Demokratie vielfältig fördern

Wolfgang Ammer
Afghanistan
Hat sich das Engagement des Westens für Demokratie weltweit nach dem chaotischen Abzug vom Hindukusch ein für alle Mal erledigt? Wer so denkt, unterliegt weit verbreiteten Irrtümern zur Demokratieförderung, meint die Politikwissenschaftlerin Julia Leininger.

Die nächste Bundesregierung muss die richtigen außen- und entwicklungspolitischen Prioritäten setzen, wenn Deutschland globale Politik und die Umsetzung der Agenda 2030 mitgestalten will. Demokratie zu schützen und zu fördern, ist solch eine Priorität. Diese Aussage mag angesichts der Kritik am übereilten Truppenabzug aus Afghanistan verwundern. Auch wenn vieles an dieser Kritik richtig ist, zeigt sie, dass in der öffentlichen Debatte mindestens drei Irrtümer über Demokratieförderung vorherrschen.

Erster Irrtum: Demokratie mit militärischer Gewalt etablieren zu wollen, sei die Standardpolitik des Westens. Das ist falsch. Militärmissionen mit einem Demokratiemandat sind die Ausnahme in der Demokratieförderung, nicht die Regel. Doch die Aufmerksamkeit gilt in den Medien häufig gerade diesen Fällen, weil sie teuer und umstritten sind. Aber vom Einzelfall lässt sich nicht auf die Gesamtheit schließen. Demokratieförderung kommt oft leise daher, eingebettet in einen entwicklungs- und außenpolitischen Kontext. Dazu gehören etwa die Beratung bei Verfassungsgebungsprozessen, der Ausbildung von Richtern oder die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Gruppen. Auch setzen sich nicht nur Staaten für Demokratie ein. Transnationale Netzwerke ermöglichen es, dass soziale Bewegungen und nichtstaatliche Organisationen (NGOs) voneinander lernen und ihre Arbeit für Demokratie gegenseitig unterstützen.

Demokratieförderung erzielt Erfolge meist im Kleinen

Zweiter Irrtum: Demokratie könne nicht in nicht westliche Kulturen exportiert werden. Es ist richtig, dass Demokratie nicht einfach als Blaupause übertragen werden kann. Aber Staaten wie Deutschland können prodemokratische Kräfte in anderen Ländern dabei unterstützen, eigene Modelle für einen friedlichen und pluralistischen Interessenausgleich zu entwickeln. Oft sind das nicht die Regierenden, weil die fürchten, ihre Macht zu verlieren. Wo Eliten eher für Autokratisierung stehen, ist es schwierig, aber nicht unmöglich, demokratische Werte und Praktiken zu unterstützen. Eine schwedische Studie hat unlängst belegt, dass internationale Demokratieförderung in der Summe der Fälle wirksam ist. 

Oft jedoch täuscht das große Bild. Demokratieförderung erzielt ihre Erfolge meist im Kleinen; selten geht es um den Umbau des politischen Gesamtsystems eines Landes. Missionen zur Wahlbeobachtung etwa legitimieren häufig demokratische Urnengänge. Oder Bürgerinnen und Bürger erlernen demokratische Praktiken durch die aktive Beteiligung an kommunalpolitischen Entscheidungen.  Auch beim Schutz von demokratischen Errungenschaften sind Geberländer erfolgreich, etwa bei der längerfristigen Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich unter anderem in Malawi und Senegal erfolgreich gegen die Verlängerung der Amtszeiten von Präsidenten eingesetzt haben. 

Mehrheit der Afghanen lehnt Taliban ab

Autorin

Julia Leininger

Julia Leininger ist Politikwissenschaftlerin und leitet das Forschungsprogramm „Transformation politischer (Un-)Ordnung“ am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn.
Dritter Irrtum: Die liberale Demokratie habe in nicht westlichen Gesellschaften keine oder kaum Fürsprecher. Menschen gehen weltweit für Freiheit und gegen staatliche Unterdrückung auf die Straße. Wir müssen zwischen denen unterscheiden, die sich für eine pluralistische Gesellschaft einsetzen, und jenen, die demokratische Reformen verhindern, um ihre Macht zu bewahren. Soziale Bewegungen und NGOs im globalen Süden protestieren seit 2019 vermehrt und drücken ihre Unzufriedenheit mit Regierungen aus. Auch in Afghanistan fordern Menschen seit langem ein demokratisches Zusammenleben, auch jetzt nach der Machtübernahme der Taliban. Wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass eine Mehrheit der Afghaninnen und Afghanen die Taliban ablehnen. 

