Der sogenannte Friedensprozess in Nahost besteht darin, dass Israel zerbombt, was die Palästinenser dann mit internationaler Hilfe wieder aufbauen. Europa könnte jetzt ein Zeichen setzen, dass es dabei nicht mehr mitmachen will und Palästina endlich als Staat anerkennen, meint der Politikwissenschaftler Yezid Sayigh.
Der Kreislauf von Aufbau und Zerstörung im Gazastreifen darf nicht zu einem Ritual werden. Das betonte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon bei der Wiederaufbaukonferenz für Gaza in Kairo Anfang Oktober. Der Krieg im vergangenen Sommer war der verheerendste von drei Gewaltausbrüchen, die die 1,8 Millionen Einwohner seit Dezember 2008 erleiden mussten. Und US-Außenminister John Kerry ergänzte: Ohne ein langfristiges Friedensabkommen sei der erneute Aufbau der Infrastruktur nicht viel mehr als provisorisches Flickwerk.
Das ist richtig. Aber es ist auch nachvollziehbar, dass die palästinensischen Führer dagegen sind, den bestehenden Friedensprozess einfach fortzusetzen, ohne seine Mängel zu beseitigen. Jetzt einfach wieder alles auf Anfang zu setzen, funktioniere nicht, sagen sie. Stattdessen sollten neue Verhandlungen zwischen einem von internationalen Institutionen anerkannten Staat Palästina und Israel über den künftigen Grenzverlauf stattfinden. Die Gespräche sollten auf Grundlage der Arabischen Friedensinitiative von 2002 durchgeführt werden und innerhalb einer international vereinbarten Frist enden. Die arabische Initiative umfasst das Angebot aller Mitglieder der Arabischen Liga, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren – wenn es auf die Grenzen von 1967 zurückzieht und einen unabhängigen palästinensischen Staat anerkennt.
Besonders radikal sind diese Vorschläge nicht. Sie plädieren für die gegenseitige Anerkennung und friedliche Koexistenz zweier souveräner Staaten – so wie das die internationale Gemeinschaft seit 1993 unterstützt. Aber es mangelt den Palästinensern an Einfluss, den Prozess in diese Richtung zu lenken und die internationale Zuständigkeit von den USA auf die Vereinten Nationen zu übertragen. Die US-Regierung wiederholt das gleiche Mantra wie seit 21 Jahren: Man helfe bei den Verhandlungen, wenn beide Seiten bereit seien, die dafür erforderlichen „schwierigen Entscheidungen“ zu treffen. Das ist eine Garantie dafür, dass die jüngste Wiederaufbaukonferenz für Gaza nicht die letzte sein wird.
Die Palästinenser auf dem Weg zu einem eigenen Staat begleiten
Ausnahmsweise könnten die Europäer hier einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied machen. Dafür müssen sie den Palästinensern nicht in allem zustimmen. Sie müssten lediglich Palästina auf seinem Weg zum eigenen Staat unterstützen. Das ist für Europa ein günstiges Mittel, neue politische Energie in den Friedensprozess fließen zu lassen – ohne das grundlegende Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung durch direkte Verhandlungen aufzugeben. Nicht alle EU-Mitgliedsstaaten werden diesen Kurs mittragen. Aber es könnte sich eine „Koalition der Willigen“ finden, die vorangeht.
Tatsächlich ist die EU bereits 1999 mit der Berliner Erklärung des Europäischen Rates in diese Richtung gegangen. Darin wurde das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und auf einen eigenen Staat betont. Die EU kündigte damals an, sie werde die Anerkennung eines solchen Staates zu einem späteren Termin prüfen.
Bei der jüngsten Konferenz in Kairo wurde das Thema wieder aufgegriffen. EU-Mitgliedsstaaten hatten die Palästinensische Autonomiebehörde seit 1994 stärker unterstützt als jeder andere Geber. Nun haben sie zusätzliche 568 Millionen US-Dollar für den Wiederaufbau von Gaza versprochen. Genau hier stand die EU schon einmal: Sie steckte Geld in den Wiederaufbau der von ihr finanzierten Infrastruktur im Westjordanland, nachdem die 2002 von Israel zerstört worden war. Auch nach Israels Operation „Gegossenes Blei“ in Gaza zum Jahreswechsel 2008/2009 sagte die EU neue Hilfen zu. Doch vergangenen Oktober in Kairo waren sich die Delegierten aus Brüssel einig: Es macht wenig Sinn, immer wieder aufzubauen, was sehr wahrscheinlich wieder zerstört wird.
