Myanmars Übergang von der Militärherrschaft zu einer eingeschränkten Form der Demokratie begann 2010. Das Militär selbst hat ihn gesteuert und die wichtigste demokratische Partei des Landes, die Nationale Liga für Demokratie (NLD) unter Führung von Aung San Suu Kyi, hat ihn unterstützt. Der Übergang vollzog sich ohne nationale Maßnahmen zur Aufarbeitung der schweren Menschenrechtsverletzungen in der Geschichte des Landes: Die Täter wurden nicht strafrechtlich verfolgt, die Wahrheit wurde nicht offengelegt, Opfer wurden nicht entschädigt.
Dafür gab es gute Gründe. Erstens waren Befürchtungen nicht von der Hand zu weisen, dass eine Aufarbeitung der von Gewalt geprägten Vergangenheit die politische Lage destabilisieren und einen Staatsstreich auslösen könnte. Zweitens dauerte der Bürgerkrieg in vielen Landesteilen an; das machte es unmöglich, dort zu ermitteln und Beweise zu sichern. Drittens waren die Justiz Myanmars überlastet und die Richter zu schlecht ausgestattet, um schon die reguläre Rechtsprechung zu bewältigen. Und schließlich waren Schlüsselfiguren der Transformation, darunter Aung San Suu Kyi, nicht überzeugt, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit wirklich eine Läuterung oder Frieden bringen würde.
Als Aung San Suu Kyi 2012 ins Parlament gewählt wurde, bat sie westliche Staaten darum, Sanktionen gegen Myanmar aufzuheben und die Reformen nach den Bedingungen des Militärs zu unterstützen. Dessen entscheidende Forderung, die auch in der Verfassung verankert wurde, war Straffreiheit für alle Taten während der Jahre der Militärherrschaft. Die Verbrechen der Militärs in dieser Zeit sind gravierend und gut dokumentiert; dazu gehört, dass Frauen aus ethnischen Minderheiten während des Bürgerkriegs systematisch vergewaltigt, dass politische Dissidenten getötet, inhaftiert und gefoltert und dass Zivilisten, auch Frauen und Kinder, ermordet wurden.
Die Mitglieder der Staatengemeinschaft sahen aber kaum Alternativen dazu, die Transformation ohne Rechenschaftspflicht zu unterstützen. Die Sanktionen des Westens hatten während der jahrzehntelangen Militärherrschaft wenig dazu beigetragen, dem Verhalten des Militärs Schranken zu setzen oder eine politische Öffnung zu begünstigen. Die Öffnung im Jahr 2010 schien Myanmars beste Chance zu sein, die Militärherrschaft zu beenden. Indonesien, wie Myanmar ein Mitglied im Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN), gab das Beispiel ab für eine erfolgreiche, vom Militär kontrollierte Transformation hin zu einer echten Demokratie.
Frieden und politische Stabilität – um jeden Preis
Dass die Rechenschaft für die Vergangenheit aufgeschoben wurde, hing mit dem Glauben zusammen, die Demokratie zu erhalten und zu festigen erfordere Frieden und Stabilität. Auch Entwicklung – also Gesundheit und Bildung sowie den Lebensstandard der Bevölkerung zu verbessern – setzte Frieden voraus. Suu Kyi und andere argumentierten, wer ernsthaft am Schutz der Menschenrechte interessiert sei, müsse um jeden Preis Frieden und politische Stabilität unterstützen. Wenn Rechenschaft für frühere Taten des Militärs dem Frieden im Weg stand, sollte die Gerechtigkeit vertagt oder geopfert werden. Im Fokus der Transformation stand, demokratische Institutionen zu stärken, nicht Individuen zu bestrafen.
Dass Suu Kyi Vergeltung vermeiden wollte, stand zudem im Einklang mit einem tief verwurzelten und weit verbreiteten buddhistischen Verständnis des Wesens von Leid, Zeit und Strafe. Wie viele andere in Myanmar hatte Suu Kyi von der Hand des Militärs große Ungerechtigkeit erfahren. Sie stand 18 Jahre unter Hausarrest; sie wurde von ihren Kindern getrennt; sie ertrug Verleumdung und Demütigung. Doch für Suu Kyi war das buddhistische Gesetz des Karmas eine angemessenere Antwort auf das Leid als Vergeltung, die der Buddhismus nicht gutheißt.
