Die G20 haben sich auf ihrem jüngsten Gipfeltreffen in Seoul zum ersten Mal mit Entwicklungspolitik befasst und einen „Entwick-lungspolitischen Konsens“ beschlossen. Wie bewerten Sie diesen Konsens?
Wahl: Ich finde sehr problematisch, dass die G20 sich mit Entwicklungspolitik beschäftigt. Die Gruppe ist gegründet worden, um die Finanzkrise zu managen. Jetzt versucht sie, andere Themen an sich zu ziehen, für die sie keine Kompetenz hat und für die es genügend kompetente Organisatio- nen gibt, vor allem im UN-System. Das heißt die G20 verstärkt die Tendenz zur Marginalisierung der Vereinten Nationen (UN). Zudem ist der Seoul-Konsens auch inhaltlich problematisch. Er ist eine Mi- schung aus Gemeinplätzen und sehr einseitigen Orientierung auf den Privatsektor und fällt hinter frühere Erkenntnisse zurück. Zum Beispiel hatte die G8 zum Hungerproblem weiter gehende Be- schlüsse gefasst. Im Seoul-Konsens kommt das Problem der Spekulation mit Nahrungsmitteln gar nicht mehr vor.
Teilen Sie diese Kritik, Herr Zattler?
Zattler: Nein. Die G20 hat in ihrem Aktionsplan auch konkrete Schritte vereinbart – zum Beispiel hat sie die Weltbank aufgerufen, Standards für Privatinvestitionen auszuarbeiten, die über die vorliegenden hinausgehen. Das wich- tigste ist aber, dass sie eine Grundlage für die Diskussion über Entwicklungspolitik in der G20 gelegt hat. Wir müssen ein gemeinsames Verständnis entwickeln, weil wir sonst die Probleme von Entwicklung und Armut nicht lösen können. Man kann natürlich fragen, warum die G20 das angehen und nicht die UN. Ich fände auch ideal, wenn es einen UN-Mechanismus gäbe, der schnelle Ent- scheidungen ermöglicht. Aber die 192 Mitgliedsländer machen die UN sehr schwerfällig. Die Alternative zur G20 ist deshalb in der Praxis die G7 oder die G8. Die haben aber wesentlich weniger Legitimität als die G20. Deshalb sollte man auf die G20 setzen und zugleich sicherstellen, dass sie gut mit den anderen globalen Institutionen zusammenarbeitet, besonders den UN. Die G20 will die UN nicht schwächen.
Wahl: Sie beziehen sich auf den alten Gegensatz zwischen Effizienz und Demokratie oder Partizipation. Aber selbst die G7 beziehungsweise G8 sind gar nicht effizient. Diese Gruppe ist noch kleiner als die G20 und müsste demnach noch effizienter sein. Sie war aber nicht in der Lage, in der Entwicklungspolitik etwas zu bewegen. Sie haben in der Vergangenheit eine Reihe von Beschlüssen gefasst und Versprechen gemacht, von denen kaum eines gehalten wurde, zum Beispiel die Hilfe für Afrika bis 2010 auf 50 Milliarden US-Dollar zu erhöhen. Die Beschlüsse der G20 etwa zu Währungsfragen zeigen jetzt, dass diese Gruppe noch weniger bewirken wird. Sie ist nichts anderes als der Standortwettbewerb mit anderen Mitteln: Aufstrebende Mächte wie Indien und China wollen ihre Interessen durchsetzen, während die alten ihre Interessen zu wahren versuchen.
Macht Partizipation stets handlungsunfähig? Die UN haben doch in der Entwicklungspolitik einen breiten Konsens gefunden, die Millenniums-Entwicklungsziele.
Zattler: Ich will nicht so verstanden werden, dass die UN nutzlos wären. Aber wir sollten nicht naiv sein: Damit die UN wirksam sein können, braucht man andere Gremien, in denen entscheidende Länder ihre Positionen austauschen, Entscheidungen vordisku- tieren und auch einmal Vorentscheidungen fällen. Die UN sind sehr wichtig und ein Forum mit besonderer Legitimation wegen ihrer universellen Mitgliedschaft, aber andere Foren haben auch ihre Legitimation. In den UN hat Tuvalu mit ein paar Tausend Einwohnern dasselbe Stimmrecht wie China mit 1,3 Milliarden. Die Länder der G20 vereinen zusammen zwei Drittel der Weltbevöl- kerung, 90 Prozent des Welteinkommens und 80 Prozent des Welthandels auf sich. Es ist legitim und nichts Neues, dass Länder sich treffen, die glauben gemeinsame Anliegen zu haben – das tun auch die Schwellenländer und die ärmsten Länder. Die entscheidende Frage ist, wie diese Gruppen mit internationalen Institutionen wie den UN, dem IWF und der Weltbank zusammenarbeiten. Können Sie sich ein Gremium in den UN vorstellen, das Wirtschafts- und Finanzfragen mit Entwicklungsfragen zusammenführt und die Kraft der G20 mit der Legitimität der UN verbindet?
Wahl: Ursprünglich war der Wirtschafts- und Sozialrat der UN als ein solches Steuerungsgremium konzipiert – ähnlich wie der UN- Sicherheitsrat. Daraus ist im Kalten Krieg nichts geworden. Aber ein solches Gremium wäre absolut notwendig. Weltfinanzfragen zum Beispiel haben zum Teil dramatische Folgen für Entwicklungsländer. Deshalb muss man diese Strukturfragen der Weltwirtschaft unbedingt mit der Entwicklungspolitik verzahnen. Davon ist im Entwicklungs-Aktionsplan von Seoul nichts zu erkennen. Das ist ein Rückschritt.
