Agrey Dravule taucht vorsichtig seinen Fußzeh ins Wasser, bevor er in seine Flossen steigt. Dann stülpt er die Taucherbrille über sein Gesicht und steckt sich das Mundstück der Sauerstoffflasche auf seinem Rücken zwischen die Zähne. Mit großen Schritten watet der 25-jährige drahtige Ugander im Neoprenanzug in das grün schimmernde Wasser des Victoriasees. Seine Mission: Das verdreckte Gewässer von Unrat zu befreien.
Das kleine ugandische Fischerdorf Guda, wo Dravule tauchen geht, liegt rund 30 Kilometer von Ugandas Hauptstadt Kampala entfernt. Die rund 500 Einwohner leben in selbst gebauten Holzbaracken mit Wellblechdächern, ohne Wasseranschluss, Toiletten und Stromversorgung. Die meisten sind Fischer, sie ernähren sich vom See.
Der Victoriasee im Herzen Afrikas ist der drittgrößte See der Erde und etwa so groß wie Bayern. Er spendet den rund 30 Millionen Menschen entlang seiner Ufer Wasser, er liefert Fisch und er dient als Transportweg. Viele Afrikaner glauben, der fruchtbare Boden rund um den See sei die Wiege der Menschheit: das Paradies an der Quelle des Nils, von wo aus sich die menschliche Zivilisation den Fluss entlang bis nach Ägypten ausbreitete.
Wasserlilien aus Südamerika als Sauerstoffräuber
Doch allmählich wandelt sich der See zum Fluch, weil das Ökosystem stirbt. Bereits 2005 wurde das riesige Gewässer von der Umweltschutzorganisation Global Nature Fund zum meistgefährdeten See der Welt erklärt. Die Ursachen dafür sind vielfältig, die meisten jedoch hausgemacht. Ursprünglich von belgischen Kolonialherren nach Ruanda und Burundi eingeschleppt, verbreitete sich eine Wasserlilien-Art aus Südamerika über zahlreiche Zuläufe in den 1980er Jahren bis in den Victoriasee hinein. Die Hyazinthen kennt man in Europa als Gartenteichblumen. Sie schwimmen auf der Oberfläche und vermehren sich rasant. Inzwischen sind 90 Prozent der ugandischen Ufer davon bedeckt, an einigen Abschnitten schwimmen ganze Teppiche davon.
Die Hyazinthen sind der Grund dafür, dass das Wasser in Ufernähe einer giftgrünen schleimigen Suppe gleicht. Auch Taucher Dravule rümpft die Nase, weil das Wasser faulig riecht. Die Wasserlilien rauben den im See lebenden Tieren den Sauerstoff. Fische und Insekten, die in Ufernähe an den Sandbänken ihre Eier legen, bekommen durch den Hyazinthen-Teppich keine Luft mehr und sterben. Außerdem führt die steigende Wassertemperatur infolge des Klimawandels zu einer hohen Konzentration an Cyanobakterien, auch Blaualgen genannt, die das Wasser zusätzlich grün färben. Diese Bakterien schädigen Fische und verursachen bei Menschen, die in Kontakt damit kommen, Hautausschlag sowie Magen- und Darminfektionen.
Autorin
Simone Schlindwein
ist Journalistin und Afrika-Korrespondentin der Tageszeitung (taz) in Berlin. Sie berichtet seit zwölf Jahren aus der Region der Großen Seen.Auch für Dravule, engagiertes Mitglied in Ugandas Tauchverein, sind die Hyazinthen und die Blaualgen ein Problem. „Der See ist meist so trübe und grün, dass ich unter Wasser nicht einmal einen Meter weit sehen kann“, seufzt er, bevor er abtaucht: „Das macht meine Mission besonders schwierig.“ Dravule will mit seiner Arbeit dazu beitragen, dass der See nicht endgültig kippt. Als einer von nur wenigen ausgebildeten Tauchern im Land kümmert er sich beruflich im Auftrag von Fischereifirmen um die Fischzuchtanlagen unter Wasser. Manchmal beauftragt ihn auch die staatliche Marine, gesunkene Boote und sogar Leichen zu bergen. Oder Bootsbesitzer heuern ihn an, um nach einem gesunkenen Außenbootmotor zu suchen.