Die Debatte über internationale Demokratieförderung war überfällig. Demokratie bedeutet, Werte und Regeln, die eine Gesellschaft tragen, fortlaufend miteinander auszuhandeln. Das schafft Konflikte. Auch in gestandenen Demokratien wie Deutschland oder den USA bröckelt derzeit der gesellschaftliche Konsens über die Werte und die institutionelle Ordnung, die uns zusammenhalten. Zu dieser Diskussion gehört auch die Frage, für welche demokratischen Werte Deutschland und Europa in der Welt stehen und wie sie diese international fördern können. Die nächste Bundesregierung wird diese Auseinandersetzung konstruktiv führen müssen. So sollte etwa das geplante Demokratiefördergesetz dringend um eine internationale Perspektive ergänzt werden.

Nötig sind Geduld und Demut

Die entscheidende Frage ist nicht, ob, sondern wie Deutschland Demokratie fördert. Wichtig ist die grundsätzliche politische Haltung, die hinter einzelnen politischen Strategien stecken sollte: Geduld und Demut. Außenpolitisch bedeutet Geduld, mit langem Atem all jene zu unterstützen, die sich in der Vergangenheit für Demokratie eingesetzt haben, die sich heute dafür einsetzen und die es in Zukunft tun werden. 

Demut heißt, die Demokratieprobleme in Deutschland und Europa offen anzuerkennen und als Ausgangspunkt für einen konstruktiven Austausch zu nutzen, anstatt demokratische Blaupausen durchsetzen zu wollen. Innenpolitisch muss die deutsche Politik den Bürgerinnen und Bürgern mehr zumuten. Sie muss offen kommunizieren, dass Demokratieförderung eine Risikoinvestition ist. Demokratisierung ist immer ein ergebnisoffener Prozess. Deutschland kann einen Beitrag leisten, aber kein Ergebnis garantieren. Dasselbe gilt für Militäreinsätze.

Nächste Bundesregierung muss sich weltweit für Demokratie einsetzen

Auch die Politikberatung und die Evaluation spielen eine wichtige Rolle. Beratung sollte sich stärker als bisher für eine Lernkultur einsetzen. Die Politik braucht gute Vorschläge, wie Demokratieförderung und Auslandseinsätze besser werden können – aktuell etwa für die Militärmission in Mali, die angemessen mit Demokratieförderung flankiert sein muss. In Afghanistan war lange bekannt, dass die Förderung eines zentralistischen Staats angesichts starker lokaler Machtstrukturen auf Dauer nicht trägt. Die damit verbundenen Fehler wären vielleicht nicht passiert, wenn Gelder auch dann noch geflossen wären, wenn Fehler erkannt und benannt worden wären, anstatt vor allem Wirkungen demonstrieren zu müssen. Auch ganzheitliche Evaluierungen wären notwendig, um die verschiedenen Aspekte internationaler Politik – Stabilisierung, Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung – sinnvoll zu bewerten.

Die Machtübernahme der Taliban spielt vor allem den Verfechtern der Autokratie in die Hände. Staaten wie China oder Russland sehen ihr Argument bestätigt, dass Demokratisierung zu Instabilität führe, und verschweigen, dass nachhaltiger Frieden langfristig nur in einem politischen System möglich ist, das gewalt- und repressionsfreien Interessenausgleich schafft. Angesichts zunehmender Autokratisierungstrends wird der Einsatz der nächsten Bundesregierung für Demokratie weltweit auch die Zukunft der Demokratie in Deutschland und Europa selbst beeinflussen.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2021: Leben im Dorf
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