Umbruch in Zeitlupe

Maria Tekülve
Frauen verkaufen Holzkohle an einer Straße in Chongwe, 50 Kilometer östlich von Lusaka.
Sambia
Sambia im südlichen Afrika wandelt sich, wie ein Gang durch die Hauptstadt Lusaka deutlich macht. Schicke Viertel entstehen dort für die wachsende Mittel- und Oberschicht. Aber selbst hier zeigt sich die breite Kluft zwischen Arm und Reich, die das Land auch heute noch kennzeichnet.

„Nichts für das gemeine Volk, viel zu groß, zu teuer“, kommentiert Jeremiah, Regionalplaner in Rente, den imposanten neuen Kenneth Kaunda International Airport in Lusaka. „Nicht einmal an eine Aussichtsplattform haben die chinesischen Konstrukteure gedacht, beim alten Flughafen konnte unsereins wenigstens zusehen, wie die Maschinen mit den Lieben oder Prominenten an Bord landeten oder abhoben.“ Jetzt müsse man wie ein Hund draußen warten. 

Am alten Flughafen wurde Geschichte geschrieben: Der damalige Präsident Kenneth Kaunda, begleitet von anderen Großen der Zeit, begrüßte dort den gerade aus der Haft entlassenen Nelson Mandela. Rückblickend war das einer der letzten glanzvollen Momente Sambias, bevor das Land zu Beginn der 1990er Jahre in eine Depression versank. Hohe Verschuldung und sozialistische Misswirtschaft zwangen Kaunda eine vom Internationalen Währungsfonds geprägte rigorose Strukturanpassung mit Liberalisierung des Markts, Kürzung der Staatsaufgaben und Demokratisierung auf. Zugleich erreichte HIV/AIDS seinen verheerenden Höhepunkt. Auch Dürren trugen zu weiterer Verarmung in einem Land, das bereits zu den ärmsten der Welt gehörte. 

Lichtblicke waren die Überwindung des Einparteienstaates und die ersten demokratischen Wahlen 1991, nach denen Kaunda friedlich den Stab an den Wahlsieger Frederick Chiluba übergab. Allmählich rappelten sich Land und Leute wieder auf, die Indikatoren für Einkommen, Lebenserwartung, Müttersterblichkeit und Bildung gingen in den Nullerjahren deutlich nach oben, bis es um 2015 wieder zu stottern begann.

Drei friedliche Regierungswechsel seit der Unabhängigkeit

Dafür hat sich die Demokratie weiter gefestigt. In den jüngsten Wahlen im August 2021 verlor der wegen ausufernder Korruption berüchtigte Präsident Edgar Lungu (2015-2021) sein Amt an Hakainde Hichilema – der dritte friedliche Regierungswechsel seit der Unabhängigkeit. Hichilema hat binnen kurzer Zeit die Korruption und die Inflationsrate spürbar gesenkt; mit dem freien politischen Klima ist die Bevölkerung laut Umfragen des Afrobarometers überwiegend zufrieden. 

Sambia wächst, aber in den Townships der Hauptstadt Lusaka kommt das nur sehr langsam an.

Jeremiah biegt in die sechsspurig ausgebaute Great East Road ab, früher eine mit Schlaglöchern übersäte schmale Straße. „Alles in den letzten Jahren gebaut“, erklärt er. „Das einzig Gute an Präsident Lungu war, dass jetzt ordentliche Straßen da sind, Schulden hin oder her.“ Im neuen Universitätsklinikum, ebenfalls mit chinesischer Unterstützung gebaut, ist Jeremiah jüngst gut behandelt worden. Ansonsten sei unter Lungus Regierung für den einfachen Mann alles schwieriger geworden. 

Autorin

Maria Tekülve

Maria Tekülve, ist promovierte Geografin und freie Autorin. Sie war bis 2021 Mitarbeiterin des BMZ, hat von 1988 bis 1993 in Sambia für die GTZ gearbeitet und das Land danach immer wieder besucht.

