Steile Thesen und Kirchenschelte

Mit seiner Grundannahme, dass der Nahe Osten eine hoffnungsvolle Zukunft hat, eröffnet Daniel Gerlach einen neuen Blick auf die krisengeschüttelte Region. Beim genauen Hinsehen allerdings erscheinen einige Thesen recht gewagt.

Endlich will mal jemand die Zukunft des Nahen Ostens positiv sehen und sucht nach Akteuren, die sich für Demokratie, Freiheit und Frieden einsetzen! Der Orientalist Daniel Gerlach stellt in seinem Buch unter anderem eine bislang noch recht unbekannte Gruppe syrischer Intellektueller aus verschiedenen politischen Lagern und Familienclans vor. Diese „Tafelrunde“, wie der Publizist sie nennt, hat im November 2017 eine Art Gesellschaftsvertrag für alle Volksgruppen in Syrien veröffentlicht – jenseits von Kategorien wie Opposition, Rebellen oder Regime. Dass in dem Dokument die Schuld für den Krieg nicht allein bei einer Seite und auch nicht allein bei ausländischen Mächten, sondern unter anderem in der tief gespaltenen syrischen Gesellschaft gesucht wird, macht die „Ritter‘“ dieser Tafelrunde zu glaubwürdigen Gesprächspartnern.

Um die Zerrissenheit der Gesellschaften im Nahen Osten zu erklären, führt Gerlach den Begriff des „Sektarismus“ ein. Dieser beschreibt anders als „Konfessionalismus“ die Machtverteilung nicht nur entlang von Konfessionszugehörigkeit, sondern nimmt auch die daraus folgenden Ressentiments gegenüber der jeweils anderen ethnischen oder religiösen Gemeinschaft in den Blick. Jede Gruppe versuche demnach, die anderen zu verdrängen und zu beherrschen. Womit der Autor einen der wichtigsten Missstände der Gesellschaften im Nahen Osten auf den Punkt bringt.

Gerlachs Schreibstil ist dabei Geschmackssache. Manche Überschrift erinnert an „Jim Knopf“ und andere Kinderbücher, wenn es zum Beispiel heißt „Viertes Kapitel, in dem eine syrische Tafelrunde gelobt, ihre Heimat nicht länger den Barbaren zu überlassen“. Auch kommt der eine oder andere Kapitel­einstieg sehr leichtfüßig daher. So sinniert der Autor ausgiebig über männliche Gesichtsbehaarungen auf orientalischen Straßen – vom Hipster-Bart über das Modell Waldschrat bis zum „Slawenhaken“, einem Schnäuzer, der die Mundwinkel einrahmt –, um dann bei keinem Geringeren als dem libyschen Feldmarschall Khalifa Belqasim Haftar anzukommen, einem „überzeugten Schnurrbartträger“. Was nun dessen Bart mit der Situation in Libyen zu tun haben soll, erschließt sich der bartlosen Rezensentin nicht wirklich, die im Übrigen in dem ganzen Buch vergeblich nach Stimmen von Frauen gesucht hat.

Dass der Nahostexperte mit seiner persönlichen Meinung nicht hinterm Berg hält, ist legitim. Kritisch wird es allerdings, wenn er Thesen auf nicht belegte Vermutungen oder auf Hörensagen stützt. Das wird besonders in dem schmalen Kapitel zu den Kirchen im Nahen Osten deutlich: Gerlach rät darin jedem, der das Christentum im Nahen Osten bewahren wolle, sich nicht auf die Kirchen zu verlassen, denn Bischöfe und Patriarchen seien „zuverlässige, willfährige Genossen despotischer Regime“, die „die ihnen Anbefohlenen als Tributzahler und dumme, unmündige Schafe halten“. Allein zwei Zeitungsinterviews von 2015 und 2016 mit Kirchenmännern aus der Region gibt er als Quelle an. Selbst scheint er mit keinem Bischof oder Patriarchen gesprochen zu haben. Diese wenig fundierte, dafür umso pauschalere Kirchenkritik ist unter deutschen Nahostexperten en vogue. Warum sie nicht gleichermaßen an Imamen und Muftis geübt wird, bleibt eine offene Frage.

Bei alldem liefert Gerlach aber auch einige nützliche Debattenbeiträge, wie beispielsweise mit seiner Kritik an westlichen Förderprogrammen, die viel Geld in Trainings für „Advocacy“, „Sustainability“ oder „Leadership“ stecken, um Menschen mit viel theoretischem Wissen auszustatten, für das es in ihren Ländern aber kaum Anwendungsmöglichkeiten gibt.

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