Ende Juni hat es in Chile endlich stark geregnet. Das Klimaphänomen El Niño hat südlich der Hauptstadt Santiago heftige Regenfälle gebracht. Trotz der dadurch verursachten Überschwemmungen und Erdrutsche haben die Unwetter bei der Bevölkerung eine gewisse Erleichterung ausgelöst. Denn zuvor hatte Chile unter einer Trockenperiode gelitten, die so lange dauerte wie keine andere, seit Klimadaten aufgezeichnet werden: dreizehn Jahre.
In Zentralchile nördlich und südlich der Hauptstadt Santiago waren in diesen Jahren sechzig bis achtzig Prozent weniger Regen als im historischen Mittel gefallen, in den Bergen der Anden lag bis zu 85 Prozent weniger Schnee, und die wichtigsten Stauseen waren im Durchschnitt nur noch zu einem Drittel gefüllt. Die Flusspegel näherten sich einem historischen Tiefststand. Die heftigen Regenfälle im Juni waren viel zu gering, um das Defizit auch nur annähernd auszugleichen.
Diese Situation beunruhigt die Gemeinden, die von der Dürre in Chile betroffen sind. Doch nicht nur der Mangel an Regen führt zur Wasserknappheit, eine weitere Ursache ist die wahllose Ausbeutung von Süßwasserbecken, Flüssen und Seen. Seit mehr als 40 Jahren werden Privatpersonen und großen Unternehmen Rechte zur Entnahme von Wasser aus Oberflächen- und Grundwasserquellen gewährt, die deren Kapazitäten übersteigen. Zu den Nutznießern gehören vor allem große Bergbau-, Land- und Forstwirtschaftsunternehmen.
Laut Umweltorganisationen wie der Bewegung zur Verteidigung des Zugangs zu Wasser und Land und zum Schutz der Umwelt (Modatima) und der Bewegung für Wasser und indigene Territorien (MAT) hat die Wasserkrise nicht nur etwas mit dem Klimawandel zu tun. Sie sei vielmehr eine Konsequenz der Privatisierungen in der Zeit der Diktatur von Augusto Pinochet (1973 bis 1990). Die noch immer gültige Verfassung von 1980 bezeichnet die Wasserressourcen des Landes zwar als Gemeingut. Sie erlaubt aber auch die Vergabe von unbefristeten Konzessionen für die private Ausbeutung und Vermarktung. Geregelt wird das über ein 1981 erlassenes Wassergesetz, das vorgeblich für mehr Effizienz in der Wassernutzung sorgen und die Landwirtschaft, die Minenindustrie und Wasserkraftwerke fördern sollte.
Als Präsidentin Michelle Bachelet in ihrer zweiten Amtszeit (2014 bis 2018) das Gesetz reformieren wollte, bezeichneten chilenische Unternehmerverbände dies in einer in allen großen Zeitungen veröffentlichten Erklärung als „Versuch einer verdeckten Enteignung ohne Entschädigung“. Es dauerte bis zum April 2022, bis das Parlament unter dem jetzigen Präsidenten Gabriel Boric das Wassergesetz reformierte. Seitdem ist es dem chilenischen Staat erlaubt, im Fall einer Wasserkrise die Ausbeutung von Wasserspeichern über und unter der Erde zu regulieren und Ausbeutungslizenzen für solche Flüsse abzulehnen, die unter Wassermangel leiden.
Der Río Loa ist fast ausgetrocknet – trotz der Reform des Wasserrechts
Einer der wichtigsten ist der Río Loa, der größte Fluss, der durch die Atacamawüste im Norden fließt. Er entspringt am Vulkan Miño in den Anden. 170.000 Menschen bekommen von ihm ihr Trinkwasser. Den größten Teil aber schluckt die Minenindustrie. Heute ist er fast ausgetrocknet.
In Quillagua, einer der wichtigsten landwirtschaftlichen Enklaven in der Wüste, die fast am Ende des Weges des Río Loa von den Bergen zum Meer liegt, haben sich die Bewohner dafür entschieden, ihre Wasserrechte an die Bergbauindustrie zu verkaufen, da dies profitabler ist, als das Land weiterhin ohne Wasser zu bewirtschaften. Der Hauptkäufer ist die Sociedad Química y Minera de Chile (SQM), die Lithium abbaut und heute Wasser aus dem Loa entnimmt, bevor der Fluss Quillagua erreicht.
