Die Kirche könnte den Frauen mehr helfen

Halbportrait einer Afrikanerin in heller traditioneller Kleidung und Kopfbedeckung. Sie hält einen Strauß roter Blumen hoch und bedeckt damit ihr Gesicht vollständig. Im Hintergrund ein rotschwarzer Vorhang und eine blaue Tür.
Arlette BASHIZI/The Washington Post via Getty Images
Drei Monate lang wurde diese 32-jährige Frau im Krieg von eritreischen Soldaten gefangen gehalten und missbraucht.
Sexualisierte Gewalt im Krieg
Frauen wurden im Bürgerkrieg in Tigray in Äthiopien systematisch vergewaltigt. Die Religion hilft vielen nun, das Trauma zu bewältigen – doch die Kultur und die Ausbildung der orthodoxen Geistlichen sind da manchmal hinderlich.

"Wie soll ich darüber reden, was sie mir angetan haben? Nach zwei Wochen von Vergewaltigung, Beleidigung und Spott warfen die Soldaten mich schließlich auf die Straße, trotz meines Alters von 77 Jahren. Als ich dort lag, weinte ich mit den Worten Jesu am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”

Dieses Zitat stammt aus dem Buch „Tearing the body. Breaking the spirit“, zu Deutsch „Den Körper zerreißen, den Geist brechen“. Es versammelt Berichte von überlebenden Frauen, die Opfer sexueller Gewalt im Tigray-Krieg in Äthiopien von 2020 bis Ende 2022 wurden. Die Schilderungen sind kaum zu ertragen: Vergewaltigungen vor den eigenen Kindern oder vor ermordeten Familienmitgliedern, gewaltsame Abtreibungen, wochenlange sexuelle Sklaverei und Folter mit dem Ziel, dass die Frauen nie wieder Kinder zur Welt bringen können. Es gilt als gesichert, dass sexuelle Gewalt im Tigray-Krieg systematisch als Kriegswaffe eingesetzt wurde. Schätzungen gehen von bis zu 120.000 Überlebenden aus. 

Verheerender Waffengang

Dem Krieg in Tigray lagen Konflikte zwischen der äthiopischen Zentralregierung unter Premierminister Abiy Ahmed und der Tigray-Befreiungsfront (Tigray Peoples Liberation Front, TPLF) zugrunde. Diese hatte bis zum Jahr 2018, ...

Mullu Mesfin leitet das Zentrum für Überlebende sexueller Gewalt in Mekelle.

Mullu Mesfin kennt die Leiden der betroffenen Frauen. Sie leitet seit 2019 das größte und für lange Zeit einzige Zentrum für Überlebende sexueller Gewalt in einem Krankenhaus in Mekelle, der Hauptstadt von Tigray. Hier kommen vor allem die schweren Fälle an, seit Beginn des Krieges über 6000. Mullu hat alles gesehen. Sie spricht offen darüber, wie sie selbst mit ihrer Sekundärtraumatisierung kämpft. „Wenn ich an einem Tag zehn Frauen untersucht habe, ihnen zugehört und mit ihnen geweint habe, dann gehe ich seelisch völlig ausgelaugt nach Hause.“ 

An besonders schweren Tagen sucht sie heilige Quellen auf, eine weitverbreitete Praxis in Tigray, dessen Bevölkerung zu mehr als 95 Prozent der Äthiopisch Orthodoxen Kirche (ÄOK) angehört. Diese Quellen gibt es überall im Land, manche einsam und abgelegen, andere mitten in der Stadt. Sich dort zu baden, bedeutet spirituelle Reinigung und Stärkung. Mullu hilft es, das Gesehene und Gehörte zu verarbeiten. 

Die meisten Frauen suchen auch spirituelle Unterstützung

Wie für sie selbst ist auch für ihre Patientinnen die Religion eine wichtige Ressource, um mit dem Erlebten umzugehen. „Tigray ist eine sehr religiöse Gesellschaft“, erklärt Mullu, „deshalb suchen die meisten Frauen spirituelle Unterstützung.“ In der ÄOK ist es üblich, dass jeder Mensch einen „spirituellen Vater“ hat, der im Regelfall den Gläubigen durch das ganze Leben begleitet: eine gute Grundlage für eine hilfreiche Beziehung. 

Systematisch in die Behandlung der Frauen integriert ist Religion allerdings nicht. „Allein deswegen nicht, weil Männer nicht bei uns auf die Station dürfen“, erklärt Mullu; alle Geistlichen der Kirche sind Männer. „Aber für die Frauen ist es eine große Unterstützung, einen Priester an ihrer Seite zu wissen. Sie vertrauen ihnen mehr als uns Krankenschwestern. Ich habe viele weinen sehen vor Freude, wenn sie von einem guten Priester kommen.“ Allerdings, räumt Mullu ein, sei das nicht immer der Fall. Kleriker bräuchten dringend Fortbildungen, wie man mit Überlebenden von sexueller Gewalt umgeht, was ein Trauma ist und wie es sich äußert. „Viele sind da überfordert“, sagt Mullu.

