Was sind die größten Quellen von kollektiver Gewalt im Tschad?
Mit den Parlamentswahlen im Dezember ist der Übergangsprozess zurück zu einer verfassungsmäßigen Regierung abgeschlossen, die neu gewählten Institutionen müssen jetzt die Arbeit aufnehmen. Aber das große Problem bleibt, dass es an politischem Dialog fehlt; es gibt zu wenig Raum, über politische Prozesse zu debattieren. Ein weiteres Problem ist die Missachtung der Menschenrechte. Und dann erschüttert weiterhin Gewalt zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern das Land, besonders immer kurz vor der Regenzeit. Sie fordert oft viele Todesopfer in zahlreichen Dörfern. Nomadische Viehzüchter brauchen Weiden für ihre Tiere und müssen in der trockenen Jahreszeit in feuchtere Agrargebiete ziehen. Das passiert oft nicht friedlich. Die Zusammenstöße werden zum Teil mit Messern und Speeren ausgetragen, aber auch mit Feuerwaffen. Wenn beide Seiten Gewehre haben, gefährdet das die Sicherheit im Land. Der Mangel an politischem Dialog lässt die Spannungen noch steigen.
Woher kommen die Viehzüchter?
Sie ziehen mit großen Herden aus dem nördlichen und östlichen Tschad in den Süden, wo intensiv Landwirtschaft betrieben wird. Einige kommen auch aus dem Grenzgebiet Kameruns im Westen oder aus der Zentralafrikanischen Republik im Süden. Das führt zu Druck auf die begrenzten Ressourcen an Land und Wasser und damit unvermeidlich zu Anlässen für Konflikte.
Ihre Organisation hilft, solche Konflikte zu schlichten oder zu vermeiden?
Ja. Das Comité de Suivi de l’Appel à la Paix et à la Réconciliation (Komitee für Frieden und Versöhnung, CSAPR) ist ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen im Tschad; es wurde 2002 gegründet. CSAPR hilft, im ganzen Land sogenannte Dialogkomitees einzurichten. Bisher gibt es sie in 25 Orten im Süden, im Osten, im Zentrum und im Westen. In den Komitees sitzen Vertreter der Viehzüchter und der Ackerbauern sowie Mitglieder der Zivilgesellschaft – auch Frauen und junge Leute, Geistliche und traditionelle Würdenträger. Sie setzen sich für Gewaltprävention im Alltag ein und für Bewusstseinsbildung auf allen Seiten. Sie helfen, einvernehmlich Durchgangswege für den saisonalen Viehzug festzulegen; dabei sind auch die Behörden behilflich. Wenn es doch zu Auseinandersetzungen kommt, werden die Komitees als Vermittler tätig. Dann gehen sie in die Dörfer, bringen die Parteien zusammen und helfen, gemeinsam Streitfragen zu lösen. Das hat dazu beigetragen, dass in einigen Provinzen das Niveau der Gewalt deutlich gesunken ist.
Wo zum Beispiel?
Wir haben 2019 eine Versammlung mit Führern der Gemeinschaften in Doba im Süden des Tschad abgehalten, ein Ort im Zentrum der Ölproduktionsgebiete des Tschad. Dort hatte es Konflikte zwischen Hirten und Bauern gegeben. Wir haben deshalb Führer der beteiligten Gemeinschaften in Vermittlung geschult. 2025 haben wir gemeinsam mit ihnen Bilanz gezogen und festgestellt, dass die Gewalt in dem Gebiet deutlich gesunken ist.
Kümmern sich die Komitees auch um andere Arten von Konflikten, zum Beispiel in Familien?
Ja. Mitglieder der Dialogkomitees werden oft eingeladen, Konflikte zwischen Ehegatten oder zwischen Eltern und Kindern zu schlichten und auch bei Diebstahl oder Vergewaltigung. Wir ermutigen die Komitees, auch hier viel mehr für Prävention zu tun.
Kann man bei schweren Konflikten die Justiz einschalten?
Wenn jemand zu Tode gekommen ist, können die Komitees nicht mehr einschreiten, das ist dann Sache der Justiz. Die Komitees helfen, wenn ein Konflikt gerade aufbricht oder noch keine Toten gefordert hat. Dann bemühen sie sich um Versöhnung. Zum Beispiel ist in einem Dorf ein Feld von durchziehendem Vieh zerstört worden. Das Komitee hat den Schaden geschätzt und auf dieser Grundlage eine Entschädigung für den Bauern ausgehandelt.
Funktioniert die Justiz und urteilt unparteiisch?