In seiner Freizeit am Wochenende jedoch schnappt er sich seine Ausrüstung und fährt in eines der zahlreichen kleinen Fischerdörfer, um an deren Ufern nach Unrat zu tauchen. Meist ist er allein unterwegs. Säckeweise Plastikflaschen, alte und kaputte Fischernetze, Autoreifen, Plastiktüten – Dravule kann gar nicht alles aufzählen, was er schon aus dem See gefischt hat. Wenn die Sicht unter Wasser klar ist, dann stellt er bei seinen Tauchgängen immer wieder fest: „Der See ist die größte Müllkippe des Landes.“
Ein Großteil der Fische im See ist hochgradig vergiftet
Die Folgen dieser Verschmutzung sind verheerend. Nicht nur, dass sich in den Mägen der Raubfische zunehmend Plastiktüten sammeln, ein Großteil der Fische ist zudem hochgradig vergiftet. Im Jahr 2018 paddelten kenianische und ugandische Wissenschaftler über den riesigen See und entnahmen an zahlreichen Uferstellen Proben aus dem Wasser, vom Ufersand und vom Fischfleisch. Die Ergebnisse ihrer toxikologischen Untersuchung waren erschreckend: Neben der hohen Konzentration von menschlichen Fäkalien sowie Phosphaten, die von Düngemitteln aus der Landwirtschaft stammen, sei das Wasser mit Arsen, Blei- und Aluminium-Rückständen aus unrecycelten Abfällen wie etwa Autobatterien vergiftet.
Besonders alarmierende Werte von Giften registrierten Biologen im Jahr 2022 in der Murchinson-Bucht direkt vor den Toren Kampalas. Der Grund: Von der Innenstadt verläuft entlang der Eisenbahnlinien, die zum Hafen führen, ein offener Abwasserkanal, der Nakivubo-Kanal. Er zieht sich von der riesigen Müllhalde im Norden der Stadt durch zahlreiche Armenviertel und die geschäftige Innenstadt, durch das Industriegebiet bis zum See hinunter. Unterwegs sammeln sich tonnenweise Abfälle an, die beim nächsten Tropenregen in Sturzbächen in den See gespült werden – wo Dravule sie dann im besten Fall wieder zutage fördert.
Als Dravule nach 30 Minuten unter Wasser wieder auftaucht, guckt er enttäuscht unter seiner Taucherbrille hervor. Gerade einmal eine Handvoll Plastikflaschen hat er in seinem Sack gesammelt. „Die Sichtweite heute ist einfach null“, klagt er und sammelt am Strand noch ein altes kaputtes Fischernetz ein, in welchem er sich fast mit seinen Flossen verheddert.
„Die Leute hier wissen einfach nicht, was sie dem See antun“
Während Dravule sich am Ufer von Guda aus seinem Neoprenanzug schält, schaut er sich um. Frauen waschen im Seewasser zuerst ihr Geschirr, dann schmutzige Wäsche. Das seifige Restwasser kippen sie zurück ins Wasser. Daneben reparieren einige Fischer einen Bootsmotor, füllen Diesel und Hydraulikflüssigkeit nach und werfen die leeren Behälter in den See. „Die Leute hier wissen einfach nicht, was sie dem See und sich selbst damit langfristig antun, wenn sie sich so verhalten“, sagt Dravule, schüttelt den Kopf und schleppt seine Pressluftflaschen durch die engen Gassen des Fischerdorfes bis zu einer kleinen Holzhütte, in der der Dorfvorsteher sein Büro hat.
Unterwegs begegnen ihm junge Männer, die auf Schubkarren Sandsäcke zum Ufer karren, um dort einen Schutzwall zu errichten. In den vergangenen Jahren ist das Seewasser auf ein Rekordhoch gestiegen, welches mehrfach zu Überflutungen führte. Der Grund: Unterhalb des einzigen Abflusses aus dem See, wo der Nil entspringt, hat Uganda drei Staudämme errichtet, die Strom erzeugen. Über diese Dämme lässt sich der Wasserstand im See regeln. Wie viel Wasser dort durchfließen soll beziehungsweise welche Grundsätze für das Management gelten, ist eigentlich vertraglich geregelt: zum einen in einer Vereinbarung der Mitgliedstaaten der Ostafrikanischen Gemeinschaft (EAC) von 2012, zum anderen in einem Rahmenabkommen für das Nilbecken, das sämtliche Nil-Anrainerstaaten, darunter auch Ägypten, der Sudan und Äthiopien, unterzeichnet haben. Über die Umsetzung dieser komplizierten Vereinbarung wird jedoch bis heute gestritten.
Die Staudämme verursachen Konflikte
In den vergangenen zwei Jahren fiel in der ganzen Region des Victoria-Beckens so viel Regen, dass das Wasser stetig anstieg. Dann kam es im Jahr 2020 zwischen Kenia und Uganda zum Eklat: Marschland aus Wasserhyazinthen, fast so groß wie zehn Fußballfelder, löste sich vom Ufer und trieb wie eine schwimmende Insel in Richtung Nilabfluss. Der Morast verstopfte die Staudämme, die Turbinen standen wochenlang still, der Wasserstand stieg deutlich. Dörfer an Kenias, Ugandas und Tansanias Ufern wurden überflutet und zum Teil zerstört. Industrieanlagen, Häfen und die darin liegenden Schiffe wurden geschädigt. Mehr als 200.000 Menschen verloren ihre Häuser.