Dass Religion für Überlebende sexueller Gewalt in kriegerischen Konflikten zu ihrer Heilung beitragen kann, ist in zahlreichen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen. Systematisch untersucht wurde das vor allem im ehemaligen Jugoslawien sowie der Demokratischen Republik Kongo. In Tigray sind Kleriker nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil sie für viele die einzig erreichbare Unterstützung sind – gerade für Frauen auf dem Land. „In ganz Tigray gibt es vielleicht drei oder vier ausgebildete Psychologen“, schätzt Mullu.

Einige Priester haben sich demonstrativ gegen die Tradition gestellt

Dabei ist eine verlässliche Betreuung von Überlebenden eigentlich unerlässlich. Idealerweise gilt das auch für ihre Ehemänner. „Es ist tragisch, wie viele Frauen nach ihren furchtbaren Erlebnissen ihre Familie verlieren, weil ihr Mann sich scheiden lässt“, sagt Mullu. Priester könnten bei diesem Problem eine wichtige Rolle spielen, weil sie die einzigen seien, mit denen auch die Ehemänner vertraulich sprechen können und auf die diese vielleicht hören. Mullu kennt Priester, deren Frauen vergewaltigt wurden und die demonstrativ mit ihnen zusammengeblieben sind, um für ihre Gemeinden ein Beispiel zu sein. Diese Fälle sind außergewöhnlich, weil sich nach der traditionellen Lehre der ÄOK ein Priester eigentlich scheiden lassen oder sein Amt aufgeben muss, wenn seine Frau außerehelichen Geschlechtsverkehr hatte – wobei tatsächlich nicht zwischen freiwillig und unfreiwillig unterschieden wird.

Autor

Benjamin Kalkum

ist Theologe und arbeitet als Consultant in Äthiopien. Er forscht zu Religion und Gender in Subsahara-Afrika. In Aachen hat er das Masterprogramm „Theologie und Globale Entwicklung“ absolviert.

Doch weil längst nicht alle orthodoxen Geistlichen den Mut haben, sich gegen die Tradition und die Sittlichkeitsvorstellungen ihrer Gemeinden zu stellen, taugen sie kaum zur seelsorgerischen Begleitung. Im Gegenteil: Mitunter bringen sie Frauen in eine verzweifelte Lage, denn unter vielen Geistlichen ist die Interpretation geläufig, dass die Frauen ihrer Sünden wegen bestraft wurden – Gott sei gerecht, und sonst hätte er das nicht zugelassen. Das Opfer ist demnach selber schuld, eine fatale Botschaft. 

Zudem leiden viele Frauen unter dem gesellschaftlichen Stigma nach einer Vergewaltigung, erst recht nach einer öffentlichen. Viele Überlebende leben deshalb freiwillig in Flüchtlingslagern, wo sie niemand kennt, oder suchen Zuflucht in Klöstern oder an Orten mit heiligen Quellen. Dort leben sie von Zuwendungen der Pilger und versuchen zu lernen, durch Fasten und Gebet mit dem Erlebten umzugehen. Mullu kennt Frauen, die schon seit zwei oder drei Jahren so leben: „Ich weiß nicht, ob sie jemals zurückkommen. Wohin sollten sie auch gehen? Sie können oder wollen nicht zurück in ihre Heimatorte. Sie fühlen sich schuldig, von Gott bestraft, und denken, dass sie durch ihr Leben jetzt Buße tun müssen.“

Kesis Tesfay, der Dekan des orthodoxen Priesterseminars, möchte die Haltung der Geistlichen ändern.

Kesis Tesfay ist Dekan des orthodoxen Priesterseminars in Mekelle und kennt solche Probleme. „Es stimmt, viele Priester behandeln die Frauen nicht gut.“ Es gehe dabei allerdings nicht in erster Linie um Religion, sondern um Kultur. „Selbst wenn man eine Vergewaltigung als Unzucht werten würde, dann wäre das immer noch theologisch nur eine Sünde, und die kann man beichten und vergeben“, sagt Tesfay. „Das kann kein Grund für eine Scheidung sein! Hier geht es um tiefsitzende kulturelle Wahrnehmungen von Reinheit – das muss man verstehen und unterscheiden.“

Doch nur eine Minderheit der Geistlichen könne sich eine gründliche theologische Ausbildung am Seminar in Mekelle leisten. „Dann wüssten sie, dass es falsch ist, den Frauen die Schuld aufzubürden, sie von der Kommunion auszuschließen oder dem Mann eine Scheidung zu erlauben.“ Tesfay hat deshalb zusammen mit einer lokalen Beratungsagentur ein Trainingsprogramm für Priester entwickelt und bereits über hundert Geistliche in Flüchtlingslagern zum Thema Trauma sensibilisiert und in Bible-Based Healing geschult, einer Methode, die mit Hilfe von biblischen Geschichten die Verarbeitung von Traumata unterstützt. „Wir wollen, dass die Kleriker diese Frauen als Märtyrer begreifen und sie ehren, anstatt sie zu diskriminieren. Sie sind doch unsere Mütter, Schwestern, Töchter“, sagt Tesfay.

