An der Seite der Armen und Verfolgten

Zum Thema
Engagement für Menschenrechte
Wer sich für Menschenrechte einsetzt, braucht in vielen Ländern großen Mut. Vier Frauen und Männer aus Kolumbien, Myanmar, Nigeria und Brasilien berichten, was sie antreibt, gegen Gewalt, Unrecht und Elend zu kämpfen.

„Wir stehen an der Front zwischen Guerilla und Regierung“

Anyi Yuliana Zapata ist 29 Jahre alt und arbeitet bei der Vereinigung Indigener Räte im Norden der Provinz Cauca in Kolumbien

Ich gehöre dem indigenen Nasa-Volk in Kolumbien an. Seit einigen Jahren arbeite ich bei der Vereinigung Indigener Räte im Norden der Provinz Cauca (ACIN), die 22 indigene Territorien repräsentiert. Mein vierköpfiges Team dokumentiert Menschenrechtsverletzungen in der Region und erstellt öffentliche Berichte, die auch an die Regierung gehen. Außerdem berichten wir darüber in dem kleinen Radiosender von ACIN. 

Wir vom Volk der Nasa standen in dem bewaffneten Konflikt zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung immer zwischen den Fronten. Nach dem Friedensabkommen von 2016 ist die FARC aus dem nördlichen Cauca abgezogen. Doch die Gewalt ist nicht weg, sie hat nur ein neues Gesicht. Allein in unserer Region gibt es ein Dutzend bewaffnete Gruppen, die sich untereinander die Routen für den Drogentransport streitig machen. Der Drogenanbau hat zugenommen. Weil wir gegen diese Gruppen vorgehen, werden wir bedroht. In den vergangenen Jahren wurden mehrere Amtsträger von Gemeinden und Mitglieder unserer unbewaffneten Wachtruppe, der Guardia Indígena, ermordet. Die kolumbianische Regierung tut nichts dagegen.

Die bewaffneten Gruppen zwingen unsere Jugendlichen zum Kampf. Wir haben schon fast 300 solcher Fälle dokumentiert. Wir gehen in den Gemeinden zu den Familien und suchen nach Strategien zum Schutz der Jugendlichen. In mehreren Fällen konnten wir sie durch Verhandlungen wieder frei bekommen. Die Gewalt gegen die Nasa-Gemeinden richtet sich zunehmend gegen aktive und potenzielle Führungspersonen sowie gegen junge engagierte Frauen wie mich. Trotzdem lassen wir uns nicht einschüchtern, wir wollen die Zustände im nördlichen Cauca im ganzen Land und international sichtbar machen.

Aufgezeichnet von Gerold Schmidt.

 

„Ich versuche Soldaten zum Desertieren zu bringen“ 

Thinzar Shunlei Yi ist 30 Jahre alt und engagiert sich im Aktions-Komitee für Demokratie-Entwicklung (ACDD) in Myanmar.

Ich komme aus einer Militärfamilie. Die Generäle bläuten uns ein, dass Minderheiten wie die Rohingya Terroristen seien und die regierende Nationale Liga für Demokratie (NLD) von Aung San Suu Kyi unser Land ins Unglück stürze. Doch vor einem Jahr hat uns das Militär selbst ins Unglück gestürzt, als es der Demokratisierung unseres Landes ein Ende gesetzt hat. Das Gefühl der Schuld, das ich auch wegen meines Familienhintergrunds empfinde, treibt mich jeden Tag an, für ein besseres Myanmar zu kämpfen.

Als 2017 Soldaten die Minderheit der Rohingya brutal angegriffen und aus Myanmar vertrieben haben, konnte man nicht einmal ihren Namen laut sagen, so viel Angst herrschte vor dem Militär. Ich habe damals eine TV-Talkshow ins Leben gerufen, in der vor allem junge Aktivisten zu Wort kommen sollten – und wir haben auch über das Leid der Rohingya gesprochen. Darauf bin ich stolz. Im Moment versuche ich vor allem mit anderen Aktivisten, Soldaten zum Desertieren zu bringen. Mehrere Tausend haben dem Militär bereits unter großer Gefahr für ihr Leben den Rücken gekehrt. 

Daneben engagiere ich mich auch in Myanmars Streikbewegung. Seit über einem Jahr verhindert unser Volk erfolgreich, dass die Junta das Land unter Kontrolle bekommt. Beamte und Ärzte verweigern ihren Dienst, die Menschen bezahlen ihre Stromrechnungen nicht, Lehrer erscheinen nicht in den Schulen. Nichts soll funktionieren. Es macht mich wütend, wenn Journalisten schreiben, Myanmar sei jetzt unter Kontrolle des Militärs. Es war lediglich ein Putschversuch – das Militär hat keine Macht über uns.