Obwohl der Buddhismus die Wahrheit wertschätzt, glaubte Suu Kyi auch, dass die Übergangsperiode nicht der geeignete Zeitpunkt sei für Verfahren, die Wahrheit offen zu legen (truth telling). Auch das prekäre politische Machtgleichgewicht stand dem entgegen. Schließlich machte Suu Kyi es auch nicht zu einer Bedingung ihrer Zusammenarbeit mit den Militärs, dass diese den Terror, dem die Bevölkerung jahrzehntelang ausgesetzt war, anerkennen oder dafür um Entschuldigung bitten würden. Und viele im Land dachten, wenn sich Aung San Suu Kyi mit der Aufarbeitung der Vergangenheit gedulden könne, könnten sie es auch.
Autorin
Catherine Renshaw
ist Professorin für Jura und Direktorin des Netzwerks für Recht und Menschenrechte an der juristischen Fakultät der Universität Western Sydney (Australien).Zum anderen wurden die Versuche des Militärs immer brutaler, die Konflikte in Siedlungsgebieten der ethnischen Minderheiten zu beenden wie in den Staaten Rakhine, Kachin und Shan. 2016 und 2017 führte es nach bewaffneten Angriffen von Aufständischen auf Grenzposten „Säuberungen“ in Rakhine durch. Laut einer Untersuchungsmission, die der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen deshalb einsetzte, hatten Regierungskräfte Gräueltaten an der muslimischen Bevölkerung begangen. So wurden Rohingya-Dörfer niedergebrannt und geplündert; Männer, Frauen und Kinder der Rohingya getötet; Imame, Religionsgelehrte und Gemeindevorsteher im Schnellverfahren hingerichtet; Morde und Vergewaltigungen verübt. Hunderttausende Dorfbewohner flohen über die Grenze nach Bangladesch. Die UN-Untersuchungsmission forderte Ermittlungen und ein Strafverfahren gegen den Oberbefehlshaber der Armee, General Min Aung Hlaing, und weitere der höchsten Militärs wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
Die Vorfälle in Rakhine zeigten, dass das Militär nicht die Absicht hatte, sich einer zivilen Herrschaft unterzuordnen, und weiter mit brutaler Gewalt vorgehen würde. Sie zeigten zugleich, wie unerfreulich und letztlich unhaltbar Suu Kyis Position als Partnerin des Militärs war. Auf die Empörung in der Staatengemeinschaft angesichts der Vorfälle in Rakhine reagierte Suu Kyi zunächst damit, dass sie die Glaubwürdigkeit der Berichte über das Vorgehen des Militärs infrage stellte. Später behauptete sie, das Militär handele in Übereinstimmung mit dem Gesetz. 2019 verteidigte sie persönlich Myanmar vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen die Vorwürfe, es habe die Konvention gegen Völkermord gebrochen.
Kriegsrecht in mehreren Landesteilen
Am 1. Februar 2021 rief das Militär den Notstand aus mit der Begründung, die Wahlen im November seien 2020 von Wahlbetrug geprägt gewesen. Es nahm den Präsidenten Win Myint, Aung San Suu Kyi und andere Mitglieder der NLD fest. Die Junta rief in mehreren Landesteilen das Kriegsrecht aus und schlug die weit verbreiteten öffentlichen Streiks und die Proteste der Bevölkerung gegen den Staatsstreich mit extremer Gewalt nieder. Bis Juli 2021 sind mindestens 800 Zivilisten getötet worden, darunter auch Kinder; Tausende wurden festgenommen.
Das Militär setzt nun im Kernland – dem Gebiet der größten ethnischen Gruppe der Birmanen – dieselben Strategien gegen Proteste ein wie in den Staaten der ethnischen Minderheiten während der Militärherrschaft. Dörfer sind in Schutt und Asche gelegt, einige Bewohner in ihren Häusern verbrannt worden. Das Militär hat mit willkürlicher und unterschiedsloser Gewalt gegen Zivilisten Angst und Schrecken verbreitet. Als eine Welle von Covid 19-Infektionen über Myanmar rollte, waren Ärzte gezwungen, im Untergrund als Teil der Bewegung des zivilen Ungehorsams zu arbeiten und sich so der Gefahr von Festnahme und Folter auszusetzen. Das Militär wird auch beschuldigt, lebenswichtige Sauerstoffvorräte zu horten und auf Menschenmengen zu schießen, die für medizinische Behandlungen Schlange stehen.
