„Russland ist der Aggressor, aber wir haben es mit versaut“

EVELYN HOCKSTEIN/POOL/AFP via Getty Images
Im Februar verhandeln US-Außenminister Marco Rubio (links) und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow (rechts) in Saudi-Arabien über ein Ende des Krieges gegen die Ukraine. Die EU und die Ukraine selbst sind nicht dabei.
Ukraine-Krieg
Donald Trump hat Bewegung in die Versuche gebracht, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beenden. Europa sollte sich seiner Initiative anschließen, statt sie schlechtzureden, sagt Johannes Varwick. Einer Friedenstruppe räumt der Politikwissenschaftler wenig Chancen ein. Die Sicherheit der Ukraine muss auf andere Weise garantiert werden.

Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg.

Herr Varwick, US-Außenminister Marco Rubio hat gesagt, der Krieg in der Ukraine sei ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA. Hat er recht?
Ich habe das immer so gesehen, dass der Ukraine-Krieg auch Elemente eines Stellvertreterkrieges hat, weil die USA die Ukraine ertüchtigen wollten, gegen Russland standzuhalten – oder es vielleicht sogar etwas in die Enge zu treiben. Es ist schon bemerkenswert, wenn das jetzt ein US-Außenminister sagt.

Dann hat also auch Russland recht, das schon lange sagt, in der Ukraine kämpfe der Westen gegen Russland.
Das kann man so sagen, ist allerdings auch missverständlich, denn man darf die Schuldfrage nicht verwischen: Russland trägt Schuld an dem Krieg. Ich unterscheide gern zwischen Schuld und Verantwortung. Russland trägt die Schuld, aber der Westen ist mitverantwortlich für den Krieg, weil er rote Linien Russlands wissentlich ignoriert hat. Die Nato hat sich an Russland herangeschoben, und die Ukraine war für Russland die roteste der roten Linien. Wenn man das so sagt, kommt schnell der Vorwurf, man wolle Russlands Schuld reinwaschen. Nichts liegt mir ferner: Russland ist der Aggressor, aber wir haben es mit versaut.

US-Vizepräsident J.D. Vance hat gesagt, es sei keine Strategie, Geld für Munition in einen schrecklichen Konflikt zu stecken. Hat auch er recht?
Zu hundert Prozent. Das ist genau das, was ich seit drei Jahren sage, und der Schwenk in den USA ist bemerkenswert. Sie haben im Grunde die Position übernommen, die Kritiker wie ich schon lange vertreten haben.

Aber ohne die Waffenlieferungen der vergangenen drei Jahre, gäbe es die Ukraine heute nicht mehr.
Ja, aber das ist zu kurz gesprungen. Man kann ebenso argumentieren, wenn wir früh auf einen tragfähigen Interessenausgleich mit Russland gedrängt hätten, dann wäre dieser Krieg gar nicht so eskaliert. Ich bin nicht dagegen, über Waffenlieferungen nachzudenken. Aber ich bin sehr gegen Waffenlieferungen als Ersatz für eine politische Strategie. Der Westen hat die unrealistische Strategie, dass Russland verlieren soll, mit immer mehr Waffen befeuert. Das konnte eigentlich nur schiefgehen. 

Die EU hat die Gespräche der USA mit der Ukraine und mit Russland über einen Waffenstillstand begrüßt, schaut aber letztlich nur dabei zu. Wie sollte sich Europa einbringen?
Die EU sollte sich der US-amerikanischen Linie anschließen und sich Gedanken machen über einen Interessenausgleich mit Russland, der zu bestmöglichen Bedingungen für die Ukraine führt. Aber von diesem Baum ist die EU noch nicht runtergekommen. Sie veranstaltet eher Störfeuer gegen die diplomatischen Initiativen der Amerikaner und verrührt sie mit der tatsächlich skandalösen Politik von Donald Trump auf anderen Feldern. Die Europäer sind de facto raus, jetzt wird das zwischen Washington und Moskau entschieden und die Europäer sitzen am Katzentisch. Da gehören sie auch hin, weil sie drei Jahre lang nichts dazu beigetragen haben, diesen Konflikt zu lösen, außer Waffen zu liefern.

