Ohne Ausbau von Wind- und Solarenergie ist die Abkehr vom fossilen Zeitalter nicht denkbar. Sollen die globalen Klimaziele erreicht werden, dann müssen wir bis 2050 zu 70 Prozent auf den Einsatz klimaneutraler Energiequellen umstellen – heute stammen global noch 80 Prozent unserer Energie aus fossilen Rohstoffen wie Öl und Gas. Doch auch die neuen Energietechniken brauchen große Mengen Rohstoffe: Kupfer, Kobalt, Nickel, aber auch Magnesium, Mangan, Lithium und seltene Erden. Die Internationale Organisation für erneuerbare Energien (IRENA) erwartet im Fall von Lithium beispielsweise bis 2050 Nachfragesteigerungen von über 2000 Prozent.
Diese Stoffe bestimmen das globale Rohstoffgeschehen der Zukunft. Das wird die Welt dramatisch verändern. Manche Staaten und soziale Schichten werden von dem neuen Rohstoffboom profitieren, viele durch zusätzliche Kosten zum Beispiel für Wohnen, Lebensmittel oder Mobilität stärker belastet. Die Ungleichheit droht weiter zu steigen. Doch ein kleines Segment von Elektroautos für Besserverdienende wird das Klima nicht retten. Nur wenn sich die neuen Technologien breitenwirksam und international durchsetzen und alle mitnehmen, wird die Energiewende gelingen. Dafür sind große Investitionen nötig, die auch die Reichsten in die Pflicht nimmt. Senkung der Ungleichheit, erfolgreiche Energiewende und Klimaschutz sind untrennbar verbunden.
Unsere Forschung zeigt, dass sich der Rohstoffhandel wertmäßig auf ein Drittel des internationalen Handels beläuft; ein Viertel der Weltbevölkerung bezieht sein Einkommen direkt und indirekt aus Rohstoffexporteinnahmen. Mit der Energiewende hoffen viele Ländern des globalen Südens auf attraktive zusätzliche Einnahmequellen.
Der wirtschaftliche Segen kann zum Fluch werden
Das trifft besonders auf Lateinamerika zu. In der Region lagert ein großer Teil der Reserven kritischer Rohstoffe, die für ein post-fossiles Energiezeitalter benötigt werden: über die Hälfte der weltweiten Lithiumvorkommen, etwa 40 Prozent der weltweiten Kupferreserven, ein Fünftel der Zink- und Zinnvorkommen. Darüber hinaus hat die Region weitgehend unerschlossene Vorkommen an Grafit, seltenen Erden und Nickel, die für Hochleistungsturbinen oder Speicherelementen nötig sind. Und sie hat exzellente Bedingungen für den Ausbau von Wind- und Solarenergie sowie der Erzeugung von grünem Wasserstoff. Lateinamerika steht vor einem neuen Rohstoffboom.
Autoren
Hannes Warnecke-Berger
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel. In seiner Habilitation beschäftigt er sich mit Rücküberweisungen von Migranten in die Heimatländer.Hans-Jürgen Burchardt
ist Professor und Leiter des Fachgebiets Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen an der Universität Kassel. Er forscht zu internationaler Umwelt- und Rohstoffpolitik und Nord-Süd-Beziehungen mit Fokus auf Lateinamerika.Der wirtschaftliche Segen kann Lateinamerika aber zum Fluch werden. Die Region ist nicht nur bestens mit den Rohstoffen der Zukunft ausgestattet, sondern hat auch das höchste Ausmaß an sozialer Ungleichheit. Der Anteil des reichsten Zehntels der Bevölkerung am Gesamteinkommen beläuft sich laut Daten des World Inequality Lab auf über 55 Prozent; in Europa sind es 36 Prozent. Während der Pandemie ist das Vermögen der Wenigen in Lateinamerika weiter angestiegen. Diese exzessive Reichtumskonzentration widerspricht nicht nur allen Vorstellungen von Gerechtigkeit, sie beeinträchtigt auch die Chance auf eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation auf dem Subkontinent.
Die Reichen und Reichsten Lateinamerikas sind politisch enorm einflussreich. Sie haben meist weniger Interesse an der nachhaltigen Entwicklung ihrer Region als an der weiteren Vermehrung ihres Reichtums. Deshalb unterstützen sie eine massive Rohstoffausbeutung und verhindern durch politische Einflussnahme, dass das Geld aus den sich füllenden Staatskassen für grüne Technologien und öffentliche Infrastruktur, Bildung, Gesundheit sowie die Schaffung guter Jobs ausgegeben wird. Und sie blockieren jeden Versuch, durch Umverteilung über Steuer- und Agrarreformen mehr sozialen Zusammenhalt zu schaffen. Die Politik wiederum alimentiert ihre Klientel mit einem Anteil der Mehreinnahmen aus den Rohstoffen und sichert über Wählerstimmen ihre Herrschaft ab, scheut aber tiefergehende Reformen – und die Auseinandersetzung mit den ökonomischen Eliten.