Aufgezeichnet von Verena Hölzl.

 

„Die meisten Anwälte im Norden Nigerias haben Angst“

Kola Alapinni leitet das Rechtsteam bei der Stiftung für Religionsfreiheit in Nigeria, die er gemeinsam mit vier anderen 2020 gegründet hat.

Seit zwei Jahren arbeite ich an der Berufung gegen das Urteil im Fall von Omar Farouq. Er wurde im Alter von 16 Jahren von einem Scharia-Gericht in Kano im Norden Nigerias wegen Blasphemie zu zehn Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt. Außerdem habe ich Berufung gegen das Urteil gegen den jungen Musiker Yahaya Sharif-Aminu eingelegt, der wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt worden war. Beide wurden im August 2020 am selben Tag ohne Rechtsbeistand von demselben Richter verurteilt. Ihre Urteile wurden auf meinen Einspruch hin aufgehoben, weil ihr Verfahren vor dem Scharia-Gericht nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden war.

Scharia-Urteile, die zum Beispiel das Abhacken von Gliedmaßen oder die Steinigung von Menschen vorschreiben, sind mit der Verfassung Nigerias als säkularem Staat unvereinbar. Das Scharia-Strafsystem wird aber im mehrheitlich muslimischen Norden Nigerias angewandt. Jetzt stellen wir seine Verfassungsmäßigkeit vor Gericht infrage. Dies ist ein wichtiger religiöser Fall, weil er das gesamte Scharia-System zu Fall bringen könnte. 

Die meisten Anwälte im Norden Nigerias haben Angst, Menschen zu verteidigen, die religiöser Verbrechen wie Blasphemie beschuldigt werden. Sie befürchten Angriffe. Aber ich versuche, die Religionsfreiheit in einer Region zu verteidigen, die für religiösen Extremismus berüchtigt ist. Wir haben subtile Drohungen mit Anschlägen erhalten, aber wir sehen sie als Teil der Gefahren an, die zu unserer Arbeit gehören. Wir versuchen, jeden Kontakt mit Fundamentalisten zu vermeiden. Man kann nicht vorsichtig genug sein.

Aufgezeichnet von Sam Olukoya.

 

„Die Lage der Obdachlosen gleicht einem Krieg gegen die Armen“

Pater Júlio Lancellotti ist 73 Jahre alt und koordiniert das Obdachlosenpastoral von São Paulo.

In einem Alter von 73 Jahren kann ich sagen, dass ich mein Leben in den letzten drei Jahrzehnten dem Zusammenleben mit den Bedürftigsten gewidmet habe, insbesondere den Obdachlosen in der Stadt São Paulo. Mit ihnen, den am meisten Ausgegrenzten und Marginalisierten, teile ich das Essen. Wir sprechen miteinander über unsere Erwartungen an das Leben, und ich versuche, ihnen bei der Suche nach Arbeit behilflich zu sein. 

Das Obdachlosenpastoral von São Paulo (Pastoral do Povo de Rua) basiert auf den Erfahrungen der ehemaligen Organisation der brüderlichen Hilfe der Gemeinschaft der Straßenopfer (Organização de Auxílio Fraterno da Comunidade dos Sofredores de Rua). Unsere große und wichtige Aufgabe als Obdachlosenpastoral von São Paulo ist es, mit der wohnsitzlosen Bevölkerung in Gemeinschaft zu leben und gleichzeitig mit der Regierung und der Gesellschaft im Dialog über die Lage der Obdachlosen in unserem Land zu sein. 

Viele halten mich deshalb für einen der wichtigsten Vertreter der Menschenrechte in Brasilien. Ich hatte mit mächtigen Leuten zu tun, wurde bedroht und musste mehrere Klagen einstecken, darunter sogar eine vom Präsidenten des Landes, Jair Bolsonaro. Zugleich habe ich mehrere Auszeichnungen für meine Arbeit erhalten. Vor allem kämpfe ich dafür, meinen Ideen bis zum Ende treu zu bleiben.

Die Situation der Straßenbevölkerung in São Paulo ist ein unerklärter Krieg an die Armen. Es ist ein Porträt der Ungleichheit, der Unterlassung, der Unzulänglichkeit der öffentlichen Macht. Der Staat gibt uns Antworten, sie sind aber weit entfernt von den wirklichen Bedürfnissen der Obdachlosen. Sie berücksichtigen nicht ihre Eigenschaften oder Forderungen.

Aufgezeichnet von Sarah Fernandes.
 

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erschienen in Ausgabe 4 / 2022: Streiten für die Menschenrechte
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