Schmerz lindern, Familien unterstützen

Reinders/The New York Times/Redux/Laif
Kurzes Gebet am Bett eines ­Verstorbenen im Krankenhaus bei Port Elizabeth in Südafrika.
Gemeindenahe Gesundheitsversorgung
Unheilbar Kranke zu betreuen, ist im globalen Süden besonders schwer, unter anderem, weil es an Medikamenten fehlt. ­Gemeindenahe Unterstützung könnte  helfen – auch im Norden.

Als Carina Dinkel von 2009 bis 2012 im Krankenhaus von Itete im Süden Tansanias arbeitete, waren die stärksten Schmerzmittel, die ihrem Team zur Verfügung standen, die Arzneistoffe Paracetamol und Ibuprofen. „Dieselben Wirkstoffe, die Apotheken im globalen Norden massenweise zur Behandlung leichter und mittlerer Schmerzen verkaufen, mussten bei uns reichen, um die Schmerzen von Krebspatienten im letzten Stadium zu lindern“, erinnert sich die Ärztin und Referentin Gesundheitsdienste beim Deutschen Institut für Ärztliche Mission (Difäm).

Das Gesundheitswesen vieler Länder ist schlecht darauf eingestellt, unheilbar Kranken das Sterben zu erleichtern, doch in Entwicklungsländern sind die Mängel bei dieser sogenannten Palliativmedizin besonders groß. In Itete und vielen anderen Regionen hat sich die Versorgung in den vergangenen zehn Jahren allerdings um einiges verbessert, sagt Dinkel. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Weltgesundheitsversammlung, das höchste Entscheidungsgremium der Weltgesundheitsorganisation (WHO), im Jahr 2014 erstmals in einer Resolution zur Palliativversorgung das Thema auf die internationale Tagesordnung gesetzt und klare Anforderungen an die WHO-Mitgliedsstaaten gestellt hat: Sie sollen nationale Strategien zur Versorgung todkranker Menschen entwickeln und dafür auch finanzielle und personelle Mittel einplanen, Ehrenamtliche und pflegende Angehörige bei der häuslichen Versorgung unterstützen, wichtige Medikamente zur Verfügung stellen sowie die Palliativversorgung zu einem Grundbestandteil der medizinischen Ausbildung machen. 

Acht Jahre nach dieser Resolution, die von Fachleuten als bahnbrechend bezeichnet wird, werden nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation weltweit nur 14 Prozent der unheilbar Erkrankten angemessen versorgt. Drei Viertel derjenigen, denen es an angemessener Pflege und Medikamenten mangelt, leben in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen. 
Auch der Atlas der Weltweiten Allianz für Hospiz- und Palliativpflege (WHPCA), einer weltweit tätigen nichtstaatlichen Organisation mit Sitz in London, dokumentiert die riesige Versorgungslücke: Während in Ländern mit hohem Einkommen 86 Prozent aller todkranken Patienten die Möglichkeit haben, morphinhaltige Schmerzmittel einzunehmen, sind dies in Ländern mit geringem Einkommen nur 12 Prozent. Immerhin ist reines Morphin, anders als noch vor zehn Jahren, inzwischen in vielen Ländern verfügbar, berichtet Carina Dinkel. „Allerdings sind stark dosierte Präparate oder auch Darreichungsformen wie Injektionen oder Pflaster nach wie vor Mangelware.“

Ärztliche Behandlung oft erst in einer sehr späten Krankheitsphase

Dasselbe gilt für Mittel, die das Atmen erleichtern sollen – oft ziehen sich schwer Erkrankte zusätzlich eine Tuberkulose zu – oder die Psyche beruhigen. Gerade in Ländern mit geringem Einkommen werden viele schwer kranke Menschen erst in einer sehr späten, schmerz­intensiven Phase ihrer Krankheit ärztlich behandelt – aus Unwissen, Kostengründen und weil der Weg zum nächsten Gesundheitszentrum meist weit ist. 

Auf die Familie  angewiesen: Alter Mann mit seinem Enkel in einem Dorf im Nordwesten Ugandas.

Genauso wichtig wie der Zugang zu Medikamenten ist deshalb eine Gesundheitsgrundversorgung am Ort sowie Unterstützung für die Familien der Kranken. Denn selbst wenn Schwerkranke in einer Klinik liegen, werden sie im globalen Süden in der Regel von den Angehörigen gepflegt und mit Essen und Trinken versorgt.

Die Pflege todkranker Menschen

Carina Dinkel betreut heute unter anderem ein Difäm-Projekt in Tansania, das fünf Krankenhäuser dabei unterstützt, die Pflege todkranker Menschen zu einem Grundbestandteil der Gesundheitsversorgung zu machen. In jeder der Kliniken gibt es inzwischen eine ausgebildete Fachkraft für Palliativpflege. Die wiederum betreut eine wachsende Zahl ehrenamtlicher Hospizhelfer, die nach einer zweiwöchigen Fortbildung Medikamente verabreichen und Verbände wechseln, aber auch die soziale Situation der Familien ergründen und ihnen mit Gesprächen und auch mit gemeinsamem Beten beistehen können.  

