Wo Kinder für die Schulpflicht kämpfen

Christian Nusch
Der Kinderrechtsrat von Mwangwera trifft sich jeden Samstag. Er bespricht unter anderem, welche Kinder gerade nicht zur Schule kommen und warum.
Kinderrechte
Im Norden Malawis, nahe der Stadt Karonga, schließen sich Mädchen und ­Jungen zu sogenannten Kinderrechtsräten zusammen. Damit setzen sie in ­ihren Dörfern das Recht auf Bildung durch. Wer sich weigert, sein Kind zur Schule zu schicken, muss zahlen. Und Minderjährige, die ins Ausland verkauft wurden, werden zurückgeholt.

Das alte Schulgebäude hat schon bessere Tage gesehen. Im Boden sind Löcher, der Putz bröckelt von der Wand und die Bänke sind wackelig. Doch das ist den Mitgliedern des Kinderrechtsrats egal. Es gibt Wichtigeres. Nämlich die Frage, ob eines der Kinder aus dem Dorf verschwunden ist. „Wenn wir bemerken, dass ein Kind nicht mehr zur Schule kommt, finden wir erst einmal heraus, warum“, erklärt David. „Wir gehen zu ihm nach Hause und fragen, warum es fehlt. Manchmal ist es einfach nur für ein paar Tage krank. Aber meistens steckt etwas anderes dahinter.“ 

Im Frühjahr 2022 ist David (15) der Vorsitzende des Kinderrechtsrats von Mwangwera, einem kleinen Ort im Distrikt Karonga im Norden Malawis. Dieser und elf weitere Jugendclubs wurden von der nichtstaatlichen Organisation Future Planning for the Child (FPC), einem Partner der Kindernothilfe, initiiert. Jedes Kind, das in einem der beteiligten Dörfer geboren wird, wird automatisch Mitglied im jeweiligen Club. Geleitet werden sie jeweils von einem Kinderrechtsrat, einer Gruppe engagierter Kinder und Jugendliche, die bereit sind, eine Führungsrolle zu übernehmen. Damit sie die richtig ausfüllen können, leitet Alex Mwangosi von FPC die Gruppentreffen und vermittelt wichtige Kenntnisse. Er findet immer genügend Jugendliche, die sich einsetzen.

David ist der Vorsitzende des Kinderrechtsrates.

„Das Gefühl, dass sich etwas ändern muss, ist unter den jungen Menschen in den Dörfern sehr stark“, hat der Mitarbeiter von FPC beobachtet. „Mit den Kinderrechtsräten helfen wir den Mädchen und Jungen, sich zu organisieren und selbst für ihre und die Rechte ihrer Mitschüler einzutreten.“

David und die übrigen Ratsmitglieder treffen sich jeden Samstag. Der Jüngste ist gerade einmal acht Jahre alt, die Älteste 16. Warum opfern sie jede Woche einen freien Tag? „Wir wollen etwas verändern. In Zukunft soll jedes Kind im Dorf eine Schulbildung haben“, erklärt David, „denn sie ist das wichtigste Kinderrecht, das es gibt.“ 

Es gibt viele Gründe, aus denen Mädchen und Jungen nicht mehr zur Schule kommen. Vor allem die Jungen werden schon früh von den Vätern zum Fischen mit hinaus auf den Malawisee genommen. Während der Pflanz- und Erntezeit fehlen besonders viele Kinder, sie werden von ihren Eltern als Tagelöhner für die Feldarbeit an Nachbarn „ausgeliehen“. Dann haben die Jugendräte besonders viel zu tun. „Wir besuchen die Familien und erklären den Eltern, dass Kinder ein Recht darauf haben, zur Schule zu gehen“, erläutert die 15-jährige Ngasimenye ihre Aufgabe. „Im Zweifel drohen wir ihnen damit, uns an den Gemeinderat zu wenden.“ 

Geld vom jungen Dorfchief

Autoren

Katharina Nickoleit

ist freie Journalistin. Sie berichtet seit vielen Jahren aus dem globalen Süden für den Hörfunk sowie gemeinsam mit ihrem Mann Christian Nusch für die ARD und mehrere Hilfsorganisationen.

Christian Nusch

ist Kameramann und Fotograf.

