Gruppenbild mit Gandhi: Schon in der Grundschule lernen die Kinder in Indien das Erbe des Freiheitskämpfers kennen.
Regungslos sitzt der Vater der Nation auf der Wiese, die Augen zur Meditation geschlossen. Der Strom von Besuchern scheint ihn nicht zu stören, auch nicht, als eine Horde quirliger Grundschulkinder ihn so eng umzingelt, dass nur noch sein kahler Kopf auszumachen ist. Zwei Mädchen haben auf dem Schoß der Bronzestatue Mahatma Gandhis Platz genommen, ein Junge streicht ihm über den Kopf. Die Lehrerin sortiert ihre Schützlinge zum Gruppenfoto. „Wer ist dieser Mann?“, fragt sie. „Bapujiii!“, rufen die Schüler im Chor, „unser verehrter Vater!“. So wird Gandhi in Indien bis heute genannt.
Jeden Tag besuchen Hunderte Familien, Tagestouristen und Schulklassen den Sabarmati-Aschram im Norden von Ahmedabad, der Hauptstadt des westindischen Bundesstaats Gujarat. Der Aschram, der 2017 sein hundertjähriges Bestehen beging, beherbergt heute ein Museum, in dem der Werdegang Gandhis nachgezeichnet wird – vom schüchternen Jurastudenten zum pazifistischen Anführer des Kampfes um die Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialmacht. Und er ist Sitz zahlreicher Hilfsorganisationen, die Gandhis Erbe weiterführen, indem sie Arme unterstützen und sich für mehr Gerechtigkeit einsetzen.
Mohandas Karamchand Gandhi gründete 1917 im Alter von 48 Jahren am Ufer des Sabarmati-Flusses eine Kommune, die für dreizehn Jahre zum Laboratorium seiner spirituellen, gesellschaftlichen und politischen Ideale wurde. Die Grundlage bildete seine Satyagraha-Philosophie, wörtlich übersetzt das „Festhalten an der Wahrheit“. Für Gandhi bedeutete dies das unablässige Streben nach einem Leben in Wahrheit, der vollständige Einklang von Gedanke, Wort und Tat. Die Ideale des passiven Ungehorsams und gewaltlosen Widerstands entsprangen diesem Verständnis. 1930 brach er mit Bewohnern des Aschrams zu seinem berühmten Marsch auf, mit dem er das Salzmonopol der Briten abschaffen wollte.
Im öffentlichen Leben Indiens ist Mahatma Gandhi nach wie vor sehr präsent. Sein Gesicht ziert Geldscheine und Bürowände, seine Denkmäler sind auf dem Marktplatz jeder mittelgroßen Stadt zu finden. Politiker zitieren ihn gerne in ihren Reden, doch kaum jemand nimmt seine Prinzipien tatsächlich ernst. „Um ein besseres Leben zu führen, müssen die Menschen von heute die Gedanken Gandhis wieder verstehen lernen“, sagt Lata Parmar, die an der Gujarat-Vidyapith-Universität in Ahmedabad einen Master in Gandhischer Philosophie absolviert hat. Nun arbeitet sie als Sprecherin des Sabarmati-Aschrams.
Parmar sitzt auf dem Fußboden des Hriday Kunj, dem bescheidenen Wohnhaus, in dem Gandhi während seiner Zeit im Aschram lebte und Besucher empfing. Vor ihr liegt ein tragbares Spinnrad, das in einen Holzkoffer integriert ist. Gandhi habe immer ein Exemplar bei sich gehabt, erklärt Parmar, auch als er 1931 zur Round-Table-Konferenz mit den britischen Kolonialherren nach London reiste. Das „charkha“, mit dem Gandhi gegen das Baumwollmonopol der Briten protestierte, avancierte zum Symbol der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Es stand für Autonomie und Selbstversorgung, das Recht des indischen Volkes, wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen.
