Die Eheversprechen wandeln sich

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Einen Hochzeitskuss wie hier mit Judith Liesenfeld gibt es bei traditionellen indischen Hochzeiten eher nicht.
Indien und Deutschland
Hochzeitsrituale reproduzieren überall in der Welt Hierarchien und Geschlechterrollen, meist zulasten der Frauen. Doch die Zahl der Paare, die sich von derlei Bräuchen lösen, steigt. Eine indisch-deutsche Recherche.

Ein großes Fest der Liebe war Priya Tripathis Hochzeit nicht – obwohl es eigentlich der Höhepunkt ihrer sonst sehr guten Beziehung werden sollte. Sieben Jahre ist es her, dass sich Tripathi und ihr Mann das Jawort gegeben haben. Im Vorfeld, sagt sie, habe sie sich keine Gedanken darüber gemacht, ob eine Hochzeit ihre Beziehung verändern könnte. Sie selbst hatte mehrere Artikel zum Thema Geschlechterrollen und Ungleichheiten in der Ehe und bei Hochzeiten geschrieben. Und doch war sie davon ausgegangen, dass traditionelle Hochzeitsrituale ihrer eigenen gleichberechtigten Partnerschaft nichts anhaben könnten. 

In Tripathis Heimat Indien sind Hochzeiten ein kompliziertes Thema. Noch immer gibt es viele arrangierte Ehen, die auch von vielen befürwortet werden. Dazu kommt, dass die indische Gesellschaft von einer besonderen Diversität an Religionen, Staaten, Traditionen und auch Kasten geprägt ist, so dass es unmöglich ist, von der indischen Hochzeit zu sprechen oder Rituale zu definieren, die typisch indisch sind.

Priya Tripathis Hochzeit war nicht arrangiert, sagt sie. Und beschreibt mehrere indische Hochzeitsrituale, die ihrer Meinung nach die Geschlechtergleichheit zwischen Mann und Frau infrage stellen. Das erste Ritual heißt Kanyadaan, was auf Hindi „Geschenk eines Mädchens“ bedeutet. Dabei wird die Tochter von ihrem Vater an den zukünftigen Ehemann übergeben. „Das hat viel mit dem Stolz des Vaters zu tun. Und die Väter sind so fixiert auf diese Geste der Übergabe, dass sie die Ungleichheit, die dahintersteckt, gar nicht wahrnehmen.“ Auf Tripathis Hochzeit gab es noch weitere Rituale, die sie von ihrem Ehemann unterschieden haben. Eines davon heißt Panigrahana. Dabei hält der Bräutigam die Hand der Braut und verspricht, sie zu beschützen. Bei einem anderen namens Shilarohan hilft die Mutter der Braut dieser auf einen Stein, um sie symbolisch auf die Hochs und Tiefs ihrer zukünftigen Verpflichtungen vorzubereiten. Sindoor bezeichnet das zinnrote Kosmetikpulver, das verheiratete Frauen verwenden, um ihren Status zu kennzeichnen – es handelt sich hierbei um den roten Punkt, den viele indische Frauen zwischen den Augenbrauen tragen. Für die Männer gibt es keine sichtbaren Marker, die zeigen, dass sie verheiratet sind.

Der US-amerikanische Einfluss auf Hochzeitsrituale

Autoren

Ankita Anand

ist freie Journalistin und arbeitet als Redakteurin für „Unbias the News“. Sie wohnt in Neu-Delhi und schreibt vor allem über soziale Gerechtigkeit, Klimawandel und Genderthemen.

Mira Brünner

studiert nach einem Bachelor in Interkultureller Kommunikation Journalismus in Mainz. Sie schreibt unter anderem über Migration und Diversität.
Auch deutsche Hochzeitsrituale sind von überholten Rollenbildern geprägt. So etwa die Tradition, dass der Vater der Braut diese zum Altar führt und an den dort wartenden Bräutigam übergibt. Eine Geste, die stark an Kanyadaan, das Geschenk eines Mädchens, erinnert, von dem Priya Tripathi berichtete. In Deutschland ist der sogenannte „walk down the aisle“ vor allem bei traditionell geprägten kirchlichen Hochzeiten zu finden. Das festliche Einlaufen der Braut an der Seite ihres Vaters ist allerdings kein deutsches Ritual, es wurde hierzulande erst durch den US-amerikanischen Einfluss populär.

Nicht alle finden diesen Einfluss gut. In Brelingen, einem Dorf in der Nähe von Hannover, arbeitet Debora Becker als Pastorin. Vor einigen Jahren hat sie beschlossen, das Einlaufen der Braut und die Übergabe vom Vater an den Bräutigam nicht länger in ihre Hochzeitsgottesdienste zu integrieren. Traditionell beginnt sie ihre Zeremonie damit, dass sie das emanzipierte Ehepaar fragt, ob dieses um Gottes Segen für die standesamtliche Hochzeit bitten wolle. Becker glaubt nicht, dass die jungen Paare patriarchale Strukturen reproduzieren wollen. Oftmals seien sie sich der Bedeutung gar nicht bewusst. Stattdessen käme immer mal das Argument, dass das Ritual den Übergang vom Leben mit den Eltern zum Leben mit dem Partner symbolisieren solle. 