Üppige Rohstoffeinnahmen begünstigen diesen Prozess, denn sie erlauben kurzfristig, alle Interessen konfliktarm zu befrieden. Wie in einem Fahrstuhl werden alle sozialen Schichten gleichermaßen nach oben befördert, ohne ihre Zusammensetzung zu verändern: Die ökonomischen Eliten können ihre Vermögen halten, oft sogar ausbauen; die Mittelschichten gewinnen etwas dazu, und in geringerem Umfang alimentieren soziale Hilfen einen Teil der Unterschichten.
Mehr denn je von den Weltmarkt-Rohstoffpreisen abhängig
Doch Fahrstühle und Rohstoffpreise gehen nicht nur nach oben. Mit einem Abwärtstrend sinken die Einnahmen, und die eigene Basis oder politische Bündnispartner beginnen zu bröckeln. Dies haben die Mitte-links-Regierungen Lateinamerikas in den vergangenen beiden Dekaden schmerzhaft erfahren, als sie trotz enormer Ressourcen, politischem Willen und breiter demokratischer Legitimation keinen echten wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel schafften. Die Region ist heute mehr denn je von den Rohstoffpreisen auf dem Weltmarkt abhängig. Mit einem neuen Boom werden sich solche Muster vermutlich vertiefen, zu noch mehr Ungleichheit führen und die Chancen auf eine nachhaltige Energiewende in Lateinamerika vermindern.
Dazu kommen weitere Schattenseiten der Energiewende: Selbst wenn sie im Norden gelingt, wird der Abbau der nötigen Rohstoffe im Süden starke Umweltbelastungen provozieren und kann die globale Klimabilanz konterkarieren. Und was wird aus Ländern wie Venezuela oder Ecuador, die fast vollständig vom Ölexport leben und das Potenzial haben, die ganze Region zu destabilisieren?
Die „neuen“ Rohstoffe kommen außerdem nur in wenigen Ländern vor. Diese geografische Konzentration kann die Bemühungen um eine weitere regionale Integration behindern, wird aber neue geopolitische Begehren insbesondere in China, den USA und Europa schüren und internationale Kooperation auf Augenhöhe weiter schwächen. Das gegenwärtige Rohstoffregime wird im Umbruch insgesamt anfälliger für Störungen. Zuletzt hat uns der Ukrainekrieg vor Augen geführt, wie dies abläuft: Nahrungsmittelpreise haben sich innerhalb weniger Tage vervielfacht und die ärmsten Länder in Hungerkrisen gestürzt.
Neue Gewinner und Verlierer
Die neuen Nachhaltigkeitsstrategien werden weltweit – auch in Deutschland – neue Gewinner und Verlierer schaffen. Die damit einhergehende wachsende Verunsicherung breiter Bevölkerungsteile ist eine wichtige Triebfeder für Populismus und Rechtsextremismus, der in Lateinamerika ebenso wie in Europa gefährlich an Einfluss gewinnt.
Lateinamerika lehrt uns: Der Erfolg der Energiewende ist nicht nur eine technologische Frage, er hängt nicht nur von Ressourcen ab, sondern ist stark mit Verteilungsfragen verknüpft. Es geht nicht mehr nur um soziale Gerechtigkeit, es geht auch darum, ob für kluge Nachhaltigkeitspolitik breite Mehrheiten gewonnen werden können und wer über den Technologieeinsatz entscheidet. In Lateinamerika geht es um die Frage, ob der neue Boom die Rohstoffabhängigkeiten und Ungleichheit weiter vertieft oder diesmal zu einem echten Wandel führt. Dazu gehören mehr Technologieeinsatz und grüne Industrie, mehr gute Beschäftigung und eine bessere Verteilung der Gewinne und Vermögen, damit Soziales und Bildung ausgebaut werden und letztendlich die breite Bevölkerung partizipieren kann.
