Als die Führung durch das Umspannwerk starten soll, gibt es Luftalarm. Mariia Tsaturian, Unternehmenssprecherin des staatlichen ukrainischen Stromnetzbetreibers Ukrenergo, bittet die Journalistengruppe, wieder in den Bus zu steigen. Als ihr das zu langsam geht, wird sie energisch: „Leute, wir haben jetzt keine Zeit zum Plaudern! Bitte etwas schneller.“ Der Bus passiert die Militärkontrolle vor dem Werk, das erste Briefing mit der Ukrenergo-Sprecherin findet einige Kilometer weiter auf dem Parkplatz vor einem Supermarkt statt. Erst als der Alarm aufgehoben wird, geht es zurück ins Werk.
Die Vorsicht ist berechtigt. Die Energieinfrastruktur der Ukraine ist seit Monaten ein bevorzugtes Angriffsziel der Russen. Hunderte Raketen und Drohnen hat Moskau allein in diesem Jahr auf ukrainische Kraftwerke und Verteileranlagen abgefeuert. Auch das Umspannwerk in der Zentralregion des Landes, über das Mariia Tsaturian die Gäste aus Deutschland führt, wurde schon mehrfach bombardiert. Es versorgt eine Million Haushalte mit Strom. Auf dem Gelände steht ein verkohlter Transformator, ein 250 Tonnen schwerer Klotz aus Eisen, der Ende 2022 von einer Drohne getroffen wurde.
„Die Russen haben in diesem Frühjahr ihre Strategie geändert“, sagt Dmytro Sakharuk, Geschäftsführer beim privaten Energiekonzern DTEK, der in der Ukraine Kohlegruben, Kraftwerke und Stromnetze betreibt. „Sie schicken erst Drohnen und ihre einfachen, langsameren Raketen, um unsere Flugabwehr zu beschäftigen. Dann erst kommen die schnellen Kinshal-Raketen.“ Die Angriffe seien viel effektiver als die im Herbst 2022, sagt Sakharuk und meint die Attacken am Ende des ersten Kriegsjahres, als Russland schon einmal die ukrainische Energieinfrastruktur ins Visier genommen hatte. Damals blieben die Schäden überschaubar und waren oft schnell behoben, doch jetzt sind sie dramatisch. Sein Konzern DTEK verfüge derzeit noch über 8000 Megawatt Kraftwerksleistung, vor dem Krieg sei es doppelt so viel gewesen, sagt Sakharuk. 80 Prozent der Leistung ukrainischer Kohle- und Gaskraftwerke sind zerstört.
Der Stromverbrauch hat sich mehr als halbiert
Vor dem Krieg habe die Ukraine 32.000 Megawattstunden Strom pro Tag verbraucht, derzeit seien es noch knapp 13.000 Megawattstunden, sagt Ihor Syrota, Vorstandsvorsitzender von Ukrhydroenergo, dem staatlichen Betreiber von Wasserkraftwerken in der Ukraine. Ein Fünftel des Landes sei von Russland besetzt, entsprechend auch der Stromverbrauch gesunken, weil der besetzte Teil nicht vom freien Rest versorgt wird. Zudem seien viele Industrieanlagen außer Betrieb. In einigen Teilen des Landes, vor allem im Westen, merke man deshalb wenig von Energieknappheit außer morgens und abends, wenn besonders viel Strom verbraucht werde.
Anders sieht es im Osten aus, je mehr man sich der Front nähert. Die Energieversorgung für Charkiv etwa, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, ist völlig zerstört. Derzeit wird die Stadt notdürftig über das Fernnetz mit Elektrizität aus südlichen Landesteilen versorgt. Dennoch wird der Strom alle vier Stunden für ebenso lange ausgeschaltet.
Kritisch könnte es im ganzen Land im Sommer werden, wenn der Stromverbrauch etwa durch Klimaanlagen steigt. Dann werden etliche der ukrainischen Atomreaktoren, die mehr als die Hälfte zur Stromversorgung beitragen, turnusgemäß heruntergefahren und gewartet. Zudem leisten in den Sommermonaten die Wasserkraftwerke weniger, die einen Anteil von durchschnittlich rund zehn Prozent haben. Der Kraftwerksbetreiber Ukrhydroenergo verhandelt deshalb mit großen Stromverbrauchern wie Industriebetrieben, die Produktion in die Nacht zu verlegen.