Auch in Sambia, vor allem in Lusaka, gibt es eine Mittelschicht – doch wird sie deutlich breiter? Die Hauptstadt ist binnen einer Generation von 1,2 Millionen Einwohnern 1990 auf heute über 3,1 Millionen gewachsen. Ihr Charakter einer von alten Jacaranda-Alleen und schattigen Flamboyant-Bäumen geprägten Gartenstadt wird zunehmend von einem großzügig ausgebauten Straßennetz und einer hohen Dichte an Shopping- und Freizeitmalls überlagert. Das Zentrum rund um die früher öde Cairo Road ist heute ein quirliger Geschäftsbezirk. Autokolonnen – es gibt keinerlei öffentlichen Nahverkehr – quälen sich vorbei an fliegenden Händlerinnen und Händlern mit Bananen oder Cola auf dem Kopf durch den Berufsverkehr: Honda- und Toyota-Kleinwagen, dazwischen nagelneue SUV, gelegentlich ein Mercedes, private Minibusse und Taxen und nur vereinzelt Mopeds und waghalsige Radfahrer. 

Reisnudeln aus China, Lindt-Schokolade aus der Schweiz

Im grünen Osten der Stadt, in Kabulonga und Ibex-Hill, lebt die Mittel- und Oberschicht – Top-Geschäftsleute, hohe Regierungsbeamte, Diplomaten – in geräumigen Häusern mit parkähnlichen Gärten hinter hohen Mauern. Auf den noch immer zahlreichen Freiflächen sind neue Apartmenthäuser und Wohnanlagen in Bau. Die Supermärkte der Ketten Shoprites und Pick’n Pays bieten südafrikanische und erfreulich viele sambische Agrarprodukte und natürlich ein globales Angebot, Reisnudeln aus China oder Lindt-Schokolade aus der Schweiz. Bei Kentucky Fried Chicken tippen smarte Business-Frauen und -Männer in ihre Handys und Laptops. An den Wochenenden trifft sich hier die Jugend bei Coke, Bier und Spareribs, um auf den großen Bildschirmen bei den Spielen der Champions League und des Africa Cup mitzufiebern. 

In den Vierteln der neuen Mittel- und Oberschicht in der Hauptstadt Lusaka stehen bessere Autos vor den Häusern und die Straßen sind asphaltiert.

„Wir haben eine breite Mittelschicht, sie ist stimmgewaltig – und sie wächst“, sagt Progress H. Nyanga, Dozent an der University of Zambia. „Früher gab es arm oder reich – wenig dazwischen.“ Nyanga gehört zu den mittleren Beamten, die monatlich umgerechnet zwischen achthundert und tausend Euro verdienen. Davon kann eine vierköpfige Familie, wenn zum Beispiel die Frau Bankangestellte ist, mit Haus und Auto vergleichsweise gut leben. 

Die Kinder dieser Viertel gehen auf eine der vielen Privatschulen, was in Lusaka nicht außergewöhnlich ist. Die staatlichen Schulen sind seit 2021 gebührenfrei, doch wer es sich leisten kann, selbst in den armen Vierteln, erspart dem Nachwuchs Klassen mit hundert Schülern und zahlt, je nach Einkommen, vierzig bis sechshundert Euro pro Dritteljahr für eine Privatschule. Die Investition, sagt Nyanga, lohne sich: Wer einen Bachelor-Abschluss hat, könne etwa im Dienstleistungsbereich mit dreihundert Euro pro Monat einsteigen, Job allerdings nicht garantiert. Die sambische Gesellschaft sei im Umbruch, einem graduellen strukturellen Wandel, die Übergänge zwischen der Unter-, Mittel- und Oberschicht seien fließend. Die großen Gegensätze finde man weniger innerhalb der Städte, sondern vielmehr zwischen Stadt und Land.

