Jeden Tag den Tod vor Augen

Zum Thema
Privat
Oswaldo Guadrón ist 51 Jahre alt und hat als Totengräber in El Salvador gearbeitet.
Umgang mit dem Tod
Sterben gehört zum Leben – das wissen vor allem die Menschen, die beruflich oder ehrenamtlich damit zu tun haben. Vier Männer und Frauen aus Benin, Brasilien, El Salvador und dem Jemen erzählen, wie sie Verstorbenen zu einer würdigen Bestattung verhelfen und trauernde Angehörige unterstützen.

„Als der erste Covid-Tote kam, hat nichts geklappt“

Ich war Beauftragter für den Zivilschutz im Bürgermeisteramt von Colón, einer Kleinstadt im Westen von San Salvador. Ich habe an Notfallplänen für Erdbeben und Vulkanausbrüche gearbeitet. Dann kam im März 2020 Covid. Die Regierung sagte, wir müssten uns auf sehr viele Beerdigungen einstellen. Wir hielten das für übertrieben, aber wir brauchten jemanden, der zuständig ist. Alle hatten Angst, sich anzustecken, und auch meine Frau wollte nicht, dass ich das übernehme. Aber ich dachte, das sei ich der Gemeinschaft schuldig.

Ich hatte zehn Leute unter mir. Zunächst gab es die Anweisung, Gräber von fünf Metern Tiefe vorzubereiten, um Ansteckungen zu vermeiden. Wir sagten, das sei unmöglich: viel zu tief. Das Gesundheitsministerium gab sich schließlich mit zwei Metern zufrieden. Es gab Schutzanzüge und ein Protokoll, nach dem wir den Sarg unter die Erde zu bringen hatten. Wir haben das unzählige Male durchgespielt, aber als dann am 25. April der erste Covid-Tote kam, hat nichts geklappt. Der Sarg kam mit Polizeischutz und mehreren Autos des Gesundheitsministeriums. Es gab Fotografen und Kameraleute, sogar mit Drohnen, und so kam es zu einem großen Durcheinander. Am nächsten Morgen fühlten wir uns alle krank, mit Hals- und Gliederschmerzen. Wir glaubten, wir hätten uns angesteckt. Aber das stimmte nicht. Dieses Virus schlägt einem auch aufs Gemüt. In den schlimmsten Zeiten bekamen wir bis zu neun Tote am Tag. Es war eine traurige Arbeit. Nur zwei oder drei Familienangehörige durften aus der Ferne bei der Beerdigung zusehen. Einmal mussten wir ein zweijähriges Kind begraben. Einer hätte ausgereicht, um den Sarg zu tragen. Aber wir waren alle da, und wir haben alle geweint.

Bei der Bürgermeisterwahl im vergangenen Jahr gewann der Kandidat der Partei von Präsident Nayib Bukelé. Im September wurden dann alle Gemeindeangestellten entlassen und durch Parteimitglieder ersetzt. Nach den Listen, die ich geführt habe, haben wir von April 2020 und September 2021 in Colón 241 Menschen nach dem Covid-Protokoll begraben.

Aufgezeichnet von Cecibel Romero.

„Wir bleiben mit unseren Vorfahren in Kontakt“ 

Comla Innocent Djablou, genannt Sodegbé II, ist Voodoo-Priester und lebt in Segbohoué im Süden von Benin. Voodoo ist in dem westafrikanischen Land eine anerkannte Religion mit eigenem Feiertag am 10. Januar.

Der Tod ist unausweichlich. Sobald jemand auf die Welt kommt und ein Auge öffnet, ist klar: Dieser Mensch wird wieder sterben. Ist es so weit, werden sehr unterschiedliche Zeremonien veranstaltet. Bei Initiierten – das sind Menschen, die in die Geheimnisse des Voodoo eingeführt sind – muss beachtet werden, unter welcher Gottheit sie initiiert wurden. Jede hat eigene Traditionen und Rituale. Werden diese missachtet, kann das zu großen Problemen führen, etwa zu Streitigkeiten innerhalb der Familie. Trauerfeiern für Frauen dauern sieben Tage, für Männer neun Tage. 

Ein guter Abschied von den Toten ist uns sehr wichtig. Wir bleiben schließlich mit unseren Vorfahren in Kontakt und suchen das Gespräch, wenn wir beispielsweise einen Rat von ihnen brauchen. Noch wichtiger ist allerdings das Leben im Hier und Jetzt. Es geht darum, heute ein guter Mensch zu sein; ein Vorbild, das anderen hilft, freundlich zu jedem ist und keinen Streit anfängt. Das ist besser, als auf das Jenseits zu hoffen. Diese Einstellung zeichnet unsere Religion aus. An eine Gottheit werden ganz konkrete Wünsche gerichtet. Ich habe beispielsweise einen Fetisch, zu dem Frauen kommen, wenn ihre Männer sie betrügen. Sie bringen eine Opfergabe, und ihr Mann wird nicht mehr fremdgehen. Wenn eine Frau aber nicht schwanger wird, betet sie zur Gottheit Mami Wata. Sie lässt sich gern mit süßem Wein und Parfüm beschenken. All das zeigt: Voodoo ist ein ganz praktischer Teil des Lebens.

Aufgezeichnet von Katrin Gänsler.

