Den weiblichen Blick stärken

Sally Azar steht in der Mitte einer Kirche, andere männliche Geistliche klatschen.
picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Maya Alleruzzo
Sally Azar ist seit 2023 die erste und bisher einzige palästinensische Pfarrerin. Ende Januar 2023 wurde sie in der Altstadt von Jerusalem als erste weibliche Pastorin im Heiligen Land ordiniert.
Nahostkonflikt
In den meisten Religionen bekleiden vor allem Männer geistliche Ämter. Aber gerade in religiös aufgeheizten Konflikten könnte die Perspektive von Frauen deeskalierend wirken, wie ein Webinar zum Krieg zwischen Israel und den Palästinensern unlängst deutlich gemacht hat.

Judentum, Christentum und Islam nehmen für sich in Anspruch, tolerant und friedfertig zu sein. Sie können aber auch Brandbeschleuniger in Konflikten sein. Bestes Beispiel ist der Nahostkonflikt. In allen drei Religionsgemeinschaften gibt es Kreise, die aus den jeweils heiligen Schriften ableiten, warum entweder die einen oder die anderen einen alleinigen Anspruch auf das umstrittene Land haben. 

Die drei Religionen sind sich aber auch noch an einem anderen Punkt ähnlich: Geistliche Führungsposten sind in der Regel Männern vorbehalten, obwohl sich weder in der Thora noch in der Bibel noch im Koran ein ausdrückliches Verbot von Frauen in religiösen Ämtern finden lässt. Mittlerweile gibt es aber Ausnahmen. Das Rossing Center for Education and Dialogue in Jerusalem hat Mitte Februar eine israelische Rabbinerin und eine palästinensische Pfarrerin zu einem Webinar unter dem Titel „Women at the Helm. Reimagining Religious Leadership“ (Frauen an die Macht. Religiöse Führung neu denken) eingeladen. 

Mit Naamah Kelman und Sally Azar saßen zwei Frauen der ersten Stunde auf dem virtuellen Podium. Kelman wurde 1992 zur ersten Rabbinerin in Israel ordiniert. Sally Azar ist seit 2023 die erste und bisher einzige palästinensische Pfarrerin. Eigentlich hätte noch Hana Mansour Khatib dabei sein sollen, die das israelische Justizministerium 2017 zur ersten Richterin am Scharia-Gericht eingesetzt hat, welches für familienrechtliche Angelegenheiten der muslimischen Bevölkerung in Israel zuständig ist. Wegen eines Trauerfalls musste sie aber kurzfristig absagen. 

Skepsis der Traditionalisten

Die 28-jährige Pfarrerin und die 70-jährige Rabbinerin stammen aus unterschiedlichen Generationen. Ihre Erfahrungen mit patriarchalen Strukturen ähneln sich aber. Denn sowohl im Judentum als auch im Christentum ist es umstritten, dass Frauen predigen und Weihehandlungen vornehmen. „Frauen lesen die heiligen Texte mit anderen Augen, sie interpretieren sie anders, und als Seelsorgerin beraten sie anders als Männer“, sagte Kelman, die längst nicht mehr die einzige Rabbinerin in Israel ist. Trotzdem erlebe sie nach wie vor die Skepsis der Traditionalisten. 

Die kennt auch Sally Azar. „Wir haben zwar eine Gender-Policy in unserer Kirche. Gendergerechtigkeit gibt es deswegen aber noch lange nicht“, sagte sie. Immer wieder beriefen sich Leute aus ihrer Kirche darauf, es sei nun mal Tradition, dass diese oder jene Aufgabe Männern vorbehalten sei. 

Doch beide Frauen haben auch erlebt, dass es viele zum Nachdenken bringt, wenn eine Religionsgemeinschaft jahrhundertealte Traditionen aufgibt und Frauen in geistlichen Ämtern zulässt. Immer wieder sprächen sie Frauen und Männer – Christen und Muslime – begeistert auf ihre besondere Rolle an, erzählte Azar, die sich beim Thema Nahostkonflikt in einem Punkt ganz sicher ist. „Würden Frauen mit am Verhandlungstisch sitzen, wäre der Konflikt längst gelöst.“ 

Frauen kommunizierten anders, seien eher bereit, nach einem gemeinsamen Weg zu suchen, und hätten eine andere Vorstellung davon, was Sicherheit bedeutet. „Frauen wollen zuallererst, dass ihre Kinder in Sicherheit und gut aufwachsen“, sagte die junge Palästinenserin. Dies sei unter der israelischen Besatzung aber nicht möglich, schon gar nicht seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober und dem anschließenden Krieg. Im Westjordanland behinderten mittlerweile hunderte Checkpoints die Palästinenser in ihrer Bewegungsfreiheit. „In meinem eigenen Land fühle ich mich wie ein Mensch zweiter Klasse“, sagte Azar.

"Wir müssen einander zuhören" 

Kelman griff den Ball auf. „Wir müssen einander zuhören, müssen uns unsere Geschichten erzählen, von unseren Ängsten und unserem Leid“, sagte die Rabbinerin. Dafür müssten sich die Synagogen, die Kirchen, die Moscheen und die Schulen öffnen. Auf beiden Seiten werde seit Jahrzehnten alles getan, damit der jeweils andere nicht mehr als Mensch wahrgenommen wird. Sie selbst habe in ihrer Kindheit und Jugend Israelis nur als Besatzungssoldaten oder Siedler kennengelernt, sagte Azar. „Alles ist getrennt. Wirkliche Freundschaften können so nicht entstehen.“ 

„Wir stellen bei unseren Dialogveranstaltungen fest, dass Frauen Gespräche oft noch auf ganz anderen Ebenen führen“, sagte Sarah Bernstein, die Leiterin des Rossing Centers, das seit vielen Jahren unterschiedliche Formate für den interreligiösen Dialog anbietet. „Da begegnen sich in den Pausen Frauen, die sich zuallererst als Mütter oder Töchter fühlen und wissen, was es heißt, die Sorge um Kinder und Familie zu tragen.“ Sally Azar war das aber nicht genug. „Wir müssen in den eigenen Reihen gegen Extremisten vorgehen“, sagte sie. Denn oft werde Religion missbraucht, um die eine oder andere Seite im Konflikt theologisch zu unterstützen. 

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