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Der staatliche Kupferminenkonzern Codelco hat aus den unterirdischen Wasserspeichern im Becken des Río Loa allein im Jahr 2021 über 31 Millionen Kubikmeter entnommen. Die kleineren Minenfirmen Antofagasta Minerals, Minera Centinela und Mineras Lomas Bayas haben zusammen weitere drei Millionen Kubikmeter verbraucht. Seit 2000 warnen die Umweltbehörden davor, dass der Río Loa austrocknen wird – ohne Konsequenzen. Erst mit der Reform des Wasserrechts erhielten die staatlichen Behörden 2022 rechtliche Instrumente, um die Übernutzung von Oberflächen- und Grundwasserquellen zu stoppen. Viel passiert ist seitdem aber trotzdem nicht.
Etwas weiter südlich, in der Provinz Limarí mit knapp 170.000 Einwohnern, spielt sich ein ähnliches Drama ab. „Durch den ungezügelten Wasserverbrauch der großen Minenunternehmen und der Landwirtschaftsindustrie wird ein ohnehin schon knappes Gut noch knapper, zu Lasten der Kleinbauern und ihrer Familien“, sagt die kommunistische Abgeordnete Nathalie Castillo, die diese Gegend im Parlament vertritt.
„Unser Problem ist nicht die Trockenheit, sondern die ungezügelte Ausbeutung“
Ähnliches spielt sich im Zentrum von Chile ab. Rodrigo Mundaca, der Gouverneur der Region Valparaíso und frühere Sprecher von Modatima, bringt es so auf den Punkt: „Unser Problem ist nicht die Trockenheit, sondern die ungezügelte Ausbeutung.“ In seiner Region verbrauchen vor allem die Avocado-Monokulturen riesige Mengen an Wasser. Die Frucht kommt eigentlich aus den viel regenreicheren Tropen. In der Gegend der Gemeinde Petorca, 220 Kilometer nordwestlich von Santiago, ist es inzwischen so trocken, dass die Gegend als „Ground Zero“ der chilenischen Wasserkrise bezeichnet wird.
Aber um dem Wasserdiebstahl ein Ende zu setzen, „reicht es nicht aus, bestehende Vorschriften zu ändern, sondern es muss ein neuer institutioneller Rahmen geschaffen werden“, sagt Mundaca. In der vorgeschlagenen neuen Verfassung wurde der Zugang zu Wasser als Menschenrecht und nicht handelbares Gemeingut genannt. Doch zwei Drittel der Chilenen lehnten den Verfassungsvorschlag im Referendum vom September 2022 ab. In Petorca, dem Epizentrum der Dürre, stimmten knapp 57 Prozent gegen den Vorschlag.
Für Mundaca ist die politische Debatte über das Wasser aber „noch lange nicht vorbei“. Das Abstimmungsergebnis von Petorca erklärt er damit, dass sich in dieser Gegend mehr als die Hälfte der chilenischen Avocadoproduktion Landes konzentriert. Dass für die Produktion eines Kilos Avocado laut Daten der Weltorganisation für Avocado (WAO) etwa 600 Liter Wasser benötigt werden, fiel für die rund 10.000 Einwohner von Petorca nicht ins Gewicht, meint Mundaca. Sie beziehen ihr Trinkwasser ohnehin schon lange nicht mehr aus der Wasserleitung, sondern von Tankwagen.
Der Verfassungsentwurf, so hörte man es in der Ortschaft, „garantiert auch keinen Regen“. Aber er gefährde viele Arbeitsplätze, waren sich die Bewohner sicher. Doch Léo Heller, bis 2020 UN-Sonderberichterstatter zu den Rechten auf Wasser und Sanitärversorgung, warnte die chilenische Regierung im August 2020. Sie dürfe in Petorca „nicht dem Anbau von Avocados den Vorrang vor den Rechten der Bevölkerung auf Wasser und Gesundheit geben“.