Die EU ist doch aber auch deshalb skeptisch gegenüber der Initiative der USA, weil die Gefahr besteht, dass Moskau und Washington die Ukraine einfach unter sich aufteilen.
Die Vorstellung mancher in Europa, dass man so weitermacht wie bisher, nur ohne die USA, wird sich als nicht realistisch erweisen. Ich finde es verantwortungslos, wenn man jetzt von Diktatfrieden oder Ähnlichem redet und der alte Vorwurf des Appeasement aus der Schublade geholt wird. Wer von Diktatfrieden redet, der will keine politische Lösung. Wir brauchen einen Kompromiss, der zu bestmöglichen Bedingungen für die Ukraine führen muss. Aber so gut, wie man bei den Gesprächen im März und April 2022 in Istanbul war, wird die Ukraine heute nicht mehr abschneiden. Das heißt, sie wird größere territoriale Zugeständnisse machen müssen – und auch das ist ein Versagen Europas: Man hätte vor drei Jahren einen besseren Deal für die Ukraine machen können.

Angenommen, es kommt zu einem Waffenstillstand. Müsste der abgesichert werden, und wer sollte das übernehmen?
Das ist die Gretchenfrage und die Antwort lautet: Es gibt niemanden, der das macht. Weil das so ist, muss man die Strategie anpassen. Es wird keine Sicherheitsgarantien für die Ukraine gegen den Willen Russlands geben. Die Vorstellung, dass man eine Friedenstruppe mit Nato- oder EU-Soldaten schickt, ist politisch und militärisch unrealistisch. Entscheidend ist deshalb, dass ein für die Ukraine und Russland akzeptabler Kompromiss gefunden wird. Dann könnte man über eine UN-mandatierte militärische Überwachung reden – also über klassische UN-Friedenssicherung, die auf Neutralität beruht.

Manche Fachleute sagen, man sollte versuchen, Länder des globalen Südens wie Brasilien und China für eine Friedenstruppe zu gewinnen. Was halten Sie davon?
Darüber könnte man eher reden als über eine EU- oder Nato-Truppe. Wenn es gelänge, eine tragfähige politische Vereinbarung zu finden, die mit UN-Mandat überwacht wird, könnte man dafür vielleicht klassische Truppensteller wie Nigeria und Pakistan gewinnen. Allerdings wäre das nicht das, was die Ukraine will. Die Ukraine will eine harte Sicherheitsgarantie, am besten einen Nato-Beitritt. 

Der allerdings praktisch ausgeschlossen ist …
Ich denke, die realistischste Sicherheitsgarantie ist eine abgewogene politische Lösung, so dass keine Seite mehr einen Grund hat, das militärisch in Frage zu stellen. Das Kerninteresse Russlands ist für mich ziemlich einfach: Moskau will erstens verhindern, dass die Ukraine Nato-Mitglied und Aufmarschgebiet für amerikanisches Militär wird. Zweitens will Russland den Donbas und die Krim gewissermaßen sichern. Wenn sich diese beiden Interessen erfüllen lassen, hat Russland keinen Grund mehr, einen Waffenstillstand in Frage zu stellen.

Sie sagen, Russland wolle den Donbas und die Krim „sichern“. Aber Putin hat doch die Ukraine überfallen und beide Regionen geraubt.
Richtig, ich bin auch dagegen, das völkerrechtlich anzuerkennen. Das Prinzip der territorialen Integrität und das Verbot, militärisch Grenzen zu verändern, ist eine Grundlage für internationale Stabilität. Aber zugleich müssen wir schauen, was realpolitisch machbar ist. Und ich glaube nicht daran, dass es machbar ist, den Donbas und die Krim russischer Kontrolle zu entziehen. Oder aber man hängt das Preisschild an diesen Wunsch: eine militärische Eskalation im Verhältnis zu Russland. 

Die Vereinten Nationen spielen in der Debatte um Frieden für die Ukraine praktisch keine Rolle. Sollte man versuchen, sie mit ins Boot zu holen?
Es ist vielleicht ein wenig idealistisch, aber ich finde die Vereinten Nationen nach wie vor wertvoll. Man kann die Konstruktion des UN-Sicherheitsrates mit dem Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder, die gar nicht mehr die heutigen Machtverhältnisse spiegeln, falsch finden. Aber der Kerngedanke ist ja, dass die Großmächte mitmachen, weil ihre Interessen durch das Vetorecht gesichert sind. Und das ist eine Chance auch im Ukraine-Krieg. Denn wenn der Sicherheitsrat wieder eine größere Rolle spielen soll, müssten die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten berücksichtigt werden. Und das wäre eine gute Formel, den Konflikt zu beenden. Der Einwand dagegen lautet, damit gäbe man dem Aggressor Mitspracherecht. Ja, das ist die bittere Seite, aber zugleich ist es eine Chance, die Lage zu stabilisieren. 

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

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