Nicht in allen Fällen erfüllt sie ihre Aufgabe, da gibt es Probleme. Vor allem gibt es eine Art Kluft zwischen der Justiz und den Bürgerinnen und Bürgern. Die erkennen sich oft in den Entscheidungen der Gerichte nicht wieder – viele denken, dass die Justiz nicht wirklich Recht spricht. Aber es gibt ehrliche Richter, die ihre Arbeit korrekt machen.
Die Leute vertrauen im Allgemeinen der Justiz wenig?
Ja. Bei Konflikten innerhalb der Familie ziehen die Leute in der Regel eine Vermittlung der Dorfkomitees vor oder eine gütliche Verständigung.
Werden die Dialogkomitees in irgendeiner Form staatlich unterstützt?
Ja. Die meisten arbeiten eng zusammen mit Lokalbehörden und werden von Gouverneuren an der Spitze der Provinzen unterstützt oder den Präfekten von der Verwaltungseinheit darunter.
Können die Dialogkomitees im Tschad auch Konflikte auf der nationalen, also oberhalb der lokalen Ebene entschärfen helfen?
Die Komitees können nicht Konflikte zum Beispiel zwischen Rebellengruppen und der Regierung angehen. Das ist jenseits ihrer Möglichkeiten.
Sind Konflikte mit Viehzüchtern nicht oft auch politisch, weil reiche Züchter enge Verbindungen in die nationale Politik haben? Können die Komitees dann etwas ausrichten?
Es gibt dieses Phänomen der sogenannten néo-éleveurs, der neuartigen Viehzüchter. Sie sind oft hohe Kader aus der Verwaltung oder dem Militär und große Herden sind die Grundlage ihres Reichtums. Sie intervenieren zuweilen in örtliche Konflikte oder verursachen sie, denn um ihre Herden zu schützen, zögern sie nicht, die angestellten Lohnhirten zu unterstützen. Das führt oft zu Konflikten mit Ackerbauern, denn das Vieh frisst unter dem Schutz der hohen Kader auf deren Feldern. Dialogkomitees aus dem Süden haben Kontakt zu solchen hochrangigen Viehhaltern aufgenommen, damit Konflikte nicht weiter begünstigt werden, sondern das Zusammenleben der Gemeinschaften geschützt. Das Problem kann man nicht lösen, ohne dass der Staat sich beteiligt. Die Zivilgesellschaft kann das nicht allein.
Diese hohen Kader können sich über die Ergebnisse einer Schlichtung hinwegsetzen?
Eine Schlichtung mit ihnen kann nur gelingen, wenn die Regierung die Kader auffordert, sich auch an die Gesetze zu halten und den Frieden zwischen den Gemeinschaften zu wahren.
Verstehen Sie die Dialogkomitees auch als Beitrag dazu, dass von den Dörfern aus eine Demokratisierung beginnt?
Es gehört nicht zu den Aufgaben der Komitees, sich um politische Fragen zu kümmern. Aber ihre Mitglieder sind Bürgerinnen und Bürger und einige haben sich zum Beispiel bei den Lokalwahlen im Dezember 2024 für eine hohe Wahlbeteiligung eingesetzt. Und dass die örtlichen Komitees einen Raum für Debatten bieten, ist eine Form der Demokratie. Das kann auch als Beispiel für die höhere Politik dienen, wo Dialog noch schwach ausgeprägt ist.
Haben andere Staaten Einfluss auf die Gewalt im Tschad, zum Beispiel mit Waffenlieferungen?
Nicht auf die lokalen Konflikte. Die Grenzen sind in Afrika und besonders im Tschad durchlässig und der Tschad ist von Ländern umgeben, in denen gekämpft wird. Waffen von dort sind im Tschad im Umlauf, etwa aus Libyen, der Zentralafrikanischen Republik und dem Sudan. Das begünstigt Gewalt. Aber das heißt nicht, dass andere Staaten einzelne Gruppen bewaffnen würden. Für Rebellenbewegungen sieht das anders aus, die können von anderen Staaten unterstützt werden. Doch seit den Verhandlungen in Doha 2022 sind viele Rebellen ins Land zurückgekehrt und haben den Kampf eingestellt. Das hat dazu beigetragen, dass der Übergangsprozess bis zu den Wahlen Ende 2024 ruhig verlaufen ist. Zwar haben einige Gruppen den Friedensvertrag nicht unterzeichnet. Aber die meisten im Tschad streben heute danach, in Frieden zu leben und das Land zu entwickeln.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
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