Sie planen eine Exil-Universität für afghanische Männer und Frauen, die unter den Taliban nicht die Möglichkeit haben, zu studieren. Wie ist die Idee entstanden?
Im August vergangenen Jahres, nach der Machtübernahme der Taliban, haben wir zahlreiche Anfragen von afghanischen Akademikern erhalten. Wir vom World University Service waren rund um die Uhr damit beschäftigt, sie bei der Ausreise zu unterstützen. Die Idee einer Online-Uni entstand dann relativ schnell – auch aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit, denn zwischen 1997 und 2001 hatten die Taliban ja schon einmal Schulen und Unis geschlossen. Die wurden zwar zum Teil wieder geöffnet, aber an die Stelle akademischer Grundsätze war die Ideologie gerückt. Da haben wir uns gedacht: Diesmal müssen wir den Taliban Kontra bieten und dafür sorgen, dass es Hoffnung gibt für die jungen Menschen aus Afghanistan. Wenn sie Bildung erhalten, wird es ihnen eines Tages möglich sein, am Aufbau eines unabhängigen, freien und selbstbestimmten Afghanistan mitzuwirken.
Mitte Dezember haben Sie in Frankfurt eine Gründungskonferenz abgehalten…
… und nicht zufällig fand die Auftaktveranstaltung am 10. Dezember statt, dem internationalen Tag der Menschenrechte. Denn Bildung ist ein Menschenrecht! Viele Afghaninnen und Afghanen innerhalb und außerhalb des Landes sind extrem niedergeschlagen. Die afghanischen Akademiker, die im Exil leben, haben nun die Möglichkeit, sich an dem Projekt zu beteiligen und somit ihren Ohnmachtsgefühlen etwas entgegenzusetzen.
Welche Studiengänge sollen dort angeboten werden, und was ist die Unterrichtssprache?
Wir werden vor allem Studiengänge in den Geistes- und Sozialwissenschaften anbieten, die von den Taliban gestrichen wurden: Pädagogik ebenso wie Sozialarbeit, Psychologie und Politikwissenschaft, aber auch IT, Betriebswirtschaft und Nachhaltige Energiesysteme. Unterrichtet wird auf Englisch, denn es geht nicht zuletzt darum, dass die Absolventinnen und Absolventen im Anschluss gute Chancen auf dem internationalen Arbeitsmarkt haben sollen. Auch in den Nachbarländern Afghanistans herrscht in einigen Bereichen Fachkräftemangel. Die Lehrkräfte werden afghanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sein.
Die technische Voraussetzung ist schnelles Internet. Inwiefern ist das in Afghanistan verfügbar?
Tatsächlich ist das Internet in Afghanistan bis heute intakt – allerdings in erster Linie in großen und mittelgroßen Städten. Wir richten wir uns mit der Exil-Universität aber nicht nur an Männer und Frauen innerhalb Afghanistans, sondern explizit auch an jene in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer. Die Internetverbindungen dort sind recht stabil und wir haben auch bereits Anfragen von Interessierten aus den Flüchtlingslagern erhalten, die von dem Vorhaben der Online-Universität erfahren haben.
Existieren bereits ähnliche Programme, die als Vorbild dienen?
Nein. Es gibt zwar Erfahrungen mit Online-Weiterbildungen, aber in der Form, wie wir die Exil-Universität planen, ist das einzigartig.
Ihr Ziel ist es, dass gebildete Afghanen im Exil nicht gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt als Taxifahrer oder Pizzabäcker zu verdienen. Was stimmt Sie optimistisch, dass Unternehmen oder Behörden die Abschlüsse der Exil-Uni anerkennen?
Wir arbeiten mit Partneruniversitäten zusammen, sodass die Studierenden einen anerkannten Doppelabschluss erhalten. Zudem sollen Wissenschaftler mit der Exil-Universität die Möglichkeit erhalten, weiterhin im akademischen Bereich tätig zu sein. Ein gutes Beispiel hierfür ist der frühere Kommunikationsminister Afghanistans, ein Mann mit zwei Masterabschlüssen. Er hat in Leipzig drei Monate lang als Ausfahrer bei Lieferando gearbeitet. Die Online-Uni bietet auch Menschen wie ihm eine Chance, in Forschung und Lehre zu arbeiten.
Glauben Sie, die Taliban werden zulassen, dass ihre Landsleute westliche Bildung erhalten?
Wir fragen sie nicht um Erlaubnis! Solange sie das Internet nicht zensieren, klappt das. Aber selbst wenn sie das doch tun, gibt es ja Mittel und Wege, das zu umgehen. Wir arbeiten zum Beispiel mit Menschen aus der chinesischen Zivilgesellschaft zusammen, die wissen, wie Zensur kreativ umgangen werden kann.