Schweden hat es schon getan
Um daran etwas zu ändern, muss die EU bereit sein, den starren, von den USA dominierten Rahmen der Verhandlungen zu ändern. Im Jahr 2002 schloss sich Brüssel mit den USA, Russland und den Vereinten Nationen zum „Quartett“ zusammen, um den Friedensprozess zu überwachen. Die USA übernahmen schnell die Führung, und der Friedensfahrplan – die Road Map – wurde ausgehöhlt. Ursprünglich sollte das Quartett kontinuierlich prüfen, ob die palästinensische und die israelische Seite ihre Pflichten aus der Road Map erfüllen. Doch als die USA das Dokument im April 2003 veröffentlichten, fehlte diese Bestimmung: Washington hatte sie auf Druck Israels und ohne Rücksprache mit der EU, geschweige denn mit den anderen Partnern des Quartetts, gestrichen.
Europas stillschweigendes Einverständnis war ein Fehler. Heute haben die EU-Mitgliedsstaaten die Chance, die Friedensgespräche neu zu beleben, indem sie Palästina als Nicht-Mitgliedsstaat der UN anerkennen, also als Staat ohne volle Mitgliedsrechte. Eine Mehrheit der internationalen Gemeinschaft hat das bereits getan. Dafür muss Brüssel zwar von den USA abrücken, aber viel passieren kann nicht. Europa würde bloß ein wenig Autonomie beweisen, ohne vom Prinzip abzurücken, dass Israel und Palästina gemeinsam eine Lösung finden müssen. Es könnte die Verhandlungen aus der Sackgasse führen und den bremsenden Einfluss der USA schmälern.
Es ist unwahrscheinlich, dass die EU sich auf eine einvernehmliche Haltung zur Anerkennung Palästinas einigt, vor allem angesichts des Vetos aus Deutschland. Aber einige Mitgliedsstaaten könnten auf eigene Faust etwas tun. Seit die UN-Generalversammlung 2012 Palästina als Nicht-Mitgliedsstaat anerkannt hat, ist Schweden unlängst als erstes europäisches Land diesem Schritt gefolgt. Das zeigt: Einzelne europäische Regierungen können die palästinensische Strategie der Gewaltfreiheit und der kollektiven Diplomatie im Rahmen der UN leicht unterstützen.
Wiederaufbau als Fiktion eines Friedensprozesses?
Andere EU-Mitgliedsstaaten sollten Schwedens Beispiel folgen. Eine besondere Pflicht hat Großbritannien – zum einen aufgrund seiner historischen Rolle bei der Entstehung des Konflikts, zum anderen aufgrund seiner besonderen Beziehung zu den USA. In Kairo sagte der britische Minister für internationale Entwicklung Desmond Swayne: „Das sollte das letzte Mal sein, dass wir zusehen, wie Gaza wieder aufgebaut wird. Es ist wichtig, dass der Wiederaufbau zu sinnvollen politischen Veränderungen beiträgt.“
Fromme Rhetorik allein reicht jedoch nicht. England ist zusammen mit anderen EU-Mitgliedsstaaten in einer guten Position, die UN als Forum zu nutzen, ohne gleich die Verhandlungen hierher zu verlagern. Das britische Parlament stimmte im Oktober unverbindlich dafür, Palästina als Staat anzuerkennen. Das spiegelt den wachsenden Druck auf die Regierung, endlich eine führende Rolle zu übernehmen.
Anfang 2010 sagte ein hochrangiger Vertreter der EU in Jerusalem vertraulich, die Hilfe für die Palästinenser diene als Mittel, „die Fiktion eines Friedensprozesses aufrecht zu erhalten“. Der nächste Wiederaufbau in Gaza verspricht diese Fiktion zu entlarven. Wenn die europäischen Regierungen wirklich einen tragfähigen Friedensprozess wollen, dann müssen sie selbstständig handeln – gemeinsam, wenn sie können, jede für sich, wenn sie müssen. Die Unterstützung der Palästinenser im UN-System ist eine sinnvolle Methode. Wenn Europa nicht einmal dazu in der Lage ist, dann sollte es zumindest nicht länger so tun, als ob es etwas bewirken kann. Alles andre ist schädlich für Europas Glaubwürdigkeit und für die Aussichten auf eine friedliche Lösung des Palästina-Israel-Konflikts.
Yezid Sayigh ist leitender Mitarbeiter beim Carnegie Middle East Center in Beirut. Der Beitrag ist zuerst in der Zeitung „Al Hayat“ erschienen.
Neuen Kommentar hinzufügen