Oft fehlt den Eltern auch einfach nur das Geld für Schulmaterialien. „Diese Fälle sind am einfachsten zu lösen. Wir haben einen Fonds, aus dem wir Hefte und im Notfall auch mal eine Schuluniform finanzieren können.“ Ngasimenye ist die Schatzmeisterin des Kinderrechtsrats und führt Buch über die Finanzen. Sie freut sich über jedes Mitglied, das zu spät zu einer Versammlung erscheint und dann umgerechnet zehn Cent in die Kasse zahlen muss. Weil das alleine nicht reicht, bekommt die Gruppe auch Geld aus der Gemeindekasse. Gerade erst hat sie wieder umgerechnet fünf Euro erhalten: Dorfvorsteher Kennedy Mwangwela hat einen Teil einer Strafzahlung weitergeleitet, die Eltern zahlen müssen, wenn sie ihre Kinder nicht zur Schule schicken. 

Kennedy ist mit Mitte 20 ein junger Dorfchief und hat sich zum Ziel gesetzt, dass jedes Kind im Ort die Schule besucht. „Bildung ist das Einzige, was den Menschen hilft, sich aus der Armut zu befreien“, meint er, und man spürt seine tiefe Überzeugung, als er das sagt. „Aber damit jedes Kind sein Recht auf Bildung wahrnehmen kann, sind wir auf die Hilfe des Kinderrechtsrats angewiesen. Dessen Mitglieder bekommen es als Erste mit, wenn ein Kind fehlt, und sie kennen oft auch die Hintergründe, denn die jungen Leute sprechen miteinander und vertrauen einander.“

Doch nicht immer lassen sich die Probleme, die einem Schulbesuch entgegenstehen, mit Centbeträgen und ein wenig Überredung aus der Welt schaffen. Manchmal erfordern sie den Einsatz der ganzen Gruppe und detektivische Arbeit. Denn es kommt regelmäßig vor, dass die Mitglieder des Kinderrechtsrats die fehlenden Schüler nicht zu Hause antreffen, sondern dass sie verschwunden sind. Nicht selten wurden sie buchstäblich ins Ausland verschleppt. Karonga grenzt an Tansania, ein im Vergleich zu Malawi reiches Land, in dem es mehr Arbeit gibt. Viele Eltern wollen aus der Not heraus diesen Umstand nutzen und schicken ihre Kinder dorthin, um Geld zu verdienen. 

Eine Schlepperin brachte die 13-Jährige über die Grenze

Unterstützt von dem jungen Dorfchief Kennedy und der Gemeinde hat David die damals 13-jährige Miness aus Tansania zurückgeholt, die von ihren Eltern zum Arbeiten dorthin geschickt worden war.

So war es auch bei Miness. Sie war 13 Jahre alt, als sie zum Arbeiten ins Nachbarland geschickt wurde. „Als ich am Brunnen Wasser holte, sprach mich eine Frau an, sie sagte, sie hätte einen guten Job für mich, leichte Haushaltsarbeit und einen guten Lohn. Da könne ich eine Weile arbeiten und Geld verdienen, mit dem ich dann meine Schulsachen bezahlen kann“, erzählt sie. Die Schlepperin gab den Eltern einen Vorschuss auf den Lohn und brachte Miness über die Grenze. Als sie nicht mehr zur Schule kam, war einem Mitglied des Kinderrechtsrats gleich klar, was passiert sein musste – Justina war gemeinsam mit Miness am Brunnen gewesen und ebenfalls angesprochen worden. „Ich alarmierte die Gruppe. Gemeinsam gingen wir zu den Eltern und fragten, wo Miness ist“, erinnert sich die 16-Jährige. „Wir gaben ihnen zwei Tage, um Miness zurückzuholen, sonst würden wir die Polizei informieren.“ 

Den Dorfvorsteher schaltete die Gruppe sofort ein. Auch er stattete den Eltern einen Besuch ab und machte klar, dass sie mit einer Gefängnisstrafe zu rechnen hätten, wenn ihre Tochter nicht umgehend zurückkäme. „Ohne den Rat wäre ich nie auf diesen Fall aufmerksam geworden“, gibt er zu. Der Druck zeigte Wirkung. Miness Eltern kontaktierten die Schlepperin, und die brachte das Mädchen zurück in ihr Dorf. Außerdem half Justina dabei, die Schlepperin zu identifizieren. Sie geht offenbar seit Jahren im Dorf ein und aus und hat schon viele Kinder über die Grenze gebracht. Jetzt steht sie unter Beobachtung.

