Bücher gegen das Blutvergießen

Rahmat Gul/AP/picture alliance 
Zufluchtsort: Schüler und Studenten in der Rahila-Bibliothek in Kabul.
Afghanistan
Die 17-jährige, wissbegierige Rahila ist einem Anschlag des Islamischen Staates zum Opfer gefallen. Die trauernde Familie will den Kreislauf von Gewalt und Rache durchbrechen – mit einer Bibliothek. 

[Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde vor der Machtübernahme der Taliban geschrieben. Nach Angaben des Autors ist die Bibliothek wegen der momentanen Situation in Kabul geschlossen. Der Autor, der als Journalist in Afghanistan besonders gefährdet ist, hat es Ende August geschafft, nach Katar auszureisen.]

Rahila Munji Rafi saß im Sommer 2018 in einem Bildungszentrum im afghanischen Kabul; sie besuchte Vorbereitungskurse für die Hochschulaufnahmeprüfung. Am Nachmittag des 15. August nahm sie, im Gepäck ihre Bücher und Hefte, an einem Mathematikkurs teil. Dabei war auch ein Selbstmordattentäter des Islamischen Staates. Während der Pause zündete er mitten unter etwa hundert jugendlichen Schülern seinen Sprengsatz. Rahila wurde in Stücke gerissen, ihr Körper war kaum noch zu identifizieren. Sie war erst 17 Jahre alt. Über 50 Schülerinnen und Schüler wurden bei der Explosion getötet. 

Ihr Tagebuch hatte Rahila im Haus ihrer Familie zurückgelassen, es blieb unversehrt. Nachdem er seine Schwester verloren hatte, stieß Hamidullah Rafi, Rahilas Bruder, auf dieses Büchlein. „Die einzige Lösung für Afghanistans Krise ist Bildung“, zitiert Hamidullah daraus die Worte seiner Schwester. Diese Zeilen, ein Zeugnis ihrer Leidenschaft für Bildung, inspirierten ihn und seine Familie, eine Bib­liothek zu gründen – um Rahila zu ehren, aber auch um ihre Wunden zu heilen. 

"Es geht darum, anderen zu helfen" 

„Ich war schockiert, als ich von ihrem Tod erfuhr“, erzählt Hamidullah von den ersten Tagen nach dem Verlust seiner Schwester. Zwei Jahre lang fühlte er sich wie betäubt: „Im ersten Jahr konnte ich nicht weinen. Erst danach begann ich zu weinen“ – und zu begreifen, dass Rahila nicht wiederkommen würde. 

„Ich frage mich immer: Was wäre, wenn sie lebend zurückkäme und mich fragen würde, was ich für sie getan habe“, sagt Hamidullah.  „Ich möchte etwas haben, das ihr zeigt, dass ich sie in Ehren halte. Aber es geht um mehr, als Wunden zu heilen. Es geht auch darum, anderen zu helfen.“  Denn die Bibliothek schafft einen Ort der Hoffnung und der Bildungsmöglichkeiten für Rahilas überlebende Altersgenossen. Finanziert wird sie, jetzt als Rahila-Stiftung, größtenteils von der Familie und Freunden.

Studierende nutzen die Stiftung als Ort zum Lernen

An den Wochenenden bleibt Hamidullah oft bis tief in die Nacht in der Stiftung, die im sechsten Stock einer Moschee liegt. Er putzt und poliert lange Reihen englischsprachiger Bücher unterschiedlichen Inhalts: akademische Wälzer verschiedener Fächer, Romane, Enzyk­lopädien und vieles mehr. 

Wenn Mohammad Ali Farahmand, ein Absolvent der Universität von Kabul, aus anderen Provinzen in die Hauptstadt kommt, besucht er gerne die Bibliothek der Rahila-Stiftung. Er bereitet sich auf ein Auslandsstudium vor. „Es gibt keinen vergleichbaren Ort in der Gegend“, sagt er. „Die Initiative hat wirklich verstanden, wie wichtig Bildung für eine Gesellschaft ist.“ 

Autor

Ezzatullah Mehrdad

ist freier Journalist und lebt in Kabul, Afghanistan.
Die Rahila-Stiftung hat sich zu einem florierenden Zentrum für junge Leute in Dasht-e-Barchi entwickelt. Das Viertel ist eine von den Hazara dominierte Enklave in der afghanischen Hauptstadt. Die Haza­ra sind überwiegend Schiiten; der Islamische Staat betrachtet sie als Ketzer und verübt oft Selbstmordanschläge auf sie. Da es im Viertel keine öffentliche Bibliothek gibt, ist die Stiftung zur ersten Anlaufstelle für Studierende geworden, die etwas Privatsphäre und einen ruhigen Ort zum Lesen suchen. 