Wäre die Chance, verbindliche Beschlüsse zu fassen, in einem UN-Wirtschaftsrat nicht kleiner als in den G20?
Wahl: Auch die G20 fasst keine bindenden Entschlüsse. Das sind alles Empfehlungen.
Zattler: Die G7/G8 haben durchaus Beschlüsse auf den Weg ge- bracht, zum Beispiel bei der Entschuldungsinitiative – auch wenn die Entscheidungen dann in der Weltbank oder dem IWF gefasst und umgesetzt worden sind. So kann das auch bei der G20 sein, sie kann Entscheidungen vorprägen. Es ist im Übrigen denkbar, dass in den UN irgendwann einmal zum Beispiel ein Weltwirtschaftsrat geschaffen wird. Aber das ist ein sehr langwieriger Prozess, und ein solcher Weltwirtschaftsrat müsste sehr viel kleiner sein als die UN- Generalversammlung. Würde er dann nicht so ähnlich aussehen wie die G20, zu denen ja auch etwa afrikanische Länder zusätzlich eingeladen werden? Zudem ist das Zukunftsmusik. Jetzt ist der realistische und gute Ansatz, Gruppen wie die G20 mit den UN zu verknüpfen.
Seit langem erarbeiten die OECD- Länder im Entwicklungshilfe-Ausschuss der OECD Standards für ihre Entwicklungshilfe. Halten Sie diesen Ansatz für besser als den der G20?
Wahl: Seit vierzig Jahren erfüllen die OECD-Länder das 0,7-Prozent- Ziel nicht, die Millenniumsziele werden nicht erreicht und der Washington-Konsens, nach dem wirtschaftliche Liberalisierung Entwicklung bringt, hat das Gegenteil dessen erreicht, was er versprochen hat. Da ist eine grundsätzliche Bestandsaufnahme der Entwicklungshilfe nötig. Die G20 hat das nicht einmal im Ansatz geschafft. Der Seoul-Konsens liest sich mit seiner simplen Vergötzung des Privatsektors wie ein altes Weltbank-Papier. Dahinter steckt ein heimliches Ziel: die aufstrebenden Schwellenländer in einen entwicklungspolitischen Dialog zu verwickeln, um ihnen Standards beizubringen, die sich in fünfzig Jahren Entwicklungspolitik herausgebildet haben. Das wäre nicht einmal schlecht, wenn beide Seiten offen wären. Man kann, was Armutsbekämpfung angeht, von den Chinesen und Brasilianern mehr lernen als von allen anderen.
Zattler: Die Schwellenländer können in der Tat wichtige Erfahrungen einbringen. Wir sollten uns vor der Haltung hüten, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen und wollten die Standards aus der OECD festschreiben. Ich stimme auch zu, dass wir über die Entwicklungshilfe im engeren Sinn hinausgehen und alle Fragen angehen müssen, die Entwicklungsländer betreffen – etwa Direktinvestitionen, Handel oder die Weltfinanzordnung. Aber anders als Peter Wahl sehe ich im Seoul-Konsens viele Aspekte, die über den Washington-Konsens hinausgehen. Zum Beispiel ist man offen für den Schutz der Kapitalmärkte und die Rolle des Staates im Entwicklungsprozess.
Die G20 haben diskutiert, nach dem Beispiel der Europäischen Union alle Produkte aus den ärmsten Ländern zollfrei auf ihre Märkte zu lassen. Das haben sie aber nicht beschlossen. Warum schreckt die G20 davor zurück?
Zattler: Das zeigt, dass es in der G20 nicht leicht ist, eine gemeinsame Linie zu finden. Wir hätten uns diesen Beschluss gewünscht, er war aber nicht möglich. Doch es ist genau die Chance der G20, Schritte aus der EU oder der G8 in einem viel größeren Rahmen zu diskutieren. Wenn das gelingt, hat man sehr viel mehr erreicht als in anderen Gremien, denn China und Indien sind für die Länder mit niedrigem Einkommen ein wichtiger und wachsender Markt.
Wahl: Die Welthandelsorganisation ist zur Zeit blockiert wegen der scharfen Interessenskonflikte zwischen den Schwellenländern sowie den USA und Europa. Und genau das zeichnet sich bei den großen Streitfragen auch in der G20 ab. Ich bezweifle, dass die von der G20 praktizierte Form von Multilateralismus diese Probleme lösen kann. Man sollte stärker nach anderen Wegen suchen, zum Beispiel Koalitionen von gleichgesinnten Ländern, die auf einzelnen Politikfeldern eine Vorreiterrolle spielen.
Zattler: Natürlich ist es sehr schwierig, bei zentralen Fragen der Weltwirtschaft wie dem Weltwährungssystem und den Un-gleichgewichten im Welthandel Fortschritte zu machen. Aber ist es nicht ein bisschen naiv zu meinen, dass man sie mit einem einzigen G20-Treffen klären kann? Bisher hat es zum Beispiel in der Geldpolitik keinerlei Abstimmung gegeben – jedes Land ist seinen Interessen gefolgt, ohne die der anderen und die Gesamtheit zu berücksichtigen. Jetzt versucht man Absprachen zu treffen. Die Beschlüsse in Seoul haben das Problem nicht gelöst, aber sie sind ein Anfang.
Das Gespräch führten Bernd Ludermann und Johannes Schradi.
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