In die Malls geht sie nur für Maismehl

„Die Malls sind nur für die Reichen“, protestiert Mary. Sie ist Hauswirtschafterin in einem Hostel und Alleinverdienerin mit einer arbeitssuchenden Tochter und einer Enkelin auf einer Privatschule, die 50 Euro pro Dritteljahr kostet. Ihre Wohnung mit Fernseher bekommt sie von ihrem Arbeitgeber gestellt, ihr Gehalt von 200 Euro ist relativ solide und vor allem regelmäßig, ihr altes Auto betankt sie nur wenige Male im Jahr. In die Malls geht sie nur, um Maismehl zu kaufen – nach ausführlichen Preisvergleichen. Ansonsten könne sie sich nur die kleinen Läden leisten, ein paar Tomaten, Spinat und Bananen, gelegentlich ein Huhn oder Trockenfisch. Ihre Wochenenden gehören der Kirchengemeinde, ihre Laster, sagt sie und lacht, sind indische Soap Operas. Marys Kollege, der Nachtwächter Onassis, bekommt nur ein halb so hohes Gehalt, ist aber froh über seinen sicheren Arbeitsplatz und gelegentliche Zugaben wie einen Kanister Speiseöl. 

Die Gruppe der formell Beschäftigten gilt häufig als Kern einer Mittelschicht. Ihr Anteil an allen Beschäftigten wächst in Sambia langsam, aber stetig und lag um 2020 bei 25 bis 30 Prozent, abhängig von den DefinitionenZugleich boomt der informelle Sektor und bietet, besonders in den Städten, eine Vielfalt von Einkommensmöglichkeiten und auch attraktive Jobs etwa in Handel und Dienstleistungen. 

Drückende Schuldenlast

Langfristig hat die Armut in Sambia abgenommen, aber mit einem Rückschritt seit 2015: Der Anteil der Menschen, die Grundbedürfnisse nicht decken konnten, betrug 1990 noch 78 Prozent und ging bis 2015 auf 54 ...

Scharfe soziale Kontraste sind selbst innerhalb der noblen Viertel sichtbar, unabhängig von den zahllosen Hausangestellten. Auf Ibex-Hill wartet eine große Gruppe junger Männer vor einem Tor: Tagelöhner, die auf einen Job hoffen, bei dem sie für acht bis zehn Stunden harte Arbeit auf Gerüsten etwa zwei Euro am Tag erhalten, was dem offiziellen Mindestlohn für einfachste Tätigkeiten entspricht. Ein Stück weiter, vor einem stillgelegten Rohbau, campiert eine junge Frau mit drei Kindern. Ein mageres Mädchen, in löchriger Alltagskleidung und barfuß, beantwortet die Frage, warum sie nicht in der Schule sei, mit „Niemand unterstützt uns“. Aber die Gebühren sind doch abgeschafft? „Ja“, entgegnet das Mädchen, „aber wir haben kein Geld für Schuhe.“

Stolze Eigenheime, aber keine neuen Straßen

Das Nachbarviertel Kalingalinga, einem der älteren, zentrumsnahen Townships, die man in den Siebzigern noch als Slum bezeichnete, gleicht heute einem Meer von Kleinst- und Kleinhäusern, darunter stolze Eigenheime, manche mit Mauern geschützt, entlang schmaler Sandgassen, oben ein Gewirr von Stromkabeln. Hier leben die zahllosen Dienstmädchen und Torwächter für die besseren Viertel, die Kassiererinnen in den Supermärkten, Busausrufer, Bauarbeiter. Und die Unzähligen, die ihr Geld mit irgendwelchen Geschäften verdienen, vom Gemüseverkauf, Friseur- und Handyladen bis zum nebulösen Import-Export. Die neuen Straßen haben es hierher nicht geschafft.

Der dreißigjährige Moses wohnt hier mit Familie in einem Zweizimmerhaus. Er fährt Taxi für Yango, das lokale Uber, das Auto stellt seine Tante gegen „Gebühr“. 50 bis 80 Kwacha, zwei bis drei Euro, bekommt er für drei bis sechs Kilometer, doch davon, sagt Moses, muss er noch den Sprit bezahlen, 29 Kwacha der Liter. Netto springen, wenn er Glück hat, pro Monat 2000 Kwacha (70 Euro) für ihn heraus. Das liegt weit unterhalb der offiziellen Lebenshaltungskosten für eine fünfköpfige Familie wie seine – die wurden schon 2021 mit 8000 Kwacha kalkuliert.

Nachts fährt Moses nicht, zu gefährlich, sein Kumpel wurde gekidnappt und in den Straßengraben geworfen, Geld und Auto weg. Moses gehört zu den Glücklichen, dessen Eltern noch ein Feld im nahen Chongwe besitzen; ansonsten, sagt er, müssten die Kinder ohne Frühstück in die staatliche Schule gehen. 