Langzeitfreiwilliger in verschiedenen Hilfsorganisationen
Im industrialisierten Indien des 21. Jahrhunderts jedoch erscheint das Spinnrad nur noch ein museales Erinnerungsstück im kollektiven Gedächtnis. „Das charkha war nur ein Werkzeug. Wir leben in einer anderen Zeit, wir müssen die Essenz von Gandhis Lehre neu entdecken“, sagt Madhusudan Agrawal, der gegenüber des Aschrams in einer Zweizimmer-Wohnung lebt. Der 38-Jährige ist dafür selbst einen langen Weg gegangen. Nach dem Besuch einer Filmschule in den USA reiste er monatelang durch seine Heimat, um Aktivisten und Projekte zu dokumentieren, die sich für den sozialen Wandel in Indien einsetzen.
Agrawal stieß auf den Sabarmati-Aschram und wurde zum Langzeitfreiwilligen in den verschiedenen Hilfsorganisationen, die sich dort angesiedelt haben. Sie kümmern sich um die Rechte von Frauen und Unberührbaren ebenso wie um eine bessere Versorgung mit sanitären Anlagen in den umliegenden Slums. Ihn berühre an Gandhi vor allem seine Liebe zu den Menschen und seine Fähigkeit, in jedem das Gute zu sehen, sagt Agrawal. „Wenn wir die Wahrheit des anderen anerkennen, dann fühlt er sich gehört und verstanden.“
Gandhis Ideale von Toleranz und gegenseitigem Respekt sind in Indien heutzutage wichtiger denn je. Ahmedabad steht wie keine andere Stadt für den Zwiespalt zwischen den verschiedenen Religionsgruppen in der indischen Gesellschaft. Seit Indiens turbulenter Staatsgründung und der Abspaltung Pakistans 1947 flammten immer wieder Konflikte zwischen Hindus, die 80 Prozent der indischen Bevölkerung stellen, und Muslimen, der zweitgrößten Religionsgruppe, auf. Der Frieden zwischen den religiösen Gemeinschaften war eines der wichtigsten Anliegen Gandhis. Er trat bei interreligiösen Ausschreitungen mehrfach in den Hungerstreik – so auch im Januar 1948. Kurz darauf wurde er von einem Hindunationalisten ermordet.
In Gujarat löste ein Zugunglück im März 2002 eine der schlimmsten Gewaltwellen der indischen Geschichte aus. Muslime wurden für das Unglück verantwortlich gemacht, bei dem Anhänger einer hindunationalistischen Gruppierung starben. Bei den darauffolgenden Unruhen wurden in Gujarat 800 Muslime getötet, viele davon in Ahmedabad. Dem indischen Premierminister Narendra Modi, damals Ministerpräsident von Gujarat, wird vorgeworfen, das Blutvergießen toleriert zu haben und zu spät eingeschritten zu sein.
Modi beruft sich gerne auf Gandhi
Zwar beruft sich Modi in seinen Reden gerne auf Gandhis Ideale. Doch in den vergangenen drei Jahren seiner Amtszeit haben die Hindunationalisten Rückenwind bekommen. Das äußert sich unter anderem in Zwangskonvertierungen von Muslimen zum Hinduismus. Besonders in Nordindien haben die Übergriffe auf Muslime zugenommen, etwa weil ihnen vorgeworfen wurde, Rindfleisch verzehrt zu haben. Kühe gelten den Hindus als heilig.
Mirzapur wurde von den Unruhen 2002 besonders erschüttert. Das Viertel liegt am Rand der Altstadt von Ahmedabad und ist ein Flickenteppich religiöser Gruppen und Gesellschaftsschichten. Es scheint Welten entfernt von der Stille des Sabarmati-Aschrams. Am Straßenrand diskutieren Tagelöhner beim Nachmittagstee, wachen junge Mütter über ihre Kinder, während Ziegen und Hunde im Staub nach Nahrung suchen. Die Atmosphäre ist rau, die Luft verschmutzt vom endlosen Knattern der Autorikschas.