Bewegung, aber noch keine offizielle Haltungsänderung

Der Dekan sieht bereits Bewegung in der Kirche. Viele Priester hätten angesichts der Kriegsgräuel ihre traditionellen Standpunkte hinterfragt. Aber noch hat die orthodoxe Kirche ihre Haltung nicht offiziell geändert. Zum einen gibt es eine Fraktion von Traditionalisten, welche die enge Symbiose von Religion und Kultur in Tigray nicht antasten will. Zum anderen befindet sich die Kirche in Tigray insgesamt in einem Schwebezustand, nachdem sie sich im Krieg im Prinzip von der Heiligen Synode in Addis Abeba losgesagt hat, diesen Bruch aber noch nicht durch die Wahl eines eigenen Patriarchen endgültig gemacht hat. „Es ist zurzeit alles etwas kompliziert“, sagt Tesfay und seufzt. 

Schwester Abeba vom katholischen Orden Daughters of Charity bietet jungen Frauen und Männern Hilfe an.

Schwester Abeba vom katholischen Frauenorden Daughters of Charity in Mekelle findet die Hinwendung zu dem Problem „ein bisschen spät“. Der Orden bietet jungen Frauen und Männern ein halbjähriges Programm an, das auch viele Frauen aus Mullus Station nutzen. Es kombiniert eine Ausbildung im Bereich Schneidern oder Kochen mit psychosozialer Beratung und spirituellen Angeboten wie dem erwähnten Bible-Based Healing. „Zu Beginn sind das Wichtigste ein sicherer Raum und jemand, der zuhört“, sagt Schwester Abeba. Dann komme die medizinische Versorgung sowie die Vermittlung von Grundkenntnissen über Trauma und Traumasymptome. „Und dann beginnt man ganz, ganz langsam, sich wieder der Zukunft zuzuwenden.“

Aus Schwester Abebas Sicht sind die spirituellen Angebote dabei entscheidend. „Die Frauen lieben zum Beispiel die Geschichte von Hiob. Sie sehen sich selbst in seinem Leiden und ziehen Kraft aus seiner Kraft. Wenn sie hier ankommen, denken viele darüber nach, sich zu töten – oder das Baby, das sie von ihrem Vergewaltiger haben. Am Ende können sie Gott wieder danken.“ Es brauche aber einen ganzheitlichen Ansatz, einschließlich Wissenschaft, um Traumata und ihre Symptome zu verstehen und zu behandeln. „Wenn wir den Frauen fünf Tage die Liebe Gottes predigten und sie dann wieder wegschickten – ohne alles! –, das würde nicht helfen“, sagt Schwester Abeba.

Die Möglichkeiten religiöser Akteure besser und breiter nutzen

Dass Religion und Spiritualität dann am wirksamsten sind, wenn sie eingebettet sind in psychologische und wirtschaftliche Hilfe, ist auch das Ergebnis einer großangelegten Studie, die die Hilfswerke Brot für die Welt und Misereor für Äthiopien in Auftrag gegeben haben. Dr. Atsbaha Gebreselassie, der wissenschaftliche Koordinator dieser Studie, betont die Komplementarität der verschiedenen Hilfsangebote. „Das Ergebnis unserer Studie ist, dass medizinische Ansätze und religiöse Angebote für die Heilung von Trauma einander ergänzen und bedingen.“ 

Allerdings stütze sich die Studie vor allem auf die qualitative Auswertung von Erfahrungswissen aus mehr als 25 Projekten und Organisationen. Es gebe viel Wissen bei kirchlichen Organisationen, das kaum systematisch gesammelt und ausgewertet werde, sagt Gebreselassie. „Anstatt für aufwendige quantitative Studien geben Kirchen das Geld lieber für zusätzliche Projektarbeit aus. Das ist verständlich, aber wir sollten hier trotzdem besser werden“, resümiert er. Er wünscht sich zudem, dass auch säkulare Organisationen die Studie aufgreifen. Denn in einer Situation wie in Tigray sei es fahrlässig, die Möglichkeiten religiöser Akteure nicht zu nutzen.

Die Studie zeigt aber auch, dass religiöse Kräfte und Institutionen selbst mehr Wissen über Traumata und ihre Symptome brauchen. Schwester Abeba bestätigt das: „Wir sind alle traumatisiert von dem, was wir gesehen und erlebt haben.“ Auf die Frage, welche Bibelstelle ihr in dieser dunklen Zeit besonders Kraft gegeben hat, antwortet sie: Die Geschichte der Emmaus-Jünger. „Sie waren verstört von dem, was auf Golgatha passiert war. Sie konnten es nicht verstehen und waren verloren, genau wie wir. Aber immerhin waren sie zu zweit und sprachen miteinander, und dann kam Jesus dazu und half ihnen, es zu verstehen. Und als er das Brot brach, erkannten sie ihn. Meine Hoffnung ist, dass wir eines Tages genau wie sie erkennen dürfen, wie er diesen ganzen dunklen Weg mit uns gegangen ist.“

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erschienen in Ausgabe 3 / 2024: Wer hat, dem wird gegeben
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