In der Weltfinanzkrise 2008 und 2009 erschien vielen die G20 als Retter in der Not. Sie vereinbarte Maßnahmen zur Konjunkturbelebung und stellte die Weichen zur Eindämmung der Finanzspekulation und zur Regulierung der Finanzmärkte. Karoline Postel-Vinay von der französischen Eliteuniversität Science Po erklärt, wie es zu der Aufwertung der G20 kam und wie das zu bewerten ist.
Zur Gruppe der Zwanzig zählen die sieben führenden Industrieländer (G7), die Europäische Union, die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sowie Australien, Südkorea, Indonesien, die Türkei, Saudi-Arabien, Mexiko und Argentinien. Laut Postel-Vinay handelt es sich nicht um ein neues Direktorat zur Gestaltung der Weltordnung. Die Gruppe lässt sich eher als ein „Versuchslabor“ begreifen, in dem in immer neuer Zusammensetzung versucht wird, Lösungen für die Funktions- und Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft zu finden. Die Autorin wendet sich damit gegen den Vorwurf, hinter der G20 stecke ein Plan von privilegierten Staaten zur Beherrschung der Welt – ein Vorwurf, der den Gipfeltreffen bislang regelmäßig globalisierungskritische Proteste beschert.
Postel-Vinay belegt ihre These zunächst mit Blick auf die historische Entwicklung der G20. Die Entstehung solcher „Gs“ ist nichts grundsätzlich Neues. Sie bilden sich seit mehr als 50 Jahren parallel zur Entwicklung des Multilateralismus, des Systems vertragsbasierter internationaler Organisationen. Postel-Vinay hält sie für anachronistisch, sofern sie als exklusive machtpolitische Allianzen auftreten, wie die G77 in den 1960er Jahren als Kampfinstrument des Südens gegen den Norden oder die sicherheitspolitisch motivierte Erweiterung der G7 um Russland zur G8 von 1998 bis zur Krimkrise 2014.
Als Ausdruck von „Netzwerkdiplomatie“ zur schnellen Krisenbewältigung oder als Anstoß für grundlegende Reformen seien die „Gs“ jedoch wichtig, so Postel-Vinay. Die Entstehung der G20 verortet sie in den Kontext der Asienkrise 1997 und 1998. Damals erschütterte eine gigantische Devisenspekulation boomende Staaten Südost- und Ostasiens, und harsche Konditionen für die Rettungskredite des IWF verschärften die Krise. Um eine drohende Konfrontation zwischen „Asien“ und dem „Westen“ zu verhindern und eine gemeinsame Lösung für die global verflochtenen Ökonomien zu finden, versammelten sich die Finanzminister und Zentralbankchefs der wichtigsten Ökonomien von einer G22 bis hin zu einer G33, um schließlich die G20 als geeignetes Forum zu finden.
Ein exklusiver Club ist daraus nicht geworden. Mit China und Indien ist bereits ein großer Teil der Weltbevölkerung repräsentiert, Weltbank und Internationaler Währungsfonds arbeiten mit, weitere UN-Organisationen sind mit der Gruppe vernetzt und weitere Länder werden als Gäste zu den Gipfeln eingeladen. Doch nicht ihre Repräsentativität legitimiert die G20, sondern ihr Beitrag zur Lösung von Problemen. Postel-Vinay stellt sie als erste Staatengruppe jenseits des Nord-Süd-Konflikts dar. Sie weist auf die Fragmentierung des Südens hin, auf die unterschiedlichen Entwicklungspfade, die dort beschritten werden, und auf das Herauswachsen der Schwellenländer aus der Gruppe der Entwicklungsländer.
Dies erinnert an die These vom Ende der Dritten Welt, die Ulrich Menzel bereits Anfang der 1990er Jahre in der deutschen entwicklungspolitischen Debatte vertreten hat. Zwar existieren innerhalb der G20 vielfältige Spaltungen in politischen Fragen, etwa im Verhältnis zur Demokratie oder zu militärischen Interventionen. Für Postel-Vinay belegt die G20 aber, dass es in der Wirtschaft nicht mehr um Sieg und Niederlage geht. Ob das Wirken der Gruppe nur der Reparatur einer neoliberalen Weltwirtschaftsordnung dient oder die Weichen zur nachhaltigen Reform stellt, wird die Zukunft zeigen. Das Buch liefert dazu auf jeden Fall eine lohnende Lektüre.
Hartwig Hummel
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