Und doch wirken auch hier Gandhis Ideen weiter. Direkt an der Hauptverkehrsader von Mirzapur steht eine große Villa im Kolonialstil, die ihre besten Tage lange hinter sich hat. Hier ist das „Conflictorium“ untergebracht. Das Ausstellungshaus wurde 2013 eröffnet und versteht sich als interaktives Bildungszentrum rund um das Thema Konflikt. Neben einer Dauerausstellung bietet es Raum für Performances und zeitgenössische Kunst.
Die Gründerin Avni Sethi ist ein Kind von Ahmedabad, wie sie betont. Sethi sitzt am Schreibtisch ihres kleinen Büros zwischen Büchern und Kunstplakaten. Die Ereignisse von 2002 waren ein Wendepunkt in ihrem Leben: „Bis dahin geschahen gewaltsame Konflikte immer woanders.“ Seit den Unruhen sei Ahmedabad in einen tiefen Nebel des Schweigens und Verdrängens gehüllt.
Als Designstudentin erforschte Sethi, wie man künstlerisch mit dem Thema Konflikt umgehen könnte. Das Conflictorium sei als Recherchezentrum an der Schnittstelle zwischen entwicklungspolitischem Aktivismus und zeitgenössischer Kunst entstanden, erklärt sie. Die minimal eingerichteten Ausstellungsräume laden zur Reflexion über unterschiedliche Dimensionen von Konflikt ein – auf der persönlichen Ebene, in der Familie und in der Gesellschaft. In einer Galerie hängt eine Neuinterpretation von Pablo Picassos Kriegsgemälde „Guernica“, ergänzt um Elemente aus der indischen Kultur wie Rikschas und Männer mit Turbanen.
Im ersten Stock des Conflictriums lädt der „Sorry Tree“ dazu ein, Entschuldigungen auf kleinen Zetteln festzuhalten und an den staubigen Ästen eines Baumes festzubinden. Besucher haben hier Nachrichten an Eltern, Freunde oder verflossene Geliebte hinterlassen. An einer Wand steht in Pinselschrift der Abschiedsbrief von Rohith Vemula, einem kastenlosen Studenten, der sich 2016 auf dem Campus einer Universität in Hyderabad das Leben nahm. Der in Indien inzwischen berühmte Brief ist eine Erinnerung an die Formen der Diskriminierung, die die indische Gesellschaft bis heute prägen.
Autor
Marian Brehmer
ist freier Journalist und Autor mit dem Schwerpunkt islamische Kultur von der Türkei bis Indien. Er lebt in Istanbul.Im Aschram auf der gegenüberliegenden Flussseite jedenfalls weiß man, dass Gandhis „Experimente mit der Wahrheit“ – so der Titel seiner Autobiografie – nur ein Anfang waren. Die Unruhen in Gujarat 2002 bestätigten für viele dort, wie dringend die Friedensarbeit ist, die im Aschram weitergeführt wird. Ein Teil davon ist die Morgenandacht in den Räumen der Organisation Manav Sadhna, die das Leben von 900 Slumkindern im Umkreis des Aschrams verbessern will, sowohl aus Hindu- als auch aus Muslimfamilien. Die Andacht enthält Gebete aus sieben Glaubenstraditionen, die in Indien vertreten sind.
Der Hindu Madhusudan Agrawal besucht sie regelmäßig. Es gehe nicht darum, Unterschiede zu verneinen, betont er: „Unterschiede hat es zu Gandhis Zeiten gegeben und auch heute gibt es sie. Heute brauchen wir mehr denn je Aktivisten, die mit Unterschieden leben können und ihre eigenen inneren Stärken nutzen, um die Welt zu verändern“, sagt er. Gandhi habe nichts anderes getan.
Artikel über Gandhis Sabarmati Ashram
Sehr schöner Artikel. Für Frieden und Liebe zu kämpfen ist immer sinnvoll und lohnenswert, egal in welchen Umständen. Die Kernprobleme und auch die Kernlösungen bleiben über die Zeiten die gleichen und doch braucht es immer wieder AktivistInnen und VordenkerInnen, die das Prinzip des Friedens und der Wahrheit mit Leben erfüllen.
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