Trotz steigender Lebenshaltungskosten zeigen die Deutschen eine „atemberaubende Solidarität“, stellte der Deutsche Spendenrat Anfang Mai fest. Das Spendenvolumen ist demnach im März – nach der russischen Invasion in der Ukraine – im Vergleich zum Vorjahresmonat um 163 Prozent auf insgesamt 912 Millionen Euro gestiegen. Der Zuwachs sei dabei nahezu komplett auf die Not- und Katastrophenhilfe entfallen.
Neuere Zahlen sind nicht bekannt, aber nach Angaben der Caritas, des Deutschen Roten Kreuzes und des Hilfswerks Brot für die Welt gehen die Spenden für die Ukraine derzeit wieder zurück. Auf die Frage, ob andere akut bedürftige Regionen wie das Horn von Afrika oder der Sahel nun ins Hintertreffen geraten, berichtet Julia Biermann, die Abteilungsleiterin Partnerschaften und Spenderkontakte beim Bischöflichen Hilfswerk Misereor, dass es dieses Jahr verständlicherweise schwer gewesen sei, die Aufmerksamkeit auf die Themen der Fastenaktion zu lenken. Ohne wirklich Gewissheit zu haben, nehme man den Krieg und die hohe Spendenbereitschaft für die Ukraine doch „als einen Einflussfaktor dafür wahr, dass das Spendenergebnis vergleichsweise etwas geringer ausgefallen ist“ (Stand Ende Mai). Zugleich sei man für die weiterhin großzügige Unterstützung dankbar, um die wichtige Projektarbeit in Afrika, Asien und Lateinamerika fortführen zu können.
Spendenbereitschaft bei Oxfam und Brot für die Welt
Auch bei Oxfam Deutschland hat ein Spendenzweck „Ukraine und andere Fluchtkrisen“ vorübergehend mehr Geld eingespielt als andere Zwecke. Inzwischen aber habe ein Aufruf zur Hungerskrise in den dürregeplagten Gebieten Ostafrikas den Ukraine-Aufruf an Spenden übertroffen. Das Hilfswerk Brot für die Welt/Diakonie Katastrophenhilfe hat ebenso wie die Welthungerhilfe frühzeitig davor gewarnt, dass als Kriegsfolge wegen der hohen Nahrungsmittelpreise die Zahl der Unterernährten drastisch steigen werde. „Unsere Erfahrung ist, dass die Spenderinnen und Spender die anderen Krisen nicht aus dem Blick verlieren und auf Mailings und Aufrufe reagieren“, sagt eine Sprecherin des evangelischen Hilfswerks. Die Spendenbereitschaft für die Betroffenen des Ukraine-Krieges sei weiterhin überwältigend, aber nicht mehr so hoch wie in den ersten Wochen des Krieges. Auch bei der Welthungerhilfe, einer der größten privaten Hilfsorganisationen in Deutschland, sind keine großen Verschiebungen durch den Ukraine-Krieg zu bemerken. Spendenaufrufe für die Ukraine oder deren Nachbarländer seien allerdings ohnehin vor allem über das Bündnis Entwicklung Hilft (BEH) getätigt worden.
In der Schweiz bekundet Dieter Wüthrich vom Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (HEKS) „gewisse Schwierigkeiten, Spendengelder für Projekte der Entwicklungszusammenarbeit, der kirchlichen Zusammenarbeit und für die Projektarbeit im Inland zu generieren und damit die Finanzierung dieser ebenfalls sehr notwendigen Projekte im Jahr 2022 sicherzustellen“. Auch die Schweizer Entwicklungsorganisation Helvetas stellt fest, dass im April 2022 für Regionen und Vorhaben außerhalb des Ukraine-Kontextes etwas weniger gespendet wurde, sagt Sprecherin Katrin Hafner. „Konkret müssen wir bei privaten Spenderinnen und Spendern mit etwas geringeren Spenden für Wasser- und Bildungsprojekte in Afrika, Asien oder Lateinamerika rechnen.“
Helvetas will nicht kürzen und verstärkt Spendenaufrufe
Helvetas will alles daransetzen, die Projekte in anderen Ländern nicht kürzen zu müssen, und verstärkt deshalb entsprechend die Spendenaufrufe. Auch Kristina Lanz vom NGO-Netzwerk Alliance Sud sieht ein allgemeines Risiko, dass im Lichte des Ukrainekrieges andere Krisen vergessen werden. „Als Gastgeberland der geplanten Ukraine Recovery Conference in Lugano ist es naheliegend, dass die Schweiz einen beträchtlichen Beitrag für den Wiederaufbau der Ukraine leisten wird. Das ist gut so, es darf aber als Folge keinesfalls bei der staatlichen internationalen Zusammenarbeit gespart werden.“ Das Schweizerische Rote Kreuz und die Caritas erkennen bislang keinen beträchtlichen Spendeneinbruch.
Auch in Österreich ist die Spendenbereitschaft für die Ukraine und für Projekte für Flüchtlinge aus der Ukraine hoch, erklärt Günther Lutschinger, Geschäftsführer des Fundraising-Verbands Austria. Rund 850 Millionen Euro sind im vergangenen Jahr von Privatpersonen und Firmen für wohltätige Zwecke gespendet worden. Lutschinger erwartet dieses Jahr insgesamt einen neuen Spendenrekord, aber weniger Geld für Entwicklungszusammenarbeit. Christian Herret von der Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar (DKA) sieht seine Organisation dagegen kaum betroffen, denn das meiste Geld werde zwischen Weihnachten und Dreikönig von den Sternsingern gesammelt.
Jugendeinewelt (J1W), die Kinderhilfsorganisation der Salesianer Don Bosco, konzentriert sich dagegen derzeit stark auf die Ukraine. Vor allem über Don-Bosco-Häuser in Lemberg und Odessa würden Gelder, Nahrung und andere Hilfsmittel kanalisiert, sagt Geschäftsführer Reinhard Heiserer: „Katastrophen, über die viel im Fernsehen berichtet wird, erzeugen immer höheres Spendenaufkommen.“ Damit andere Projekte nicht darunter leiden, setze man auf einen „Finanzierungsmix aus Kleinspenden, Stiftungen und öffentlichen Mitteln“.
Kriegsgetriebene Teuerung
Schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine habe die entwicklungsbezogene Hilfe keinen leichten Stand gehabt, nicht zuletzt wegen der Corona-Krise. Jetzt komme die kriegsgetriebene Teuerung dazu. „Ein Teil der Bevölkerung hält sich deshalb jetzt mit Spenden erst mal zurück“, berichtet Günther Lutschinger. „Ich warte mal ab, wie der Herbst wird.“ Wie sehr das Schicksal der ukrainischen Bevölkerung Menschen weltweit berührt, hat Reinhard Heiserer von J1W kürzlich in Uganda erlebt: „Wir haben dort ein Landwirtschaftsprojekt und da hat die Gemeinschaft der Bauern entschieden, dass sie eine Kuh verkaufen. Das Geld spenden sie unserem Don-Bosco-Netzwerk für die Flüchtlingshilfe für die Ukraine.“
Katrin Hafner vom Hilfswerk Helvetas in der Schweiz resümiert: „Wir müssen uns bewusst sein, dass es mittelfristig viel mehr Mittel braucht, um die globalen Folgen dieses Krieges zu bewältigen. Darüber hinaus bleibt die Anpassung an den Klimawandel eine riesige Herausforderung für die Bevölkerung in den stark betroffenen Regionen.“
(maz/ss/rld/erb)
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