Im Township Chibolya  in der Hauptstadt Lusaka bietet eine Frau Hühner feil.

„Bleib weg aus den Shanty-Compounds“, warnt Geraldine, Jeremiahs Frau, vor Raubüberfallen. Eines dieser Viertel ist das dicht besiedelte, lebendige Chibolya im Südwesten der Stadt, wo Baum und Strauch kaum noch Platz finden. Dafür reihen sich Verkaufsstände für Lebendhühner und Eier, Kioske und Garküchen dicht an dicht an den Straßenrändern und offenen Abwasserkanälen. Auf schwarzen Plätzen türmen sich Säcke mit teurer Holzkohle, die in kleinen und kleinsten Säckchen für ein paar Kwacha verkauft wird. Abends dröhnt Musik, auch von guten Live-Bands, aus den Bars, wo sich junge Mädchen für ein schickes Kleid oder auch nur einen Sack Maismehl verkaufen.

Schrott sammeln bei den Reichen

Moses hat hier mit seinem Kumpel Kevin zu tun. Der Vierzigjährige zieht die Wellblechtür hinter sich zu und erzählt von seinem früheren „Business“ mit Mineralien. Mehrmals ist er zu illegalen Camps im angolanischen Busch gefahren, wo die Männer alte Munition und Landminen aus dem vergangenen, brutalen Krieg aufspürten und zerlegten, um Metall zu entnehmen, darunter abgereichertes Uran. Wie er das macht, verrät er nicht, Betriebsgeheimnis. Auf dem Schwarzmarkt gebe es dafür gutes Geld. Aber nun hat er ein besseres Geschäft mit einem Partner aufgemacht: Mit einem alten Pick-up sammeln sie Schrott bei den Reichen und verkaufen ihn im Industriegebiet.

Fazit: Nyangas These von der graduellen Transformation trifft in Teilbereichen zu, zum Beispiel beim Gesundheits- und Bildungswesen, bei Digitalisierung und Konsum. Bezogen auf die Gesamtgesellschaft überzeugt sie nicht. Der Wandel vollzieht sich sehr langsam; Armut, Einkommens- und Ernährungsunsicherheit einer großen Gruppe haben gar wieder zugenommen. Für sie sind die Schwierigkeiten hoch, den Alltag zu meistern, manchmal mit wenigen, harten Alternativen und am Rande der Legalität.

Die neue Regierung ist gut gestartet. Doch die altbekannten Zukunftsaufgaben des Staates – Armutsbekämpfung, wirtschaftliche Diversifizierung, Energie und Transport – sind nach wie vor enorm. Präsident Hichilema plant, die Wirtschaft zu „verdoppeln“. Während Stromausfälle noch an der Tagesordnung sind, verkündet er bereits, dass Sambia bald zum Energieexporteur werde. „Ja, wir straucheln manchmal, aber vorwärts. Lasst uns das Erreichte feiern“, appelliert ein Minister im populären HOT-Radioprogramm. 

Jeremiah hat nur begrenzt Geduld mit der neuen Regierung: „Sie hat erst Halbzeit, und im zweiten Teil kann man nicht mehr alle Schuld der Vorgängerregierung anlasten.“ Er ist mit seinem Umzug von Lusaka in das vierzig Kilometer entfernte Chongwe beschäftigt, ins Haus mit eigenem Maisfeld. Geraldine kann dort das geplante Restaurant vorerst wegen der Stromausfälle nicht eröffnen. 

Moses erklärt, nachdem die Tankstellen die Preise auf 31 Kwacha erhöht haben, werde er bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2026 das Kreuzchen woanders machen. Gemeinsam mit Kevin ist er wegen irgendeines „Business“ unterwegs. Präsident Hichilema hat im August die Behörde zur Korruptionsbekämpfung aufgelöst – wegen bisher nicht bestätigter Korruptionsvorwürfe. „Immerhin, er bleibt am Ball“, kommentiert eine Hörerin bei HOT. 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2024: Wo Macht sich kaufen lässt
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