„Die Energieversorgung ist eine weitere Front in diesem Krieg“, sagt Manager Syrota. Er zeigt Fotos des im März von russischen Raketen zerstörten Wasserkraftwerks Dnipro HPP bei Saporischschja, bis zum Angriff mit gut 1500 Megawatt Leistung eines der größten in Europa. Sofort nach dem Angriff habe man mit dem Aufräumen und dem Wiederaufbau begonnen, es werde aber Monate dauern, bis das Kraftwerk wieder laufe, sagt Syrota. Zudem sei das sehr gefährlich für die Arbeiter, da jederzeit mit neuen Angriffen zu rechnen sei.
Ausländische Ingenieure meiden die Ukraine
Das erschwert auch die Beteiligung ausländischer Unternehmen, die für den Wiederaufbau zerstörter Kraftwerke gebraucht werden. Ukrehydroenergo erhält dafür Kredite von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Deren Modalitäten schreiben vor, dass Firmen, die sich um Aufträge bewerben, die geforderte Technik liefern und Ingenieure bereitstellen müssen, die die Installation etwa von Turbinen und Elektrik vor Ort begleiten. Dazu sind seit Russlands Angriffskrieg aber nur noch wenige westliche Firmen bereit, weil sie ihre Mitarbeiter nicht gefährden wollen. Ukrhydronergo ist deshalb sowohl mit Unternehmen als auch mit der EBRD im Gespräch, die Modalitäten zu ändern: Demnach sollen ukrainische Ingenieure sich in den Sitzländern der Unternehmen von ihren ausländischen Kollegen fortbilden lassen, statt dass diese umgekehrt in die Ukraine fahren müssen. „Mit ABB und Siemens machen wir das bereits so“, sagt Syrota.
Seit dem vergangenen Jahr arbeiten die Betreiber von Kraftwerken und Stromnetzen zudem fieberhaft daran, ihre Anlagen besser vor Angriffen zu schützen. In dem Umspannwerk von Ukrenergo kann man sich das anschauen. Dort schützen massive, mit engmaschigen Stahlgittern verstärkte Sandwälle die Anlagen bei einem Angriff vor herumfliegenden Trümmerteilen. Über einem neuen Transformator, der unweit seines verkohlten Gegenstücks gerade montiert wird, hat Ukrenergo in acht Monaten Bauzeit einen haushohen Unterstand aus Beton und Stahlträgern errichtet, der das zehn Millionen Euro teure Gerät zumindest vor Drohnentreffern schützen soll; gegen Raketen und Marschflugkörper wäre auch dieser Hochbunker zu schwach. Die Transformatoren reduzieren die Stromspannung aus den Hochspannungsleitungen, so dass die Energie ins Verteilernetz eingespeist und zu den Verbrauchern transportiert werden kann. Die Kosten von 2,5 Millionen Euro für den Schutzbau haben die Weltbank, die US-amerikanische Entwicklungsagentur USAID und die EBRD übernommen.
Den Krieg an der Energiefront kann die Ukraine aber nur gewinnen, wenn der Westen mehr hochwertige Flugabwehrbatterien wie vom Typ Patriot oder Iris-T liefert. Da sind sich alle Fachleute einig. Ukrhydroenergo-Manager Syrota sagt: „Luftabwehr ist das Allerwichtigste. Eine Patriot-Batterie zu installieren geht viel schneller und ist viel billiger, als unsere zerstörten Kraftwerke wieder aufzubauen.“
Helfen kann Europa außerdem mit Strom. Seit dem März 2022 ist das ukrainische Netz mit dem der Europäischen Union verbunden, gleichzeitig wurde die Verbindung zu Russland gekappt. Derzeit exportiert die EU 1,7 Gigawatt Strom in die Ukraine, das entspricht etwa der Leistung eines Atomkraftwerks oder von vier Kohlekraftwerken. Laut Fachleuten wären mehr als 2 Gigawatt möglich, das werde derzeit noch geprüft. „Die Integration zweier Stromnetze ist so heikel wie eine Herztransplantation“, sagt Mariia Tsaturian vom Netzbetreiber Ukrenergo. Vor einer vollständigen Integration müsse intensiv getestet werden, ob alles gut zusammenpasst. Auf europäischer Seite gibt es offenbar die Sorge, Schwankungen im ukrainischen Netz als Folge russischer Angriffe könnten auf das EU-Netz ausstrahlen.
Bis 2035 sollen staatlich betriebene Kohlemeiler abgeschaltet werden
Mittel- und langfristig muss die Ukraine ihre Stromerzeugung umbauen und den Verbrauch reduzieren. Bis zum Jahr 2035 will das Land alle staatlich betriebenen Kohlekraftwerke abschalten, zugleich sollen Wind- und Solarenergie ausgebaut werden, die derzeit einen Anteil von knapp zehn Prozent haben. Das macht auch sicherheitspolitisch Sinn: Übers Land verteilte Windräder und dezentrale Solarkraftwerke lassen sich weniger leicht aus der Luft zerstören wie ein großes Kohle- oder Wasserkraftwerk. Das Problem: Die günstigsten Standorte für Wind- und Sonnenenergie liegen im Süden des Landes, der immer wieder schwer bombardiert wird oder von Russland besetzt ist.