Doch die Stiftung hat mehr zu bieten als nur Bücher. Habiba Halimi, 20 Jahre alt, hat die Bibliothek oft als Schülerin besucht. Als die Stiftung 2018 gegründet wurde, besuchte sie die zehnte Klasse der Zainab-Kobra-Mädchenschule in Kabul. Inspiriert von der Arbeit der Stiftung, engagiert sie sich nun selbst für die Gemeinschaft und hat eine eigene Initiative gegründet: Gemeinsam mit ihrem Team gestaltete sie ein Camp für Waisenkinder. „Ich hatte noch nie eine Bibliothek besucht, bevor ich die Rahila-Stiftung gefunden habe“, erzählt Habiba, die im letzten Jahr ihr Abitur gemacht hat. „Hier habe ich Netzwerken, Führungsstärke und Teamwork gelernt.“ In der von Gewalt geplagten Hauptstadt Afghanistans hat sie hier einen Ort gefunden, neue Freunde kennenzulernen – sowohl männliche als auch weibliche. 

Raus aus dem Kreislauf der Rache

Die Rahila-Stiftung vergibt auch Stipendien, damit Schülerinnen und Schüler der höheren Schule Vorbereitungskurse für die Hochschulaufnahmeprüfungen besuchen und nach dem Schulabschluss an lokalen Universitäten studieren können. Darüber hinaus bietet die Stiftung zahlreiche Weiterbildungsmöglichkeiten an: Von Workshops für das Schreiben von Mails und Lebensläufen bis zum Ausfüllen von Bewerbungen für Auslandsstudienprogramme. Alle Kurse sind kostenfrei. 

Unzählige Menschen haben in Afghanistan in dem gut 40-jährigen Krieg Familienangehörige verloren. Viele sind in einen endlosen Kreislauf der Rache geraten. Der gewaltsame Verlust eines Familienmitglieds veranlasste die Überlebenden, sich zu rächen. Das kommunistische Regime tötete islamistische Afghanen, im Gegenzug töteten diese während der 1970er und 1980er Jahre die Kommunisten. In den 1990er Jahren wandten sich rivalisierende islamistische Gruppen gegeneinander und versuchten, sich gegenseitig auszulöschen. Nach der Machtübernahme der Taliban im Jahr 1996 schlossen sich deren Gegner zusammen, und die Taliban versuchten, allen Widerstand brutal auszulöschen. Als sie 2001 von den Vereinigten Staaten gestürzt wurden, nahmen die alten Gegner Rache und töteten viele gefangene Taliban. 

Gerechtigkeit für zivile Opfer ist ein entfernter Traum

Der nicht enden wollende Kreislauf setzte sich bis weit in die zwanzig Jahre der US-Präsenz in Afghanistan fort. Rache war für manche ein Grund, sich den Taliban anzuschließen. Wurde eine Familie von den USA bombardiert, kämpften die überlebenden Mitglieder von da an als Teil der Taliban gegen die USA und die von ihnen unterstützte afghanische Regierung. In diesem Krieg ist Gerechtigkeit für zivile Opfer bis heute ein entfernter Traum. Obwohl die USA Afghanistan nun verlassen, zieht sich das Blutvergießen weiter hin. 

Doch Hamidullah und seine Familie haben sich entschieden, den Kreislauf zu durchbrechen. Sie haben einen anderen Weg gewählt, mit der harschen Vergangenheit umzugehen: sich selbst heilen und anderen helfen. Und Hamidullah ist noch nicht am Ziel. Er möchte die Stiftung auf andere Teile des Landes ausweiten und hofft, Kinder getöteter Taliban-Kämpfer zu erreichen: „Ich möchte Familien besuchen, die ihre Angehörigen in den Reihen der Taliban verloren haben“, sagt Hamidullah und weint. „Ich kenne ihren Schmerz.“

Es gibt schon Nachahmer, auch in einer ­anderen Provinz

Für manche ist die Stiftung bereits ein Vorbild für den Umgang mit der Vergangenheit. Die Familie von Najiba Bahar, die im Juli 2017 bei einem von den Taliban begangenen Bombenanschlag ermordet wurde, hat im Juli 2019 eine ähnliche Initiative in Daikundi gegründet, einer abgelegenen und bergigen Provinz in Zentralafghanistan. Als im Jahr 2020 Fatima Natasha Khalil, eine 22-jährige Mitarbeiterin der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission, bei einer Explosion in Kabul getötet wurde, eröffnete ihre Familie eine Schule für Kinder mit Behinderungen. 

Die Rahila-Stiftung nimmt jetzt auch Bücher entgegen, die Gewalt­opfer in Kabul hinterlassen und ihre Angehörigen spenden. Einige Bücher stammen etwa aus dem Nachlass eines jungen Studenten, der auf den Straßen Kabuls bei einem Raubüberfall getötet wurde. Maisam Itag, der Präsident der Stiftung, war zunächst überrascht, als er die Bücher in Empfang nahm. Heute sagt er: „Die Stiftung ist zu einem Zentrum der Heilung geworden.“  

Aus dem Englischen von Lisa Katharina Schneider.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2021: Die langen Schatten der Gewalt
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