Auch in Guda stand den wenigen Einwohnern, die direkt am Ufer leben, monatelang das Dreckwasser bis zum Hals. Die in dieser Gegend berühmte Toronto Beach Bar mit ihrem Strandabschnitt stand fast ein Jahr unter Wasser. Gerade wird sie von fleißigen Handwerkern renoviert. Die prall gefüllten Sandsäcke, die die Männer ankarren, stapeln sie am Strand zu einem Wall, um die Wogen fernzuhalten.
Mittlerweile sinkt der Wasserstand wieder, weil Uganda die Dämme offen lässt. Das hat allerdings zur Folge, dass mit dem abziehenden Wasser sämtlicher Müll von den überschwemmten Uferabschnitten in den See gespült wird. Dravule kennt das Problem aus anderen Dörfern, wo er schon getaucht ist. Deswegen klopft er bei Dorfvorsteher Henry Kyemba an und fragt ihn, wo die Einwohner von Guda denn ihren Müll abladen.
Mit einer Handbewegung fordert der Dorfvorsteher ihn auf mitzukommen. An der Toronto Beach Bar vorbei, hinter den kaputten alten Fischerbooten türmt sich am Strand ein Berg voller Unrat auf: Plastik- und Bierflaschen, Mülltüten, Essensabfälle – alles liegt kunterbunt auf einem Haufen, nur wenige Meter vom Ufer entfernt. Drei Ziegen laben sich an Bananenschalen. „Dieser ganze Müll kann in den See hineingespült werden, wenn die Wellen kommen oder das Wasser wieder steigt“, erklärt Dravule dem Dorfvorsteher. Dieser nickt zustimmend. „Als Fischer verdienen die Leute hier doch ihren Lebensunterhalt mit dem See, nicht wahr?“, fragt Dravule. Kyamba nickt erneut. „Wenn die Menschen weiter von diesem See leben wollen, lassen Sie den Abfall entsorgen“, rät Dravule ihm und drückt dem älteren Mann die Telefonnummer von der örtlichen Müll-Entsorgungsfirma in die Hand.
Die Wasserwerke haben Mühe, Trinkwasser zu produzieren
Die Verseuchung des Victoriasees ist aber nicht nur für die Anwohner ein Problem, sondern auch für die Wasserversorgung der ugandischen Bevölkerung. „Die enorme Verschmutzung des Sees macht es immer schwieriger, das Wasser aufzubereiten“, seufzt Samuel Apedel, Sprecher der ugandischen Wasserwerke (NWSC). Weil nur die wenigsten Dörfer und Kleinstädte Ugandas an Wasserleitungen angeschlossen sind, konzentriert sich das Kerngeschäft der staatlichen NWSC auf Kampala. Allerdings spülen nur gerade einmal 13 Prozent der Haushalte in der Hauptstadt ihr Schmutzwasser in die Kanalisation, die zu Kolonialzeiten gebaut wurde und mittlerweile an die Klärwerke angeschlossen ist. Die übrigen Häuser verfügen zumindest über Sickergruben im Garten, deren Inhalt von Lastwagen abgepumpt und zu den Klärwerken gebracht wird. Ein nicht unwesentlicher Teil des in Kampala konsumierten Wassers fließt jedoch ungeklärt in den See – und muss dann wieder aufbereitet werden.
Bis zu 240 Millionen Liter Wasser pumpen die Wasserwerke täglich aus der verschmutzten Murchinson-Bucht, um es für die Bewohner von Kampala wieder aufzubereiten. Um nicht nur dreckige Brühe zu pumpen, mussten 2019 die Rohre 240 Meter weit in den See hinein verlängert werden. Gefiltert und gesäubert wird die Brühe in einer jüngst modernisierten Aufbereitungsanlage in Ggabba, einem Vorort von Kampala direkt am Ufer. Derzeit gelinge es noch, das Wasser auf Trinkwasserstandard aufzubereiten, sagt Apedel: „Doch dazu müssen wir immer mehr Chemikalien einsetzen, und das ist teuer.“ Die Ausgaben für Chlor und andere Mittel hätten sich in den vergangenen Jahren verdoppelt, erklärt er.
Als Folge bleibe weniger Geld, um mehr Haushalte an das Abwassersystem anzuschließen und Kläranlagen zu bauen. Denn ein Großteil der Abwässer der Metropole fließt bislang ungeklärt in den See zurück. Das soll sich ändern. Deutschland unterstützt über die KfW Entwicklungsbank Ugandas Wasserwerke mit 40 Millionen Euro. Damit wurden die Aufbereitungsanlage in Ggabba mit modernster Filtertechnologie ausgestattet sowie Klärwerke errichtet und modernisiert. Auch der dreckige Nakivubo-Kanal wurde an ein Klärwerk angeschlossen, immerhin. Doch Samuel Apedel von den Wasserwerken warnt: „Wenn wir den See nicht schützen, haben wir bald keine sauberen Wasserreserven mehr.“
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