Zudem fehlt es auch hier am Geld. „Als ukrainisches Privatunternehmen derzeit Investitionskapital zu bekommen, ist fast unmöglich“, sagt Dmytro Sakharuk vom Kraftwerksbetreiber DTEK, der derzeit nach eigenen Angaben Solar- und Windenergiekapazitäten von 1 Gigawatt installiert hat. Immerhin: Im Dezember 2023 haben sich DTEK und der dänische Windradbauer Vestas darauf verständigt, mit Fördergeldern der EU sowie der dänischen und der ukrainischen Regierung im Süden des Landes nicht weit von der Front den größten Windpark Osteuropas mit einer Kapazität von 500 Megawatt zu errichten. Das würde reichen, um 900.000 Haushalte zu versorgen. Die Turbinen sollen ab Ende dieses Jahres nach und nach ans Netz gehen.
Im Juli 2023 hat das ukrainische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Installation von Solarkraftwerken in privaten Haushalten und in Unternehmen fördern soll, um die Stromerzeugung weiter zu dezentralisieren. Für Unternehmen könnte sich das finanziell lohnen, sagen Fachleute, für andere Endverbraucher hingegen nicht, denn für die ist der Strom aus dem Netz dank hoher Subventionen unschlagbar günstig. „Bei uns kostet die Kilowattstunde Strom nur 6 bis 7 Eurocent, das ist viel zu billig“, sagt Inna Sowsun, Parlamentsabgeordnete und Energiepolitikerin der Oppositionspartei Golos. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der durchschnittliche Strompreis bei 40 Eurocent für die Kilowattstunde. „Ich würde die Tarife erhöhen, außer für die wirklich arme Bevölkerung“, sagt Sowsun. Sie kritisiert die Regierung dafür, dass sie dieses Problem nicht anpackt. Sie räumt aber auch ein, im Krieg Subventionen zu kürzen, sei nun mal schwierig.
Auch Ukrhydroenergo-Chef Syrota sagt, der aktuelle Strompreis sei nicht kostendeckend. Sein Unternehmen und der staatliche Atomkraftwerkbetreiber Energoatom müssen für die Subventionen aufkommen; dafür müsse Ukrhydroenergo jährlich rund die Hälfte der Einnahmen an den Staat abführen. Syrota: „Das ist nicht tragbar. Mittelfristig muss der Strompreis erhöht oder die Subventionen müssen aus anderen Quellen finanziert werden.“
Der billige Strom motiviert nicht gerade zu einem sparsamen Verbrauch. „In der Ukraine brauchen wir für jeden Euro Wirtschaftsleistung zwei- bis dreimal so viel Energie wie im EU-Durchschnitt“, sagt die Energiepolitikerin Sowsun. Mehr als ein Viertel der von Kraftwerken in Kyjiw produzierten Fernwärme gehe in maroden Leitungen unter der Stadt verloren und komme nie bei den Verbrauchern an. „Als ich im Winter mit meinem Sohn durch die Stadt gelaufen bin, hat der mich gefragt: Mama, warum liegt hier Schnee und gleich daneben keiner?“
Vor fünf Jahren hat die Ukraine mit Unterstützung der EU und Deutschlands einen Fonds für Energieeffizienz eingerichtet. Hausgemeinschaften sollten daraus etwa Mittel beantragen können, wenn sie ihre Wohnblöcke thermisch dämmen wollen. Allerdings ist daraus nie etwas geworden, sagt Sowsun: Nachdem die Ukraine die Zahlungen in den Fonds eingestellt habe, komme auch nichts mehr von den europäischen Partnern.
Die Ukraine kämpft also an zwei Fronten um die Zukunft ihrer Energieversorgung: zum einen gegen den russischen Aggressor, zum anderen im eigenen Land, in dem es um den Umbau des Energiesystems und einen effizienten Verbrauch geht. Auf die Frage, wie schwer es ihr als Energiepolitikerin falle, nach vorne zu schauen, antwortet Inna Sowsun: „Eine grüne Zukunft für die Ukraine? Mir geht es erst einmal darum, dass wir den Sommer schaffen. Ich denke noch nicht einmal bis zum nächsten Winter.“
Die Reise für die Recherche dieses Beitrags hat das Zentrum Liberale Moderne LibMod in Berlin bezahlt.
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