Zur Schule gehen statt nach Tansania

 „Sie ist eine böse Frau“, ist alles, was Miness über sie sagen will. Sie spricht nicht gerne über ihre Zeit in Tansania. Dort hatte sie nicht wie versprochen leichte Hausarbeit zu erledigen, sondern musste sich rund um die Uhr um eine bettlägerige alte Frau kümmern. Es hätte noch schlimmer kommen können – nicht selten werden die Mädchen in die Prostitution gezwungen. Miness ist es peinlich, dass sie dem Kinderrechtsrat so viel Stress und Arbeit verursacht hat. „Aber ich bin sehr froh, dass es ihn gibt“, sagt sie so leise, dass es kaum zu hören ist. „Ohne die Gruppe wäre ich noch in Tansania.“ Ein Gutes hatte die Sache immerhin: Der Rat erfuhr, dass Miness Geld für Schulsachen braucht und unterstützt sie nun aus dem Fonds. „Außerdem haben wir mit der Schule gesprochen, damit sie sie wieder aufnehmen“, erzählt Justina. Miness kann ihren Traum, Lehrerin zu werden, wieder weiterverfolgen und ist bereits jetzt zur Botschafterin für Bildung geworden. „Ich erzähle allen Kindern in der Schule, dass sie keinen Versprechungen glauben und nicht nach Tansania, sondern unbedingt weiter zur Schule gehen sollen.“  

Erfolge für die Kinderrechtsräte

Einige Arbeiten, die früher für Kinder in Mwangwera üblich waren, kommen dank der Kinderrechtsräte kaum noch vor. Zum Beispiel mussten Kinder zwischen neun und 15 Jahren früher täglich etwa 15 Kilometer bergauf ...

Die Geschichte von Miness ist kein Einzelfall. In einem einzigen Jahr holten die Jugendräte 43 Kinder aus Tansania zurück, sorgten bei 40 weiteren Mädchen und Jungen dafür, dass sie wieder zur Schule kommen und bewirkten die Auflösung von fünf Frühehen. „Das Schlüsselproblem ist die Armut“, erläutert Alex Mwangosi diese erschreckenden Zahlen. „Die meisten Menschen in der Region leben ausschließlich von dem, was ihre viel zu kleinen Felder hergeben. Sie haben weniger als einen Dollar täglich zur Verfügung und liegen damit deutlich unterhalb der Armutsgrenze. Damit sie etwas zum Familieneinkommen beitragen, schicken sie ihre Kinder lieber zum Arbeiten als in die Schule.“ 

Auch Frühehen sind weit verbreitet. Mädchen werden oft bereits mit zwölf Jahren dazu gedrängt, zu heiraten. Auch hier ist Armut der Hauptgrund. „Die Eltern erhalten etwas Brautgeld und müssen eine Person weniger ernähren und kleiden.“ Doch langsam ändert sich daran etwas. Nicht an der Armut, das wird noch dauern. Doch seit die Jugendclubs ein Auge auf ihre Mitschülerinnen und Mitschüler haben, ist die Zahl der nach Tansania verschwundenen Kinder und früh verheirateten Jugendlichen deutlich gesunken. Die Eltern wissen, dass es auffallen wird, wenn sie ihre Kinder wegschicken, und dass ihnen Strafen drohen.

Überzeugungsarbeit an Erwachsenen

Viele Erwachsene sind nicht besonders glücklich über das Engagement des Rates. Dass da plötzlich junge Menschen kritische Fragen stellen, mit der Polizei drohen und mit diesem als respektlos empfundenen Verhalten auch noch Erfolg haben, ist für jemanden, der in einer traditionellen, hierarchisch geprägten Gesellschaft aufgewachsen ist, schwer zu verkraften. Den Zusammenhang zwischen fehlender Bildung und Armut zu verstehen und die Veränderung zu akzeptieren, ist ein Lernprozess. Deshalb gibt es parallel zu den Jugendclubs auch regelmäßig Versammlungen für Erwachsene, in denen sie über Kinderrechte und ihre Bedeutung für die Gesellschaft aufgeklärt werden. 

Doch vor allem müssen die Jugendlichen bei ihren Einsätzen Erwachsenen gegenüber die richtigen Argumente finden und Überzeugungsarbeit leisten können. In ihren wöchentlichen Sitzungen trainieren sie deshalb mit Alex Mwangosi, wie man das macht. Gerade stehen sie sich in einem Rollenspiel gegenüber. Mit fester Stimme zitiert Justina die Passage zum Recht auf Bildung. Sie hat auch gelernt, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, und hat keine Angst mehr davor, Autoritäten anzusprechen. „Am Anfang hat mich das viel Überwindung gekostet. Aber wenn wir nicht mithelfen, dass alle Kinder zu Schule gehen, wird es nicht gelingen, die Armut zu bekämpfen. Und dann wird auch die nächste Generation wieder ihre Töchter und Söhne zum Arbeiten ins Ausland schicken. Es ist höchste Zeit, diesen Kreislauf zu durchbrechen.“  

Dieser Artikel ist im Frühjahr 2022 zuerst auf der Webseite der Kindernothilfe erschienen. 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2023: Von Jung zu Alt
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