Allerdings sind Paare, die heiraten, in Deutschland meist schon lange zusammen und leben schon eine Weile nicht mehr bei ihren Eltern. „Letztendlich ist die Entscheidung, Gottes Segen für eine Ehe zu erhalten, eine emanzipierte Entscheidung. Zu heiraten an sich ist eine emanzipierte Entscheidung.“ Mit den Eltern habe das im Grunde nichts zu tun. Damit, dass Becker in ihren Hochzeitsgottesdiensten auf das separate Einlaufen der Braut verzichtet, möchte sie aber auch die anwesenden Männer schützen. Keiner wisse, was er dabei sagen solle: „Also, der Vater bringt die Braut an den Altar und sagt dann was? Hier, bitte schön? Sei gut zu ihr, sonst mach ich dich fertig? Es ist einfach seltsam und das war es jedes Mal.“ 

Ehemann Karan musste kulturell übersetzen

Judith Liesenfelds größte Sorge im Hinblick auf ihre indische Hochzeit war die Vorstellung, im Rahmen eines Rituals die Füße ihres Mannes anfassen zu müssen. Ihren Mann, Karan, hat sie in Indien kennengelernt, heute lebt das Paar zusammen in Berlin. Um sich das Jawort zu geben, heirateten die beiden zwei Mal: standesamtlich in Dänemark und traditionell in Indien. Für sie selbst, sagt sie, sei es schwer gewesen, die Kontrolle abzugeben und der Familie ihres zukünftigen Mannes zu vertrauen, dass die Hochzeit für ihren Geschmack nicht zu groß oder zu kitschig werden würde. Ihr Ehemann Karan hatte aber, wie sie glaubt, den schwierigeren Part, weil er alles übersetzen musste – nicht sprachlich, sondern kulturell. „Er musste meine Wünsche, Bedürfnisse und Pläne an seine Familie übermitteln. Gleichzeitig musste er sichergehen, dass auch indische Anteile präsent waren und dass alle zufrieden waren.“

Liesenfeld erzählt, dass sie sich vor der Hochzeit mit ihrem Mann zusammensetzte und jedes Ritual durchging, um sicherzugehen, dass sich beide damit wohlfühlten. Es sei das erste Mal gewesen, dass sie sich mit dem religiösen Hintergrund ihres Mannes auseinandersetzte. Ihr Ehemann ist Mitglied der sogenannten Arya Samaj, einer Gruppe von Hinduisten, die recht progressive Hochzeitsrituale haben, so Liesenfeld. Am Ende fand sie nicht viel, was sie verändern wollte, und ein Ritual, bei dem sie Füße hätte anfassen müssen, gab es ohnehin nicht.

Was Liesenfeld änderte, war die sogenannte Ankunft der Braut: „Das war so ehrfürchtig, und die Musik für diesen Moment so dramatisch, und die Braut verzieht irgendwie keine Miene, während sie ihrem Mann entgegenläuft. Das hat mich überhaupt nicht angesprochen.“ Stattdessen ließ sie den DJ Partymusik spielen und tanzte mit ihrer Familie auf die Familie ihres Mannes zu. „Für mich war die Hochzeit kein Abschied von meiner Familie, sondern ein freudiges Zusammenkommen beider Kulturen und Familien, und eine Vereinigung von Karan und mir als Eheleute.“

Paare, die eher unkonventionell heiraten, werden in Indien zwar immer mehr, sind aber noch immer nicht die Norm. Wenn traditionelle Rituale aufgebrochen werden, liegt das meist daran, dass das Paar aus unterschiedlichen Regionen oder Communitys kommt.

Die Hochzeitsbräuche ändern sich

Rituale wie der weinende Abschied der Braut von ihrer Familie, das Anmalen mit Sindoor oder dass die Braut die Kleidung der Familie des Bräutigams anzieht, sind noch immer ein Teil vieler indischer Hochzeiten. Aber es sind durchaus Veränderungen zu beobachten. So ist es heutzutage normal, die lächelnden Gesichter der Bräute zu sehen, schließlich suchen sich viele Frauen ihre Partner selbst aus. Auch wenn es noch nicht die Norm ist, vor einem Bräutigam, den man schon kennt, nicht schüchtern und zurückhaltend aufzutreten, empfinden das viele Frauen als albern.

