den oberen Kasten hätten selbst weniger Diskriminierung erlebt als jene aus den unteren Kasten, die die Probleme der Frauen deshalb oft besser nachvollziehen könnten. „Wenn man über Gewalt gegen Frauen spricht, muss man auch über Gewalt innerhalb des Kastensystems sprechen“, fordert Anand Pawar.

Reden gehört auch zum Job von Sunil Chachar in Tadiwali Road, dem ältesten Slum von Pune. 35.000 Menschen leben hier, das Bildungsniveau ist niedrig, die Kriminalität hoch. Für den 17-jährigen Aakash und den 21-jährigen Mahindra ist Sunil Chachar ein bisschen wie ein großer Bruder. Es hat den NGO-Mitarbeiter viel Geduld und Überzeugungskraft gekostet, die beiden Teenager zu überreden, an seinen Workshops teilzunehmen. Zu mädchenhaft sei ihm das damals vorgekommen, erzählt Aakash, der für sein Alter erwachsen und ernst wirkt. Weil Mahindra mitmachte, kam er dann doch. Drei Monate lang, einen Abend pro Woche.

Neben Rollenspielen und Filmvorführungen wird bei den Treffen viel diskutiert: über ganz alltägliche Dinge wie Freunde und Schule, aber auch über die Zwangsverheiratung minderjähriger Mädchen oder Gewalt in der Familie. Besonders groß ist der Gesprächsbedarf beim Thema Sex, berichtet der Sozialarbeiter. Über Gefühle zu reden, gerade mit Frauen,  gelte unter Männern als Schwäche. Ihm gehe es darum, mit den Jugendlichen offen über ihre Beziehungen zu sprechen und sie zum Nachdenken anzuregen, sagt Sunil Chachar: „Sie sollen ihr eigenes Verhalten gegenüber Frauen reflektieren und es im besten Fall korrigieren.“

Nach den Schulungen sollen sich die jungen Männer in einem sogenannten „Alumni Program“ in ihrer Gemeinschaft für die Rechte und Interessen der Frauen einsetzen. Aakash und Mahindra führen in ihrem Viertel regelmäßig kleine Theaterstücke über das Problem der Mitgift auf, bei denen der kräftige Mahindra gerne in die Rolle der Braut schlüpft. Auch in Gesprächen mit anderen Jugendlichen ist ihr Verhalten gegenüber Frauen ein Thema. Mahindra sagt, er gehe dazwischen, wenn andere einem Mädchen auf der Straße nachsteigen: „Aber nur wenn ich die Leute kennen. Fremde denken doch sofort, dass ich in sie verliebt bin.“

Um herauszufinden, ob das Programm seinen Zweck erfüllt, befragen Mitarbeiter der Stiftung regelmäßig die Mütter und Schwestern der männlichen Teilnehmer. In der Tadiwali Road haben demnach drei Viertel der  Befragten einen erfreulichen Wandel bei ihren Söhnen oder Brüdern beobachtet. Auch Aakashs Mutter ist zufrieden. Ihr Sohn helfe nun öfter im Haushalt oder gehe mit ihr einkaufen, erzählt sie. Und er versuche seine 15-jährige Schwester zu bewegen, wieder in die Schule zu gehen. „Ausbildung ist doch wichtig, auch für Mädchen“, sagt Aakash.

Eine Einstellung, die in Indien nicht alle teilen: Bei der Bildung investieren Familien eher in die Söhne, viele Mädchen werden zudem schon als Minderjährige verheiratet. Laut UNESCO haben zwischen 2006 und 2010 nur ein Viertel aller Mädchen die Oberschule abgeschlossen, bei den männlichen Schülern waren es doppelt so viele. Wegen der großen Benachteiligung der Frauen in Bildung, im Berufsleben sowie bei politischen Ämtern landet Indien auf dem Index der geschlechtsspezifischen Ungleichheit der Vereinten Nationen auf Platz 132 – noch hinter dem Irak, Pakistan und dem Iran. Von allen asiatischen Ländern schneidet nur Afghanistan noch schlechter ab.