Wäre etwas davon vermeidbar gewesen, wenn eine Aufarbeitung der Vergangenheit Bestandteil von Myanmars Demokratisierungsprozess gewesen wäre? Die erste Antwort lautet: Wenn Gerechtigkeit für das Vergangene wesentlicher Teil der politischen Transformation gewesen wäre, hätte diese schlichtweg nicht stattgefunden. Jahrzehntelang hatten Aung San Suu Kyi und die internationale Gemeinschaft Druck für die Demokratisierung Myanmars ausgeübt – ohne Erfolg. Das Militär hielt an seiner Macht fest. Das hätte es weiter getan, wenn die NLD eine Art Rechenschaft zur Bedingung für die Zusammenarbeit mit den Offizieren gemacht hätte.
Eine zweite Antwort ist: Es gibt keine überzeugenden Belege dafür, dass Wahrheitskommissionen und Gerichtsprozesse unweigerlich die politische Kultur von Gesellschaften verändern, und auch nicht dafür, dass sie politische Führer abhalten, Gewaltverbrechen zu verüben oder die Macht gewaltsam an sich zu reißen. Es gibt aber Belege dafür, dass mehr als Gerichtsprozesse und Wahrheitskommissionen nötig sind, um Straffreiheit und Willkürherrschaft zu beenden. Man braucht starke demokratische Institutionen, Rechtsstaatlichkeit und Vertrauen in der Gesellschaft. Aung San Suu Kyi hat zu wenig getan, um diese Voraussetzungen zu schaffen, solange sie an der Macht war. 2017 zum Beispiel wurde ihr langjähriger Freund und Rechtsberater, der muslimische Verfassungsrechtler U Ko Ni, ermordet. Suu Kyi blieb seiner Bestattung fern und hat seine Ermordung nach der Tat nicht öffentlich kommentiert. Und zwischen 2015 und 2020 hat die NLD ebenso wenig gezögert wie das Militär, mit Hilfe des Gesetzes Kritiker zu zensieren und Widerspruch zu unterdrücken.
Man kann zudem die Frage auch anders stellen: Haben Versuche aus dem Ausland, Täter in Myanmar zur Verantwortung zu ziehen, zum jüngsten Staatsstreich und den folgenden Gräueltaten beigetragen? Abschließend beantworten lässt sich das nicht. Aber die Geschichte Myanmars legt den Schluss nahe, dass das Militär auch zu extremen Mitteln greift, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Wahrscheinlich haben internationale Rufe, die Verbrechen in den Jahren 2016 und 2017 in Rakhine an der Gruppe der Rohingya juristisch aufzuarbeiten, im Militär die Überzeugung bestärkt, dass ihm die Kontrolle über die Transformation entglitt und es die Macht wieder übernehmen müsste. Genau deshalb ist Aung San Suu Kyi derart weit gegangen, um vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag ihre Unterstützung für das Militär zu zeigen. Sie wusste: Lässt man zu, dass das Militär sich bedroht fühlt, dann riskiert man eine Rückkehr zur Militärherrschaft.
Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob die Weigerung der myanmarischen Führer, historische Vergehen auch nur ansatzweise anzuerkennen, zu den massenhaften Gräueltaten gegen die Rohingya und zu dem jüngsten Militärputsch beigetragen hat. Wir wissen jedoch: Die Generäle des Landes waren überzeugt, dass es ihnen freistand, sich des „Rohingya-Problems“ so zügellos zu entledigen, dass dies Gräueltaten einschloss. Und sie gingen davon aus, dass sie im Falle einer ernsten Bedrohung die Macht wieder mit einem Staatsstreich an sich reißen könnten.
Und wir wissen auch: Die Mehrheit in Myanmar wollte vor dem Staatsstreich nicht wahrhaben, dass das Militär Männer, Frauen und Kinder der Rohingya schlachtete. Dies heißt, dass radikale Änderungen des politischen Bewusstseins nötig sind und ebenso des Blicks auf die eigene Geschichte und der Vorstellungen über die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Staat. Die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit hätte das womöglich erreicht. Sie hätte die Grundlage einer breit angelegten Reflexion über die politische Kultur der Gesellschaft sein können; sie hätte eine tiefgreifende nationale Auseinandersetzung über die Folgen langfristiger Unterdrückung einleiten können. In ihrem Essay „Freedom from Fear“ (deutsch etwa: „Befreiung von der Angst“) aus dem Jahr 1991 erkennt Aung San Suu Kyi an, dass die birmanische Gesellschaft tief von Misstrauen und Ungewissheit geprägt war und dass „saddha“, das Vertrauen auf moralische, spirituelle und intellektuelle Werte, neu geschaffen werden müsste. Vielleicht muss Myanmar mit der Vergangenheit abrechnen, bevor es den Neuaufbau in Angriff nehmen kann.
Aus dem Englischen von Christine Lauer.
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