Überall dieselben Gründe für Wasserstress
Auch in anderen Ländern Lateinamerikas gibt es Wasserstress, etwa in Brasilien und Mexiko, und die Gründe ihrer Wasserknappheit sind dieselben. Aufgrund einer neoliberalen Wirtschaftspolitik sieht man in den drei Ländern Wasser als kommerzielles Gut; die einen können diese natürliche Ressource ausbeuten, die anderen haben kaum mehr Zugang dazu. In der Verfassung und im Wassergesetz Brasiliens etwa wird Wasser als öffentliches Gut bezeichnet. Die Bundesbehörde für Wasser und die entsprechenden Behörden der Bundesstaaten haben die Möglichkeit, Konzessionen für die Nutzung von Oberflächenwasser und unterirdischen Wasserspeichern zu vergeben.
Brasilien ist das Land mit den größten Wasserreserven Südamerikas und umfasst den größten Teil des Amazonasbeckens, des längsten und größten Flusses der Welt, der mehr als 200 Nebenflüsse hat. Südbrasilien liegt auch am Guarani-Aquifer, einer weitgehend unterirdischen Süßwasserressource, die von mehreren Ländern gemeinsam genutzt wird. Brasilien verfügt über 12 Prozent der weltweiten Süßwasserressourcen und 53 Prozent der Wasserressourcen Südamerikas. Dennoch leiden weite Teile des Landes unter chronischem Wassermangel, der durch den Klimawandel, die Abholzung von Wäldern, den Bau von Staudämmen, die übermäßige Nutzung von Wasser für die Agrarindustrie und maroder Infrastruktur wie Rohren, Kanälen und Stauseen verursacht wird.
In den letzten Jahren haben auch in Zentral- und Nordmexiko die Dürreperioden und damit die Wasserknappheit zugenommen. Nach Angaben der Weltbank standen 1960 für jeden Einwohner in diesem Gebiet 10.000 Kubikmeter Wasser zur Verfügung. Im Jahr 2012 waren es noch 4000 Kubikmeter, und bis 2030 werden es voraussichtlich nur noch etwa 3000 Kubikmeter pro Einwohner sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Ressource tatsächlich alle Menschen, die sie benötigen, in gleichem Maße erreicht.
Kleinbauern haben Land, aber kein Wasser
Laut der mexikanischen Verfassung von 1917 ist der Zugang zu Wasser ein Menschenrecht. Im Laufe der Jahre wurden jedoch rechtliche Möglichkeiten geschaffen, Konzessionen für die private Nutzung zu vergeben. Diese Konzessionen befinden sich, wie in Chile, meist in den Händen großer Agrarunternehmen. Kleinbauern haben seit der mexikanischen Revolution ihr Land, aber kein Wasser zur Bewässerung, weil die Großbauern die Kanäle und Flüsse zu ihren eigenen Betrieben umleiten und das Grundwasser wahllos ausbeuten. Dies hat vor allem in der Region Jalisco dazu geführt, dass immer mehr Kleinbauern unter Druck gesetzt werden, ihre Felder an große Unternehmen zu verkaufen.
In Chile betont Rodrigo Mundaca, der ehemalige Sprecher von Modatima, das Recht auf Wasser müsse in der Verfassung verankert werden. Die Abgeordnete Nathalie Castillo ist der Ansicht, dass „in der Zwischenzeit wesentliche Änderungen des Wassergesetzes durch den chilenischen Kongress durchgesetzt werden sollten, um das Geschäft einzuschränken, das durch den Kauf und Verkauf von Wasserrechten generiert wurde“.
Für die indigenen Völker ist Wasser eine heilige Ressource. Aus diesem Grund kämpfen sie in Chile seit langem um ihre Territorien und ihr Wasser. Lonko Alberto Curamil Millanao, Sprecher der Mapuche Territorial Alliance (ATM), etwa leistet seit Jahren Widerstand gegen große Forstunternehmen im Süden Chiles und gegen den Bau von Staudämmen am Fluss Cautín in der Region Araucanía.
Im April 2019 erhielt Curamil für sein Engagement den Goldman-Umweltpreis. Er konnte die Auszeichnung nicht persönlich entgegennehmen, da er wegen eines angeblichen Angriffs auf ein Privatunternehmen im Gefängnis saß. Seine Tochter Belén Curamil vertrat ihn bei der Zeremonie im San Francisco Opera House und sagte: „Der Kampf der Mapuche ist ein ökologischer Kampf. Es ist ein Kampf für das Leben und seine Koexistenz, für das Land und seine Elemente.“
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