Es gab noch eine andere Sache, die Liesenfeld an ihrer indischen Hochzeit ändern wollte: Sie wollte der Hochzeit einen persönlichen Akzent geben. Deshalb ermutigte sie Familie und Freunde, Reden zu halten, was für traditionell hinduistische Hochzeiten eher untypisch ist. „Für mich war das der schönste Teil unserer Hochzeit, weil wir da als Karan und Judith angesprochen wurden, als Individuen“, sagt Liesenfeld. Das war ihr sehr wichtig: „Wir hatten beide ein Leben, bevor wir uns kennengelernt haben, und wir haben beide schon so viel erlebt. Es war wichtig, dass wir immer noch als diese Menschen gesehen wurden und werden und dass unsere Geschichte Teil von unserer Hochzeit ist.“

Die größte Veränderung für ihren Mann sei der Hochzeitskuss gewesen. „Das gibt es auf indischen Hochzeiten nicht; da gibt es keine Berührungen. Klar sitzt das Paar nebeneinander und die Hände berühren sich, aber da wird sich bestimmt nicht geküsst.“ 

Abgesehen von Geschlechterrollen bestimmt in der indischen Gesellschaft auch das Kastensystem noch immer die sozialen Hierarchien. Laut einer Studie des indischen Nationalen Rats für angewandte Wirtschaftsforschung (NCAER) kamen bis 2014 nur fünf Prozent der Ehepaare aus unterschiedlichen Kasten – ein weiterer Grund, warum sich einige junge Menschen bewusst von traditionellen brahmanischen Ritualen abwenden, um gegen diese Hierarchien zu protestieren. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Satyashodhak-Hochzeiten, bei denen Braut und Bräutigam ihre eigenen Eheversprechen schreiben dürfen.

Heirat nach Gandhis Art

Pyoli Satija, eine Juristin aus Delhi, war sich immer sicher, dass sie niemals einen Priester bei ihrer Hochzeit haben wollte. Für sie waren Priester „das ultimative Symbol des Brahmanentums“ – die schlimmste Krankheit in ihrem Land, so sagt sie. Und dann verliebte sie sich in einen Brahmanen, also einen Mann, der zur Brahmanenkaste und somit zur höchsten Kaste im indischen Kastensystem gehörte. „Meine Schwiegereltern waren anfangs gegen diese Ehe. Wenn sie mit dabei gewesen wären, wäre es vielleicht nicht so leicht gewesen, sie davon zu überzeugen, auf gewisse Rituale zu verzichten.“

Satija und ihr Mann beschlossen, nach Gandhis Art zu heiraten. Genannt Ashram Paddhati, soll eine solche Hochzeitszeremonie weder pompös sein noch irgendwen erniedrigen. Außerdem soll sie irgendeine Form von körperlicher Arbeit enthalten. „Wir haben die meisten Dinge aus Ashram Paddhati übernommen. Nur einige wenige Dinge, lange Lobgesänge an Gott zum Beispiel, haben wir weggelassen.“

Traditionell fassen sich Braut und Bräutigam bei einer hinduistischen Hochzeit an den Händen, ihre Kleidung wird verknotet und dann geht das Brautpaar gemeinsam sieben Schritte um ein brennendes Feuer, während die Eheversprechen gesprochen werden. Dieses verbindliche Ritual nennt sich Saptapadi. Um sich von den traditionellen Eheversprechen, die die Braut oftmals in starre Rollenbilder zwingen, zu distanzieren, bat Satija ihren Großvater um Unterstützung. „Er hat sieben Versprechen formuliert, nach denen wir uns nicht nur um uns selbst kümmern sollen, sondern auch um unsere Gesellschaft und die Welt.“ Die sieben Versprechen ließ Satija dann in geschlechtsneutraler Form von ihrer Tante verlesen. Es war ihr wichtig, dass es untypischerweise eine Frau war, die die Versprechen las. Am Tag der Hochzeit pflanzten sie und ihr Mann außerdem einen Baum, um den Aufbruch in die Zukunft zu symbolisieren, sie ließen sich von ihren Ältesten segnen und es gab viel gutes Essen, erinnert sich Satija. 

Nicht gegen Tradition, sondern für Sensibilität

Nicht nur in Indien und Deutschland, auch in vielen anderen Ländern der Welt reproduzieren genderspezifische Hochzeitsrituale eine Hierarchie, in der die Frau die schwächere, unterlegene und unschuldige Rolle verkörpert. Eine Rolle, in der sie beschützt und versorgt werden muss und in der sie von einem Mann an den anderen übergeben werden kann. Nicht überall haben Paare die Möglichkeit, den Traditionen zu entgehen und säkular zu heiraten oder gar ihre eigenen Eheversprechen zu schreiben und individuelle Rituale zu gestalten.

In westlich geprägten Ländern wie Deutschland ist Frauen zudem oft nicht klar, wofür traditionelle Bräuche stehen und welches Frauenbild sie verkörpern. Dabei geht es letztendlich nicht darum, jede Tradition schlechtzureden oder zu verbieten, sondern darum, Sensibilität zu schaffen. Für Frauenbilder und Männerbilder, damit sich beide wohlfühlen und am Ende mit Freude an ihre Hochzeit zurückdenken können und sie als das große Fest ihrer Liebe sehen, das es eigentlich sein sollte. 

Ankita Anand und Mira Brünner haben im Rahmen des Seminars „Media in a european and global context“ der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ein Semester lang zusammen recherchiert und geschrieben. Das Ergebnis der internationalen Zusammenarbeit ist dieser Artikel.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2022: Tod und Trauer
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