Aber wenn die Taliban herausfinden, dass jemand sich nicht Scharia-konform weiterbildet, kann das ja durchaus gefährlich sein für die Studierenden.
Das stimmt, diese Gefahr besteht, das sehen wir auch und tauschen uns hierzu aus.
Das Konzept hat ein deutscher Professor entwickelt, Ulrich Teichler. Konzipieren hier mal wieder Europäer etwas für Afghanen?
Nein, ganz und gar nicht. Bei unserer Konferenz in Frankfurt waren neben Bildungsexperten aus Deutschland, Großbritannien, Österreich und Kanada auch afghanische Wissenschaftler dabei, etwa der Ex-Präsident der Universität in Kabul, Dr. Mohammed Osman Babury, der von den Taliban seines Amtes enthoben worden ist, und der frühere afghanische Außenminister Dr. Rangin Dadfar Spanta. Teilgenommen haben aber auch afghanische Studentinnen und Studenten aus Deutschland und Österreich, die das erste Konzept an vielen Stellen weiterentwickelt haben. Mittlerweile ist es ihr Projekt, das Konzept der Afghaninnen und Afghanen. Wir, der World University Service, spielen eine vorübergehende Rolle, wir haben den Anstoß gegeben und helfen bei der Koordinierung und den Formalia.
Welche Kosten haben Sie für die Online-Uni veranschlagt, und wer finanziert das?
Geplant sind rund 5000 Studienplätze, wir rechnen hierfür mit circa 30 Millionen Euro pro Jahr. Das hört sich nach einer Menge Geld an, aber wenn man es runterrechnet, sind es 600 Euro jährlich pro Studienplatz. Im Vergleich: In Deutschland kostet ein Studienplatz in den Geistes- oder Sozialwissenschaften zwischen 7000 und 9000 Euro pro Jahr. Die Finanzierung ist noch nicht geklärt, aber wir sprechen mit internationalen Stiftungen ebenso wie mit Regierungsstellen in Deutschland. Die internationale Gemeinschaft sucht ja derzeit nach Ansätzen, weiterhin langfristig am Aufbau der afghanischen Zivilgesellschaft mitzuwirken. Unser Hochschulprojekt ist eine gute Möglichkeit dafür. Wichtig ist, dass wir langfristige Zusagen erhalten, für mindestens fünf, besser für zehn Jahre. Wir möchten keine Studiengebühren erheben, weil wir dadurch von vornherein viele Menschen ausschließen würden. Also müssen die Kosten gedeckt sein. Wir sind auch in Kontakt mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Bisher haben wir sehr positive Rückmeldungen erhalten, etwa aus dem Europäischen Parlament. Die Europa-Abgeordneten werden sich im Februar mit der Situation afghanischer Mädchen und Frauen befassen und wir sind eingeladen, Anfang Februar in Brüssel unser Konzept vorzustellen.
Was sind nun die nächsten Schritte, und wann werden sich Menschen erstmals einschreiben können?
Wir hoffen, dass wir zum Wintersemester starten können. Zunächst gilt es jetzt, die Uni als Privatuni registrieren zu lassen sowie Partneruniversitäten für die Studiengänge zu gewinnen, die dann auch die Abschlüsse vergeben. Für viele geplante Studiengänge gibt es schon Zusagen. Für alle Teilnehmer der Gründungskonferenz und weitere im Exil befindliche afghanische Wissenschaftlerinnen wurde eine Plattform erstellt, damit alle gemeinsam an den weiteren Dokumenten bis zur Gründung der Universität arbeiten und sich austauschen können. In Vorbereitung ist auch eine Online-Bibliothek, um all die wissenschaftlichen Publikationen von afghanischen Wissenschaftlern einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Später könnte diese Online-Bibliothek von der Online-Universität übernommen und weiter geführt werden.
Was nützt einer jungen Afghanin ein Online-Studium, wenn sie danach in ihrer Heimat gar nicht arbeiten darf?
Es geht um das Grundrecht auf Bildung. Ein Studium ist ja nicht nur unter Verwertungsgesichtspunkten zu betrachten, sondern hat auch mit Selbstverwirklichung zu tun. Wenn eine Afghanin nach dem Studium nicht arbeiten darf, ist das natürlich bedauerlich, aber sie hat sich immerhin einen Traum erfüllt. Und das Taliban-Regime bleibt hoffentlich nicht ewig. Ein Studium ist eine Investition in eine andere Zukunft. Es geht darum, jungen Menschen Hoffnung und neuen Lebensmut zu geben.
Das Gespräch führte Elisa Rheinheimer.
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