Autorin

Barbara Erbe

ist Redakteurin bei welt-sichten.
Ähnlich funktioniert das Projekt der spendenfinanzierten Organisation Hospis Malaysia in Kuala Lumpur, das sich inzwischen zum größten Anbieter von Vor-Ort-Hilfen für schwer kranke Menschen und ihre Familien in Malaysia entwickelt hat. Laut dem Global Atlas of Palliative Care sorgen dort 36 hauptamtliche Fachkräfte dafür, dass Jahr für Jahr rund 2000 schwer kranke Patientinnen und Patienten bis zu ihrem Tod mit medizinisch notwendigen Dingen wie schmerzlindernden Medikamenten, aber auch Hilfsmitteln wie Toilettenstühlen, Dosierpumpen für Medikamente, geeigneten Matratzen oder Rollstühlen versorgt werden. Gleichzeitig bietet Hospis Malaysia in Zusammenarbeit mit verschiedenen Universitäten Aus- und Fortbildungen für Menschen in Gesundheitsberufen, aber auch Schulungen für ehrenamtliche Helfer an. 

Auch in Indien setzt man auf gemeinschaftsbasierte Modelle, berichtet Mathew Abraham von der Catholic Health Association of India (CHAI): „Die Menschen sterben zu Hause, bei ihren Familien, dort müssen wir sie unterstützen.“ 5,4 Millionen Menschen benötigten Schätzungen von CHAI zufolge in Indien Jahr für Jahr eine Palliativversorgung – längst nicht alle erhalten sie. Da die Themen Tod und Sterben in der indischen Gesellschaft stark tabuisiert und auch oft mit Aberglauben behaftet seien, spielten neben der medizinischen Versorgung psychologische und seelsorgerische Gespräche eine wichtige Rolle. Zum Beispiel gelte es, die weit verbreitete Annahme zu zerstreuen, dass Sterbende anderen Menschen Unglück brächten und besser gemieden werden sollten. 

Die Versorgung schwer Kranker gewährleisten

„Derlei umfassende und gemeindenahe Ansätze sind sehr praktikabel und kommen in vielen Regionen des globalen Südens zum Tragen“, sagt Carina Dinkel. Doch so erfreulich es sei, dass seit einiger Zeit an vielen Orten der Welt tatkräftige und wirksame Initiativen entstehen, die sich um die Versorgung todkranker Menschen kümmern: „Ziel muss sein, dass nicht der Zufall darüber bestimmt, ob schwer kranke Menschen angemessen versorgt werden oder nicht – sprich, ob es vor Ort einen Sponsor, also zum Beispiel eine humanitäre Organisation gibt, die sich darum kümmert.  Stattdessen muss das Gesundheitssystem eines jeden Landes dafür aufkommen.“ 

Das wäre nicht nur menschlicher, sondern auch wirtschaftlicher, betont auch die WHO in verschiedenen Berichten zum Thema. Denn wenn Schwerkranke angemessen versorgt werden, entlastet das auch ihre Familien in ihrem Arbeits- und Schulalltag. Wird die ambulante Versorgung kranker Menschen in ihrem Zuhause von Fachkräften unterstützt, ist das darüber hinaus meist deutlich kostengünstiger als die Versorgung in einer Einrichtung. Das betont auch Gabriel Kuach Kuol, der als Arzt am Rande der Stadt Bentiu im Südsudan für die nichtstaatliche Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen Vertriebene versorgt. „Eine gute Palliativversorgung würde nicht nur im Südsudan, sondern in ganz Afrika und auch weltweit Familien davor bewahren, ihr Geld für nutzlose Reisen zu teuren Kliniken auszugeben, die das Leben der Kranken letztlich nicht erleichtern können. Und sie würde den seelischen Schmerz der Familien mindern.“ 

Dennoch funktionieren die Gesundheitssysteme sowohl im Süden als auch im Norden meist so, dass die allgemeine Krankenversicherung, wenn es sie überhaupt gibt, nur für eine stationäre Behandlung aufkommt und nicht für eine ambulante. „Hier gilt es, gesetzliche Veränderungen zu erreichen durch Lobbyarbeit“, betont Carina Dinkel. 

Bei der Aids-Bekämpfung setzt man schon lange auf ortsnahe Gesundheitszentren

Ein gutes Vorbild für die dafür nötige Dezentralisierung der Gesundheitsversorgung sieht sie im Umgang staatlicher Gesundheitssysteme mit HIV. Bei der Aids-Bekämpfung setzt man schon lange auf ortsnahe Gesundheitszentren und angelernte haupt- und ehrenamtliche Betreuer, die Kranke dort aufsuchen, wo sie leben, um sie und ihre Familien zu stärken. Das ist nicht nur finanziell günstiger als eine Unterbringung in teuren Kliniken, es ist auch menschlicher – was man inzwischen auch im globalen Norden weiß. „Bei der Palliativversorgung ist es eindeutig der Norden, der von dem Ansatz der patientennahen primären Gesundheitsversorgung im Süden lernen kann und lernt“, betont Dinkel. Auch hier wachse die Tendenz, die Versorgung vor Ort zu stärken und nicht mehr alle Kranken in Einrichtungen zu verfrachten.  

Angesichts der fortschreitenden Überalterung der Gesellschaften und der Zunahme chronischer Krankheiten – nicht nur im Norden, sondern auch im Süden – wächst der Bedarf an Palliativversorgung weltweit. Die Regierungen dazu in die Pflicht zu nehmen und sich über erfolgreiche Modelle auszutauschen, ist ein wichtiger Schritt zur besseren Versorgung aller Menschen am Ende ihres Lebens.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2022: Tod und Trauer
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