„Manchmal trage ich die Leichen auf meinem Rücken“

Hadi Juma‘an lebt in Al-Hazm im Nordwesten des Jemen.

Ich war früher Pfadfinder und hätte nie gedacht, ich müsste mal mit dem Tod umgehen oder an gefährliche Orte gehen, um die Leichen von Kämpfern von der Front zurückzubringen. Aber der Krieg hat mich dazu gezwungen: Im September 2015 bat mich ein Freund, ihm zu helfen, die Leiche seines Bruders von der Front im Gouvernement Al-Jawf zurückzubringen. Mir blieb nichts anderes übrig, da ich ein gutes Verhältnis zu den Kriegsparteien habe – sowohl zu Ansar Allah, den Houthis, als auch zu den regierungsfreundlichen Kräften in Al-Jawf, wo ich lebe. Außerdem kann ich schnell Beziehungen zu Menschen aufbauen.

Tatsächlich gelang es mir, den Leichnam zurückzubringen. Dann meldeten sich Angehörige anderer Toter bei mir und baten mich, die Leichen ihrer Verwandten von der Front zurückzubringen. So beschloss ich, diese freiwillige Aufgabe zu übernehmen, um die Herzen der Familien zu erfreuen, wenn sie sehen, dass die Leichname ihrer Verwandten zurück sind. Ich freue mich über Unterstützung von großzügigen Menschen, und vor kurzem habe ich eine Organisation namens Mediators (Vermittler) gegründet, damit sie spenden können.

Fünfzehn von mir ausgebildete Freiwillige helfen mir derzeit bei der Rückführung der Leichen. Ich treffe mich mit den Konfliktparteien und vereinbare die Übergabe mit ihnen. Dann ziehe ich weiße Kleidung an und bringe die Leichen in Laken zurück. Ich benutze mein eigenes Auto, bis jetzt habe ich mehr als 1700 Leichen in verschiedenen Gouvernements geborgen. Manchmal dauert es Monate, bis ich mich mit den Konfliktparteien einige, da ich tote Kämpfer beider Seiten evakuiere. Das hat zur Folge, dass wir Leichname in schlechtem Zustand vorfinden, aber es ist unsere Pflicht, sie zurückzubringen. Es ist eine schwierige Arbeit: In Gebieten, die mit dem Auto nicht erreichbar sind, trage ich Leichen manchmal auf meinem Rücken. Aber das Glück in den Herzen der Familien und ihre Gebete für mich und das Team ermutigen mich, weiterzumachen.

Aufgezeichnet von Nasser al-Sakkaf.

„Trauernde Menschen müssen willkommen sein“

Jéssica Moreira ist 30 Jahre alt, Journalistin und lebt am Stadtrand von São Paulo in Brasilien.

Seit 2020 schreibe ich für den Online-Blog „Morte Sem Tabu“ (Tod ohne Tabu) der Tageszeitung „Folha de S. Paulo“. Ich möchte Menschen ermutigen, über die Todesfälle nachzudenken, die sie erlebt haben, etwa von ihnen nahe stehenden Personen. 

Ich weiß nicht, ob ich dieses Thema gewählt habe oder das Thema mich gewählt hat. Ich wurde am Todestag meiner Großmutter geboren und wohne in der Nähe eines Friedhofs, auf dem einst ein Massengrab ausgehoben wurde, in dem von der Militärdiktatur verfolgte Politiker bestattet waren. Als Kind habe ich oft Friedhöfe besucht, weil mein Onkel Totengräber war. Als ich 23 war, starb mein Vater – ein Jahr lang schrieb ich jeden Monat einen Text zu seinem Gedenken. Das Wort war sehr wichtig, um meinem Schmerz gerecht zu werden.

In meinem Blog versuche ich zu erörtern, wie Tod und Trauer mit sozialen Themen zusammenhängen. Wenn ich Todesfälle in der Pandemie oder als Folge von Hunger anspreche – der in Brasilien wieder zugenommen hat –, dann spreche ich diejenigen an, die am meisten darunter leiden: die Armen und die Schwarzen. Besondere Aufmerksamkeit schenke ich den Morden an jungen schwarzen Männern durch die Polizei und der Trauer ihrer Mütter. In der Öffentlichkeit über die Ermordung von Familienmitgliedern zu sprechen, ist aus Angst vor Repressalien ein Tabu. Meine Arbeit ist also auch politisch: Wer stirbt wann und warum in Brasilien? Diese Themen haben unmittelbar mit meiner persönlichen Geschichte zu tun, denn ich bin eine schwarze Frau, die aus der Peripherie kommt und viel Leid erfahren hat. Das ist nicht einfach, denn ich bin ein sensibler Mensch und versuche, die Situation aus der Sicht der Personen zu sehen, die ich befrage: Ich weine, ich bin traurig, und nach den Gesprächen nehme ich mir Zeit, bevor ich schreibe. Und ich spreche in meinen Psychotherapiesitzungen darüber, um professionelle Unterstützung zu haben.

Wir brauchen eine Erinnerungs- und Fürsorgepolitik, die Trauer als Beitrag zur gesellschaftlichen Gesundheit behandelt. Es gibt immer noch viele Tabus, aber der Tod ist ein Teil des Lebens. Wir müssen uns damit auseinandersetzen und sicherstellen, dass trauernde Menschen willkommen sind.

Aufgezeichnet von Sarah Fernandes.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2022: Tod und Trauer
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