Nairobi - Öffnet man Twitter und sucht nach Tigray, dann findet man viele Posts über einen „Tigray Genocide“, einen angeblichen Völkermord in der äthiopischen Krisenregion. Doch bisher gibt es dazu keine offizielle Verlautbarung eines Gerichts, eines Landes oder der Vereinten Nationen. Was zu lesen ist, sind Berichte über grausame Massaker an Zivilisten und über Vergewaltigungen, aufgezeichnet von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen.
Forscher der Universität Ghent schätzen, dass rund 600.000 der ehemals sechs Millionen Einwohner im Krieg seit Ende 2020 getötet wurden. Informationen sind schwer zu bekommen und zu überprüfen. Die Region ist von äthiopischen und eritreischen Truppen eingekesselt, Strom, Telefon, Internet sind gekappt. Hilfe kam bis jetzt nur sehr sporadisch in die Region. Menschen sind verhungert und aufgrund fehlender medizinischer Versorgung gestorben.
Die UN-Völkermordkonvention spricht dann von einem Genozid, wenn Gewalttaten mit der Absicht begangen werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Die Absicht sei bei der Einordnung wichtiger als die Taten, erklärt David Simon, Leiter des Programms für Genozid-Studien an der Universität Yale im amerikanischen New Haven.
Mukesh Kapila war als britischer Regierungsvertreter direkt nach dem Völkermord in Ruanda, dann als Leiter der UN-Mission im Sudan, dessen Ex-Präsident Omar al-Baschir vom Internationalen Strafgerichtshof ebenfalls Verbrechen des Genozids zur Last gelegt werden. Dass niemand offiziell von einem Völkermord in Tigray spricht, liegt nach Einschätzung Kapilas daran, dass laut der UN-Völkermordkonvention Staaten dann verpflichtet seien einzugreifen. „Egal ob militärisch, wirtschaftlich oder politisch, das wäre teuer für den eingreifenden Staat.“
In Tigray: eindeutige Anzeichen für einen Völkermord
Kapila sieht indes in Tigray eindeutige Anzeichen für einen Völkermord: „Wenn man den Menschen Lebensmittel und medizinische Hilfe vorenthält, ist das Ziel, dass sie nicht versorgt werden und sterben“, erklärt er. Laut der UN-Konvention zählt auch „Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe“ als Völkermord sowie die „vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“.
Die UN-Sonderberaterin für die Verhütung von Völkermord, Alice Nderitu Wairimu, sprach im Oktober davon, welche destruktive und gefährliche Rolle Hetze spiele - sowohl von äthiopischen Politikerinnen und Politikern als auch in den sozialen Medien. Menschen würden mit einem „Virus“ verglichen, der ausgerottet werden müsse, mit einem „Krebs“, der bekämpft werden müsse. Auch die „Tötung jedes einzelnen Jugendlichen aus Tigray“ sei gefordert worden.
Krieg als „Auslöser für alle möglichen Impulse“
Der Krieg habe als „Auslöser für alle möglichen Impulse“ gedient, die zum Völkermord führen könnten, sagt Forscher David Simon. Anders als zum Beispiel in Ruanda sei aus Tigray bisher nicht bekannt, dass die Gewalt auch von Zivilisten ausging. Deshalb sei es besonders wichtig, die Zivilgesellschaft zu stärken.
Genozide seien in der Geschichte bisher von staatlichen Organisationen angefacht worden, da nur Staaten in der Lage zu solch umfassender Planung und Gewalt in der Lage seien, erklärt Mukesh Kapila. Zur Klärung der Frage, ob sich die äthiopische Regierung unter Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed möglicherweise eines Völkermordes schuldig gemacht hat, müssten Beweise gesammelt werden. Das müsse geschehen, sobald mit der Umsetzung des Friedensabkommens ein Zugang zur Region Tigray wieder möglich ist. Sogenannte „ethnische Säuberungen“, da sind sich die Experten einig, haben in Tigray und den angrenzenden Regionen stattgefunden.
Wichtig sei, dass die Täter vor Gericht kommen und die Opfer Gerechtigkeit erfahren, betont Kapila. Anklage könne weltweit erhoben werden - denn sowohl Verbrechen gegen die Menschlichkeit als auch Völkermord fallen unter die universelle Gerichtsbarkeit.