Auch für Deutschland wird die Verteilungsfrage entscheidend: Wenn eine sehr wohlhabende Minderheit im Land dafür sorgt, dass teure und in der Produktion wie im Betrieb energieintensive SUVs bis 2030 die Hälfte aller registrierten Neuwagen ausmachen, macht es politisch und ökonomisch Sinn, weitere Autobahnen zu bauen und klimaschädliche Subventionen wie die Dienstwagenpauschale aufrechtzuerhalten, statt den öffentlichen Nah- und Fernverkehr für die weniger zahlungskräftige Mehrheit auszuweiten. Nicht der Wettbewerb und Ingenieurskunst entscheiden darüber, wie klimafreundlich die Technologien der Zukunft sind: Es ist der weiterwachsende oder sich verringernde Reichtum, der über die Nachfrage die wichtigsten Impulse setzt. Reichtum und Nachfrage beeinflussen deutlich, ob Lateinamerika seine Rohstoffabhängigkeit überwindet oder Deutschland ernstzunehmenden Klimaschutz betreibt.
Exzessive Reichtumskonzentration und große Ungleichheit werden deshalb dort wie hier zur Entwicklungsfalle: Solange die Produkte und Technologien, die wir auf dem Weg in ein klimafreundliches Energiezeitalter brauchen, für die Masse zu teuer sind, setzen sie sich nicht durch. Solange sie aber nicht breitenwirksam werden, wird es keine effektive Energiewende geben, mit der die Klimaziele erreicht werden können. Das zeigt bereits die Geschichte: Die letzte Energiewende, der Beginn des fossilen Energiezeitalters, hat sich erst wirklich vollzogen und alle wichtigen Lebensbereiche geprägt, als fossile Energie für alle erschwinglich wurde.
Verteilung ließe sich leichter und schneller ändern als das Klima
Die globale Klimakrise ist also als erstes eine Verteilungskrise – national wie international. Das ist eigentlich eine gute Nachricht. Verteilung kann man schließlich leichter und schneller ändern als das Klima. Was es dazu braucht, liegt auf der Hand und unterscheidet sich zwischen Lateinamerika, Europa oder Deutschland nur wenig: Nötig sind zu Beginn Steuerreformen, die auch die breitesten Schultern und größten Vermögen in die Pflicht nehmen und die hinreichende Mittel für öffentliche Investitionen mobilisieren, die die Privatwirtschaft nicht erbringen kann oder will. Damit kann eine technologie- und lernorientierte Industriepolitik für Nachhaltigkeit genauso gefördert werden wie der Aufbau einer für alle attraktiven CO2-neutralen Infrastruktur in Bereichen wie Mobilität, Wohnen oder Landwirtschaft. Weitere wichtige Bausteine sind internationale Handelsabkommen und Hilfen, die zum Beispiel über Technologietransfer garantieren, dass die Energiewende nicht auf den Globalen Norden beschränkt ist.
Wenig produktiv scheinen uns hingegen Diskussionen über einen „grünen Kolonialismus“, die den Fokus darauf legen, dass die Energiewende den globalen Süden abhängig und in der Rolle des Rohstofflieferanten hält. Sie verharmlosen nicht nur die brutalen Gewaltverhältnisse der historischen kolonialen Ausbeutung. Sie degradieren auch den Süden und speziell Lateinamerika auf eine Opferrolle und vernachlässigen, dass die Region mit der anstehenden Energiewende neue Optionen erhält, ihre Zukunft mit frischen Ideen eigenständig zu gestalten. Lateinamerika und andere Gesellschaften des globalen Südens sind nicht „unterentwickelt“, arm oder abhängig. Sie sind vor allem zu reich und zu ungleich für eine klimaneutrale Energiewende. Wir dürfen den weltweiten Trend der exzessiven Reichtumskonzentration nicht mehr vernachlässigen, wenn wir von nachhaltiger Entwicklung und Klimaschutz sprechen.
Das anbrechende Energiezeitalter eröffnet also ungeahnte Möglichkeiten, birgt aber auch große Gefahren. Die Energiewende kann zum Motor werden, Entwicklung nachhaltig, ökologisch und lokal auszurichten. Das gelingt aber nur, wenn sie mit der Verringerung sozialer Ungleichheit einhergeht. Vielleicht ergreift Lateinamerika in der Energiewende die Chance, eine neue Zukunft von allen für alle aufzubauen. Deutschland dient dafür bisher nicht als Beispiel.
LITERATUR
Hans-Jürgen Burchardt, Lateinamerika: Rohstoffausbeutung in Grün? in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2023
Hannes Warnecke-Berger und Jan Ickler (Hg.), The Political Economy of Extractivism: Global Perspectives on the Seduction of Rent. London, New York 2023
Hans-Jürgen Burchardt, Das pandemische Manifest: Neun Schritte in eine zukunftsfähige Gesellschaft. München 2021
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