Wie schwierig es ist, festgefahrene Rollenmuster aufzubrechen, weiß auch Harish Sadani aus Mumbai. Er gehört zu den Gründern der Organisation MAVA (Männer gegen Gewalt und Missbrauch), die als erste Männerinitiative Indiens 1993 ihre Arbeit aufnahm. Sadani wuchs als Waise in einfachen Verhältnissen bei einer alleinstehenden Tante auf, hörte durch die dünnen Wände der Einzimmerwohnung, wie die Nachbarn ihre Frauen verprügelten. Später entwickelte er durch eine Brieffreundschaft mit einer feministischen Schauspielerin ein Interesse für Geschlechterfragen. Die präventive Arbeit mit jungen Männern findet er sinnvoll – auch aufgrund eigener Erfahrungen.

Wenn der 46-Jährige heute über seine Erfahrungen in den vergangenen zwanzig Jahren spricht, liegt nur ein Atemzug zwischen Euphorie und Ernüchterung. Zwar habe MAVA seit 2006 mit Workshops, Öffentlichkeitsarbeit und einer Beratungshotline für Jugendliche rund 40.000 Menschen in Mumbai und anderen Teilen des Bundesstaates Maharashtra erreicht – gesellschaftlich habe sich aber wenig verbessert. Im Gegenteil: Seit den 1990er Jahren sei ein religiöser Fundamentalismus erstarkt, der ein traditionelles Geschlechterbild propagiert. „Die selbsternannten Sittenhüter der Hindunationalisten sehen in der Emanzipation einen Angriff auf die indische Kultur“, sagt Sadani. Das seien die gleichen Leute, die nach einer Vergewaltigung den Opfern eine Mitschuld geben, weil sie mit ihrer „unsittlichen“ Kleidung die Männer provoziert hätten.

Trotzdem ist Harish Sadani von seinem Weg überzeugt. Denn die Männer litten ebenfalls unter den patriarchalischen Strukturen, sagt er. Die Erwartung, als Beschützer und Ernährer allein für das Wohl der Familie verantwortlich zu sein, sei vor allem für ärmere Männer ein Problem. Das gelte auch für die  überzogenen Männlichkeitsstereotypen: „Echte Kerle müssen stark und sexuell omnipotent sein und sich im ständigen Wettbewerb beweisen. Das überfordert die meisten Männer.“

Autor

Sebastian Drescher

ist freier Journalist in Frankfurt und betreut als freier Mitarbeiter den Webauftritt von "welt-sichten".

Auch deshalb seien mehr Initiativen nötig, die sich gezielt an Männer richten. Am liebsten würde Harish Sadani Workshops mit Jugendlichen im ganzen Land organisieren. Das Interesse sei da, aber es fehle das Geld, sagt er. Bislang reichen die finanziellen Mittel von MAVA, die unter anderem von der  Schweizer Hilfsorganisation Swissaid unterstützt wird, nur für fünf Schulen in Mumbai. Öffentliche Fördermittel seien für solche Vorhaben kaum vorhanden. Und vielen privaten Sponsoren und Unternehmen seien die Programme zu langwierig, sie wollten schnelle Ergebnisse sehen. Da ist die  Equal Community Foundation in Pune besser dran. Dank großzügiger Finanziers wie dem indischen Mischkonzern Tata arbeitet sie in zwanzig Slums der Metropole. Potenzial für eine Ausbreitung ähnlicher Programme sehen die Verantwortlichen der Stiftung in der Kooperation mit Frauenorganisationen, von denen bislang nur ein Bruchteil mit Männern arbeite.

Und die Politik? Das Oberhaus des indischen Parlaments hat im März ein neues Gesetz verabschiedet, das die Höchststrafe für Vergewaltiger von 10 auf 20 Jahre anhebt. In besonders schweren Fällen sowie bei Wiederholungstätern kann die Todesstrafe verhängt werden. Auch das verharmlosend als „Eve Teasing“ (Eva-Necken) bezeichnete Stalking kann jetzt strafrechtlich verfolgt und mit Gefängnis geahndet werden. Indiens Innenminister Sushil Kumar Shinde ist davon überzeugt, dass sich der nötige Mentalitätswandel auf diese Weise schon einstellen wird. Harish Sandani mag daran nicht so recht glauben. Die Ankündigung der Regierung, ein Sensibilisierungsprogramm für männliche Jugendliche aufzubauen, habe zwar Hoffnungen geweckt. Doch seit dem Versprechen im Dezember ist nichts passiert. „Die Politik nimmt die Männer eben nur als potenzielle Täter wahr, vor deren Gewalt die Frauen beschützt werden müssen“, sagt Harish Sadani.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2013: Wer spricht Recht?
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